Hans Christian Andersen

Hans Christian Andersen

wurde am 2. April 1805 in Odense (Dänemark) geboren, als Sohn eines armen Schuhmachers. Er konnte kaum die Schule besuchen, bis ihm der Dänenkönig Friedrich VI, dem seine Begabung aufgefallen war, 1822 den Besuch der Lateinschule in Slagelsen ermöglichte. Bis 1828 wurde ihm auch das Universitätsstudium bezahlt. Andersen unternahm Reisen durch Deutschland, Frankreich und Italien, die ihn zu lebhaften impressionistischen Studien anregten. Der Weltruhm Andersens ist auf den insgesamt 168 von ihm geschriebenen Märchen begründet.
Andersen starb am 4.8.1875 in Kopenhagen.

Das hässliche junge Entlein

Die Prinzessin auf der Erbse

Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern

Zwölf mit der Post

Des Kaisers neue Kleider

Der Engel

Der standhafte Zinnsoldat

Der Buchweizen

Die Kröte

Das Feuerzeug

Der Tannenbaum

Die Stopfnadel

Das Gänseblümchen

Die kleine Seejungfrau

Der Schneemann

Fliedermütterchen

Der kleine Klaus und der große Klaus

Der Garten des Paradieses

Der fliegende Koffer

Die Blumen der kleinen Ida

Die glückliche Familie

Oie Luk-Oie

Däumelieschen

Der Schweinehirt

Das hässliche junge Entlein

Draußen auf dem Lande war es herrlich! Es war Sommer!
Das Korn stand gelb, der Hafer grün. Das Heu war unten auf den grünen Wiesen in Schobern aufgestellt, und da spazierte der Storch auf seinen langen roten Beinen und klapperte ägyptisch, denn diese Sprache hatte er von seiner Mutter gelernt. Um den Acker und die Wiesen zogen sich große Wälder, und mitten in denselben befanden sich tiefe Seen. Oh, es war herrlich da draußen auf dem Lande! Mitten im warmen Sonnenschein lag da ein altes Rittergut, von tiefen Kanälen umgeben, und von der Mauer an bis zum Wasser hinunter wuchsen dort große Klettenblätter, die so hoch waren, dass unter den größten kleine Kinder aufrecht stehen konnten. Darin war es gerade so wild wie im tiefsten Walde. Hier lag eine Ente auf ihrem Neste, um ihre Jungen auszubrüten, aber jetzt war sie dessen fast überdrüssig, weil es doch gar zu lange dauerte und sie dabei so selten Besuch bekam. Die anderen Enten zogen es vor, auf den Kanälen herumzuschwimmen, anstatt sie zu besuchen und unter einem Klettenblatte zu sitzen, um mit ihr zu plaudern.
Endlich platzte ein Ei nach dem andern. "Piep, piep!", sagte es, alle Eidotter waren lebendig geworden und streckten den Kopf heraus.
"Rap, rap! Eilt, eilt!", rief sie, und da rappelten und beeilten sie sich nach Kräften und guckten unter den grünen Blättern nach allen Seiten umher. Die Mutter ließ sie sich auch umschauen, soviel sie wollten, denn das Grüne ist gut für die Augen.
"Wie groß ist doch die Welt!", sagten alle Jungen; denn freilich hatten sie jetzt ganz anders Platz als zu der Zeit, da sie noch drinnen im Ei lagen.
"Haltet ihr das schon für die ganze Welt!", sagte die Mutter. "Die erstreckt sich noch weit über die andere Seite des Gartens hinaus bis in das Feld des Pfarrers; da bin ich indes noch nie gewesen! - - Ihr seid doch alle hübsch beisammen!", setzte sie hinzu und erhob sich. "Nein, ich habe noch nicht alle! Das größte Ei liegt immer noch da! Wie lange soll denn das noch dauern? Nun habe ich es wirklich bald satt!" Und dann legte sie sich wieder nieder.
„Nun, wie geht es?", fragte eine alte Ente, die auf Besuch gekommen war.
"Es dauert mit dem einen Ei so lange", sagte die Ente, welche brütete. "Es zeigt sich noch kein Loch in demselben. Aber nun solltest du die andern sehen. Es sind die hübschesten jungen Enten, die ich je gesehen habe. Sie sind sämtlich ihrem Vater wie aus den Augen geschnitten! Der Bösewicht, er besucht mich nicht einmal!"
"Lass mich doch das Ei sehen, welches nicht platzen will", erwiderte die Alte. "Verlass dich darauf, es ist ein Putenei! So bin ich auch einmal angeführt worden und ich hatte meine liebe Not mit den Jungen, denn sie fürchten sich vor dem Wasser, kann ich dir sagen. Erst konnte ich sie gar nicht ausbekommen, soviel ich auch rappte und schnappte, ermahnte und nachhalf! - Lass mich doch das Ei sehen! Ja, das ist ein Putenei! Lass es liegen und lehre lieber deine andern Kinder schwimmen!"
"Ich will doch noch ein wenig darauf liegen bleiben", entgegnete die Ente. "Hab ich nun so lange gelegen, kommt es auf etwas länger auch nicht an!"
"Jeder nach seinem Geschmack!“, sagte die alte Ente und nahm Abschied.
Endlich platzte das große Ei. "Piep, piep!", sagte das Junge und kroch heraus. "Das ist ja ein entsetzlich großes Entlein“, sagte sie. "Keines von den andern sieht so aus. Sollte es wirklich eine junge Pute sein? Nun, da wollen wir bald dahinterkommen ! In das Wasser muss es, und sollte ich es selbst hineinstoßen!"
Am nächsten Tage war prächtiges, herrliches Wetter. Die Sonne schien brennend heiß auf alle die grünen Kletten hernieder. Die Entleinmutter erschien mit ihrer ganzen Familie am Kanale. Platsch! sprang sie in das Wasser. "Rap, rap!", rief sie, und ein Entlein nach dem andern plumpste hinein. Das Wasser schlug ihnen über dem Kopf zusammen, aber sie tauchten gleich wieder empor und schwammen stolz dahin, die Beine bewegten sich von selbst und alle waren in dem nassen Element, selbst das hässliche graue Junge schwamm mit.
"Nein, das ist keine Pute!", sagte sie.
"Sieh nur einer, wie hübsch es die Beine gebraucht, wie gerade es sich hält! Es ist mein eigenes Kind. Im Grunde ist es ganz niedlich, wenn man es nur genauer betrachtet. Rap, rap! Kommt nun mit, jetzt sollt ihr die Welt kennen lernen. Ich werde euch im Entenhofe vorstellen, aber haltet euch immer in meiner Nähe, damit euch niemand trete, und nehmt euch vor der Katze in acht!"
Und so kamen sie in den Entenhof hinein. Ein erschrecklicher Lärm herrschte drinnen, denn zwei Familien bekämpften sich um einen Aalkopf, und trotzdem bekam ihn die Katze.
"Seht, so geht es in der Welt zu!", sagte die Entleinmutter und schnappte mit dem Schnabel, denn sie wollte auch den Aalkopf haben. "Gebraucht nun eure Beine", sagte sie, "seht zu, dass ihr euch etwas beeilt und neigt den Hals vor der alten Ente dort. Sie ist die vornehmste von allen hier. Spanisches Blut rollt in ihren Adern, deshalb ist sie so schwerfällig. Wie ihr seht, trägt sie einen roten Lappen um das Bein. Das ist etwas unvergleichlich Schönes und die höchste Auszeichnung, welche je eine Ente erhalten kann. Es soll andeuten, dass man sie nicht verlieren will und dass sie Tieren und Menschen kenntlich sein soll. Rappelt euch! Sputet euch! Nicht die Beine einwärts! Ein wohlgezogenes Entlein setzt die Beine weit auseinander, gerade wie Vater und Mutter! Seht so! Neigt nun euren Hals und sagt: ,Rap'."
Und das taten sie. Aber die andern Enten ringsumher betrachteten sie und sprachen: "Seht nun einmal! Nun sollen wir die Sippschaft auch noch bekommen, als ob wir nicht schon genug wären! Pfui, wie das eine Entlein aussieht! Das wollen wir nicht unter uns dulden!" Und sogleich flog eine Ente hin und biss es in den Nacken.
"Lass es zufrieden", sagte die Mutter, "es tut ja niemand etwas!"
"Ja, aber es ist so groß und sonderbar", sagte die Ente, welche es gebissen hatte, "und deshalb muss es weggejagt werden!"
"Das sind schöne Kinder, die Mütterchen hat", sagte herablassend die alte Ente mit dem Lappen um den Fuß. "Sämtlich schön, mit Ausnahme des einen, welches missglückt ist! Ich wünschte, sie könnte es umbrüten!"
"Das geht nicht, Ihre Gnaden!", sagte die Entleinmutter.
"Es ist nicht hübsch, aber es hat ein sehr gutes Gemüt und schwimmt ebenso vortrefflich wie eines der andern, ja, ich darf sagen, fast noch etwas besser. Ich denke, es wird sich auswachsen oder mit der Zeit kleiner werden. Es hat zu lange im Ei gelegen und deshalb nicht die rechte Gestalt bekommen." Darauf zupfte sie es im Nacken und fing an, es zu glätten. "Außerdem", fuhr sie fort, "ist es ein Enterich, und da schadet es nicht so viel. Ich bilde mir ein, er wird tüchtige Kräfte bekommen, da schlägt er sich schon durch!"
"Die andern Entlein sind ja ganz niedlich“, sagte die Alte.
"Tut nun, als ob ihr zu Hause wäret, und findet ihr einen Aalkopf, so könnt ihr ihn mir bringen."
Und so waren sie wie zu Hause.
Aber das arme Entlein, welches zuletzt aus dem Ei gekrochen und so hässlich war, wurde gebissen, gepufft und gehänselt von den Enten wie von den Hühnern. "Es ist zu groß", sagten sie allesamt, und der Truthahn, der mit Sporen geboren war und deshalb in dem Wahne stand, dass er Kaiser wäre, blies sich wie ein Schiff mit vollen Segeln auf, ging gerade auf dasselbe zu, kollerte und wurde ganz rot am Kopfe. Das arme Entlein wusste weder, wie es stehen noch wie es gehen sollte. Es war betrübt, dass es so hässlich aussah und dem ganzen Entenhofe zum Gespötte diente.
So ging es den ersten Tag, und später wurde es schlimmer und schlimmer. Das arme Entlein wurde von allen gejagt, selbst seine Geschwister waren recht unartig gegen dasselbe und sagten immer: "Wenn dich nur die Katze holen wollte, du garstiges Ding!", und die Mutter seufzte: "Wärest du nur weit fort!" Die Enten bissen es, die Hühner hackten auf dasselbe los und die Futtermagd stieß es mit dem Fuße.
Da lief und flog es über den Zaun; die Vöglein in den Büschen erhoben sich erschrocken in die Luft. "Daran ist meine Hässlichkeit schuld“, dachte das Entlein und schloss die Augen, lief aber trotzdem weiter. So gelangte es bis zu dem großen Moore, in dem die wilden Enten wohnten. Hier lag es die ganze Nacht, denn es war sehr müde und traurig.
Am Morgen flogen die wilden Enten auf und erblickten den neuen Kameraden. "Was bist du denn für ein Landsmann?", fragten sie, und das Entlein drehte sich nach allen Seiten um und grüßte, so gut es konnte.
"Du bist abschreckend hässlich", sagten die wilden Enten, "aber das kann uns einerlei sein, wenn du nur nicht in unsere Familie hineinheiratest!" Das arme Entlein, es dachte wahrlich nicht ans Heiraten. Ihm war nur daran gelegen, die Erlaubnis zu erholten, im Schilfe zu liegen und Moorwasser zu trinken.
Zwei ganze Tage lang hatte es da gelegen, als zwei wilde Gänse oder vielmehr Gänseriche dorthin kamen. Sie waren noch nicht gar lange aus dem Ei gekrochen und deshalb auch etwas vorschnell.
"Höre, Kamerad, du bist so hässlich, dass du förmlich hübsch bist und wir dich gut leiden können. Willst du zu uns halten und Zugvogel sein? Dicht nebenbei in einem andern Moore wohnen einige süße, liebliche wilde Gänschen, lauter Fräulein, die das ,Rap, Rap!' köstlich zu plaudern verstehen, du bist imstande dazu, dein Glück zu machen, so hässlich du auch bist!"
"Piffpaff!", knallte es da plötzlich, und beide wilde Gänseriche fielen tot in das Schilf hinab, und das Wasser wurde blutrot. "Piffpaff!", knallte es abermals, und ganze Scharen wilder Gänse flogen aus dem Schilfe auf, und dann knallte es wieder. Es war große Jagd; die Jäger lagen rings um das Moor herum, ja einige saßen oben in den Baumzweigen, welche sich weit über das Röhricht hinstreckten. Der blaue Pulverdampf zog wie Wolken durch die dunklen Bäume hindurch und ruhte weit über dem Wasser. In den Sumpf drangen die Jagdhunde ein. Platsch, platsch! Schilf und Rohr neigten sich nach allen Seiten. Was war das für ein Schreck für das arme Entlein! Es drehte den Kopf, um ihn unter die Flügel zu stecken, als in demselben Augenblicke ein fürchterlich großer Hund vor ihm stand; die Zunge hing dem Tiere ganz lang aus dem Halse, und die Augen funkelten grässlich. Er berührte dos Entlein fast mit der Schnauze, wies die scharfen Zähne und - platsch! zog er sich zurück, ohne es zu packen.
"Gott sei Dank!", seufzte das Entlein, "ich bin so hässlich, dass mich selbst der Hund nicht beißen mag!“
So lag es denn ganz still, während die Schrotkörner in das Schilf sausten und Schuss auf Schuss knallte.
Erst am späten Nachmittage wurde es still, aber das arme Junge wagte noch nicht, sich zu erheben. Es wartete noch mehrere Stunden, ehe es sich umschaute, und dann eilte es, so schnell es konnte, aus dem Moore weiter. Es lief über Feld und Wiesen, und dabei war ein Sturm, dass es nur mit Mühe vorwärts kommen konnte.
Gegen Abend erreichte es ein erbärmliches Bauernhäuschen, welches in so traurigem Zustande war, dass es selbst nicht wusste, nach welcher Seite es fallen sollte, und so blieb es stehen. Der Sturm brauste dermaßen um das wilde Entlein, dass es sich setzen musste, um Widerstand zu leisten. Und es wurde immer schlimmer und schlimmer. Da bemerkte es, dass sich die Türe aus der einen Angel gehoben hatte und so schief hing, dass es durch die Spalte in die Stube hineinschlüpfen konnte, und das tat es.
Hier wohnte eine alte Frau mit ihrer Katze und ihrem Huhn; die Katze, welche sie Söhnchen nannte, konnte einen Buckel machen und spinnen. Selbst Funken konnte man ihr entlocken, wenn man sie im Dunkeln gegen die Haare strich. Das Huhn hatte sehr kleine, niedrige Beinchen und wurde deshalb Kurzbeinchen genannt. Es legte goldene Eier, und die Frau liebte es wie ihr eigenes Kind.
Am Morgen bemerkte man sogleich das fremde Entlein, und die Katze begann zu spinnen und das Huhn zu glucken.
"Was ist das!", rief die Frau und schaute sich um. Da sie aber nicht gut sah, hielt sie das Entlein für eine fette Ente. „Das ist ja ein sonderbarer Fang!", sagte sie. "Nun kann ich Enteneier bekommen. Wenn es nur kein Enterich ist! Das müssen wir erproben."
So wurde denn das Entlein für drei Wochen auf Probe angenommen, aber Eier kamen nicht.
Nun war die Katze der Herr im Hause und das Huhn war die Frau, und immer sagten sie: "Wir und die Welt!", denn sie glaubten, dass sie die eine Hälfte wären, und zwar der allerbeste Teil. Dem Entlein wollte es bedünken, dass man auch wohl anderer Meinung sein könnte, aber das duldete das Huhn nicht.
"Kannst du Eier legen?", fragte es. "Nein!"
"Nun gut, dann halte auch deinen Mund!"
Und die Katze sagte: "Kannst du einen Buckel machen? Kannst du spinnen? Kannst du Funken sprühen
"Nein!"
"Dann darfst du auch keine Meinung haben, wenn vernünftige Leute reden!"
Und das Entlein saß im Winkel und war schlechter Laune.
Da dachte es unwillkürlich an die frische Luft und den Sonnenschein und bekam eine so eigentümliche Lust auf dem Wasser zu schwimmen, dass es sich endlich nicht länger enthalten konnte, es dem Huhne anzuvertrauen.
"Was sprichst du da?", fragte dasselbe. "Du hast nichts zu tun, deshalb plagen dich so seltsame Launen. Lege Eier oder spinne, dann gehen sie vorüber!"
"Aber es ist köstlich, auf dem Wasser zu schwimmen!", entgegnete das Entlein, "köstlich, sich den Kopf in den Fluten zu kühlen oder auf den Grund niederzutauchen!"
,,Ja, das muss wirklich ein prächtiges Vergnügen sein!", sagte das Huhn spöttisch. "Bist du denn närrisch geworden? Frage einmal die Katze, sie ist die Klügste, die ich kenne, ob es ihr so angenehm vorkommt, auf dem Wasser zu schwimmen oder unterzutauchen! Ich will von mir gar nicht reden. -
Frage selbst unsere Herrschaft, die alte Frau, klüger als sie ist niemand in der Welt. Meinst du, sie hätte Lust, zu schwimmen oder sich das Wasser über dem Kopfe zusammenschlagen zu lassen?"
"Ihr versteht mich nicht!" sagte das Entlein.
"Wenn wir dich nicht verstehen, wer sollte dich dann wohl verstehen! Du wirst doch wohl nicht klüger sein wollen als die Katze und die Frau, um meiner gar nicht zu erwähnen. Ziere dich nicht, Kind, und setze dir keine Grillen in den Kopf! Danke deinem Schöpfer für all das Gute, das man dir erwiesen hat! Hat man dich nicht in eine warme Stube und in einen Umgangskreis aufgenommen, von dem du etwas lernen kannst? Aber du bist ein Faselhans und es ist keineswegs erfreulich, mit dir umzugehen! Mir kannst du Glauben schenken, denn ich meine es gut mit dir, ich sage dir kränkende Wahrheiten, und daran kann man seine wirklichen Freunde erkennen! Sieh jetzt nur zu, dass du Eier legst und spinnen und Funken sprühen lernst!"
"Ich glaube, ich gehe in die Welt hinaus!", sagte das Entlein. "Ja, tue das!" entgegnete das Huhn.
Da ging das Entlein. Es schwamm auf dem Wasser, es tauchte unter, aber von allen Tieren wurde es um seiner Hässlichkeit willen übersehen.
Jetzt erschien der Herbst; die Blätter im Walde wurden gelb und braun, der Sturm entführte sie und wirbelte sie umher, und oben in der Luft machte sich die Kälte bemerkbar. Die Wolken hingen schwer von Hagel und Schneeflocken, und auf dem Zaune stand ein Rabe und schrie "au, au!" vor lauter Kälte. Ja, man konnte schon ordentlich frieren, wenn man nur daran dachte. Das arme Entlein hatte es wahrlich nicht gut.
Eines Abends, die Sonne ging gerade wunderbar schön unter, kam ein ganzer Schwarm prächtiger großer Vögel aus dem Gebüsch hervor, wie sie das Entlein noch nie so schön gesehen hatte. Sie waren blendend weiß und hatten lange geschmeidige Hälse; es waren Schwäne. Sie stießen einen merkwürdigen Ton aus, breiteten ihre prächtigen großen Schwingen aus und flogen aus den kalten Gegenden fort nach wärmeren Ländern, nach offenen Seen. Sie stiegen so hoch, so hoch, dass dem hässlichen jungen Entlein ganz seltsam zumute wurde. Es drehte sich im Wasser wie ein Rad herum, streckte den Hals hoch nach ihnen aus und stieß einen so lauten und sonderbaren Schrei aus, dass es sich ordentlich vor sich selber fürchtete. Es konnte die prächtigen, die glücklichen Vögel nicht vergessen, und sobald es sie nicht mehr wahrnahm, tauchte es bis auf den Grund unter und geriet, als es wieder emporkam, förmlich außer sich. Es wusste nicht, wie die Vögel hießen noch wohin sie zogen, aber doch hatte es dieselben lieb wie niemand zuvor. Neid kam gleichwohl nicht in sein Herz. Wie hätte ihm auch nur in den Sinn kommen können, sich eine solche Schönheit zu wünschen! Es wäre schon froh gewesen, wenn nur die Enten hätten es unter sich dulden wollen; - das arme hässliche Tier!
Und der Winter wurde so kalt, so kalt! Das Entlein musste unermüdlich umher schwimmen, um das Zufrieren zu verhindern. Aber jede Nacht wurde das Loch, in dem es schwamm, schmäler und schmäler. Es war eine Kälte, dass die Eisdecke krachte. Das Entlein musste fortwährend die Beine gebrauchen, damit sich das Loch nicht völlig schloss. Endlich wurde es matt, lag ganz still und fror so im Eise fest.
In der Frühe des folgenden Morgens kam ein Bauer, der das arme Tier gewahrte. Er ging hin, zerschlug das Eis mit seinem Holzschuh, rettete das Entlein und trug es heim zu seiner Frau. Da lebte es wieder auf.
Die Kinder wollten mit demselben spielen. Da aber das Entlein glaubte, sie wollten ihm wehe tun, fuhr es in der Angst gerade in eine Milchschüssel, so dass die Milch in der Stube umherspritzte. Die Frau schlug entsetzt die Hände zusammen. Dann flog das Entlein auf das Gestell, auf welchem die Butter aufbewahrt wurde, und von hier in die Mehltonne hinein und dann wieder in die Höhe. Da könnt ihr euch denken, wie es aussah! Die Frau schrie und schlug mit der Feuerzange nach demselben, die Kinder liefen einander über den Haufen und lachten und lärmten. Gut war es, dass die Türe offen stand; so konnte sich das Entlein zwischen die Sträucher in den frisch gefallenen Schnee hinausretten, und da lag es nun bis auf den Tod erschöpft.
Allein es würde wahrlich zu traurig sein, all die Not und das Elend zu erzählen, welche das Entlein in dem harten Winter auszustehen hatte.
Es lag zwischen dem Röhricht im Moor, als die Sonne wieder warm zu scheinen begann; die Lerchen sangen, es war ein herrlicher Lenz.
Da entfaltete es mit einem Male seine Schwingen, stärker sausten sie als zuvor und trugen es kräftig vorwärts, und ehe dasselbe erst recht wusste, befand es sich in einem großen Garten, wo die Apfelbäume in voller Blüte standen, wo die Fliederbüsche dufteten und ihre langen grünen Zweige zu den sich sanft dahinschlängelnden Bächen und Kanälen hernieder senkten. Oh, wie war es hier so köstlich, so frühlingsfrisch! Und gerade vor ihm kamen aus dem Dickicht drei schöne weiße Schwäne angeschwommen; mit gekräuseltem Gefieder glitten sie leicht und majestätisch über das Wasser dahin. Das Entlein erkannte die prächtigen Tiere und wurde von einer eigentümlichen .Schwermut ergriffen.
"Ich will hinfliegen zu ihnen, den königlichen Vögeln, und sie werden mich tot beißen, weil ich, der ich so hässlich bin, mich ihnen zu nähern wage. Aber meinetwegen! Besser, von ihnen getötet, als von den Enten gezwackt, von den Hühnern gepickt, von der Hühnermagd gestoßen zu werden und im Winter alles mögliche Weh über sich ergehen zu lassen!“ Und es flog auf das Wasser und schwamm den prächtigen Schwänen entgegen, die mit gesträubten Federn auf dasselbe losschossen. "Tötet mich nur!“, sagte das arme Tier und neigte sein Haupt gegen den Wasserspiegel und erwartete den Tod, - aber was sah es in dem klaren Wasser? Es sah unter sich sein eigenes Bild, aber es war nicht mehr ein plumper schwarzgrauer Vogel, hässlich und Abscheu erweckend, es war selbst ein Schwan.
Es tut nichts, in einem Entenhofe geboren zu sein, wenn man nur in einem Schwanenei gelegen hat!
Nun fühlte es sich förmlich glücklich über alle die Not und Widerwärtigkeit, welche es ausgestanden hatte. Nun verstand es erst sein Glück, erst die Herrlichkeit recht zu würdigen, die es überall begrüßte. - Und die großen Schwäne umschwammen es und streichelten es mit ihrem Schnabel.
Da traten einige kleine Kinder in den Garten hinein! Sie warfen Brot und Korn in das Wasser, und das kleinste rief: "Da ist ein neuer!“ Und die andern Kinder jubelten mit: "Ja, es ist ein neuer angekommen.“ Sie klatschten in die Hände, tanzten umher, holten Vater und Mutter herbei und es wurde Brot und Kuchen in das Wasser geworfen und sie sagten alle: "Der neue ist der schönste, so jung und majestätisch!“ Und die alten Schwäne verneigten sich vor ihm.
Da überschlich ihn Schüchternheit und Verschämtheit und er verbarg den Kopf unter den Flügeln; es war ihm so eigen zumute, er wusste fast selbst nicht wie. Er war allzu glücklich, war durchaus nicht stolz, denn ein gutes Herz wird niemals stolz. Er dachte daran, wie er verfolgt und verhöhnt worden, und hörte nun alle sagen, er wäre der schönste von allen schönen Vögeln. Die Fliedersträuche neigten sich mit den Zweigen zu ihm in das Wasser hinunter, und die Sonne schien warm und erquickend. Da sträubte er sein Gefieder, der schlanke Hals erhob sich und aus Herzensgrunde jubelte er: "So viel Glück habe ich mir nicht träumen lassen, als ich noch das garstige Entlein war!“

Die Prinzessin auf der Erbse

Es war einmal ein Prinz, der wollte eine Prinzessin heiraten, aber es sollte eine wirkliche Prinzessin sein. Da reiste er in der ganzen Welt umher, um eine zu finden, aber überall stand dem etwas entgegen. Prinzessinnen gab es zwar genug, aber ob es wirkliche Prinzessinnen waren, konnte er nicht herausbringen. Immer gab es etwas, was nicht in Ordnung war.
Da kam er denn wieder nach Hause und war traurig, denn er wollte doch gar zu gern eine wirkliche Prinzessin haben.
Eines Abends zog ein schreckliches Gewitter auf, es blitzte und donnerte, der Regen strömte herunter, es war entsetzlich! Da klopfte es an das Stadttor, und der alte König ging hin, um aufzumachen. Es war eine Prinzessin, die draußen vor dem Tore stand. Aber, 0 Gott, wie sah die von dem Regen und dem bösen Wetter aus! Das Wasser lief ihr von dem Haar und von den Kleidern herunter, es lief in die Schnäbel der Schuhe herein und bei den Hacken wieder hinaus, und doch sagte sie, dass sie eine wirkliche Prinzessin sei.
"Ja, das werden wir schon erfahren!", dachte die alte Königin. Aber sie sagte nichts, ging in die Schlafkammer hinein, nahm alle Betten ab und legte eine Erbse auf den Boden der Bettstelle. Darauf nahm sie zwanzig Matratzen und legte sie auf die Erbse und dann noch zwanzig Eiderdaunenbetten auf die Matratzen. Darauf musste nun die Prinzessin die ganze Nacht liegen. Am Morgen wurde sie gefragt, wie sie geschlafen habe.
,,0, schrecklich schlecht!" sagte die Prinzessin. "Ich habe meine Augen fast die ganze Nacht nicht geschlossen! Gott weiß, was da im Bette gewesen ist! Ich habe auf etwas Hartem gelegen, so dass ich an meinem ganzen Körper grün und blau bin! Es ist entsetzlich."
Nun sahen sie ein, dass sie eine wirkliche Prinzessin war, weil sie durch die zwanzig Matratzen und die zwanzig Eiderdaunenbetten hindurch die Erbse verspürt hatte. Da nahm der Prinz sie zur Frau, denn nun wusste er, dass er eine wirkliche Prinzessin besitze. Und die Erbse kam auf die Kunstkammer, wo sie noch zu sehen ist, wenn sie niemand gestohlen hat.

Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern

Es schneite und war entsetzlich kalt, der Abend dunkelte bereits; es war der letzte Abend im Jahre: Silvesterabend. In dieser Kälte und in dieser Finsternis ging auf der Straße ein kleines, armes Mädchen mit bloßem Kopf und mit nackten Füßen. Es hatte wohl freilich Pantoffeln angehabt, als es vom Hause fort ging, aber das waren die seiner verstorbenen Mutter gewesen, und da sie ihm nicht passten, so hatte es sie verloren, als es über die Straße eilte, während zwei Wagen in rasender Eile vorüberjagten. Der eine Pantoffel war nicht wieder aufzufinden und mit dem anderen machte sich ein Knabe aus dem Staube.
Da ging nun das kleine Mädchen auf den nackten, zierlichen Füßchen, die vor Kälte ganz rot und blau waren. In seiner alten Schürze trug es eine Menge Schwefelhölzer, und einen Bund hielt es in der Hand. Während des ganzen Tages hatte ihm niemand etwas abgekauft, niemand ein Almosen gereicht. Hungrig und frierend schleppte sich das arme Kind weiter und sah schon ganz verzagt und eingeschüchtert aus. Die Schneeflocken fielen auf sein langes, blondes Haar, das schön gelockt über seinen Nacken hinab floss. Aus allen Fenstern strahlte heller Lichterglanz, und über alle Straßen verbreitete sich der Geruch von köstlichem Gänsebraten. Es war ja Silvesterabend. Dieser Gedanke erfüllte alle Sinne des kleinen Mädchens.
In einem Winkel zwischen zwei Häusern, von denen das eine etwas weiter in die Straße vorsprang als das andere, kauerte es sich nieder. Seine kleinen Beinchen hatte es unter sich gezogen, aber es fror nur noch mehr und wagte trotzdem nicht, nach Hause zu gehen, da es noch kein Schächtelchen mit Streichhölzern verkauft, noch keinen Pfennig eingenommen hatte. Es hätte gewiss vom Vater Schläge bekommen. Und kalt war es zu Hause ja auch; sie hatten das bloße Dach über sich, und der Wind pfiff schneidend hindurch, obgleich Stroh und Lumpen in die größten Ritzen gestopft waren. Ach, wie gut musste die Wärme eines Schwefelhölzchens tun! Wenn es nur wagen dürfte, eines aus dem Schächtelchen herauszunehmen, es gegen die Wand zu streichen und die Finger daran zu wärmen!
Endlich zog das Kind eines heraus. "Ritsch!" wie sprühte es, wie brannte es! Das Schwefelholz strahlte wie ein kleines Licht eine warme helle Flamme aus, als es das Händchen darum hielt. Es war ein merkwürdiges Licht. Es kam dem Mädchen vor, als säße es vor einem großen eisernen Ofen mit Messingbeschlägen und Messingverzierungen, das Feuer brannte so schön und wärmte so wohltuend! Die Kleine streckte schon die Füße aus, um auch diese zu wärmen, da erlosch die Flamme. Der Ofen verschwand, sie saß mit einem Stümpfchen des ausgebrannten Schwefelholzes in der Hand da.
Ein neues wurde angestrichen, es brannte, es leuchtete, und die Stelle der Mauer, auf die der Schein fiel, wurde durchsichtig wie ein Flor. Die Kleine sah gerade in die Stube hinein, wo der Tisch gedeckt stand, und köstlich dampfte die gebratene Gans darauf. Und was noch herrlicher war, die Gans sprang aus der Schüssel und watschelte, mit Gabel und Messer im Rücken, über den Fußboden hin gerade auf das arme Mädchen zu. Da erlosch das Schwefelholz, und nur die dicke, kalte Mauer war zu sehen.
Sie zündete ein neues an. Da saß die Kleine unter dem herrlichsten Weihnachtsbaum; er war noch größer und noch viel reicher ausgeputzt als der, den sie am Heiligen Abend bei dem reichen Kaufmann durch die Glastür gesehen hatte. Tausende von Lichtern brannten auf den grünen Zweigen, und bunte Bilder schauten auf sie hernieder. Die Kleine streckte beide Hände nach ihnen in die Höhe, da erlosch das Schwefelholz. Die vielen Weihnachtslichter stiegen höher und höher, und sie sah jetzt erst, dass es die hellen Sterne waren. Einer von ihnen fiel herab und zog einen langen Feuerstreifen über den Himmel.
»Jetzt stirbt jemand!" sagte die Kleine; denn die alte Großmutter, die sie allein freundlich behandelt hatte, jetzt aber längst tot war, hatte gesagt: "Wenn ein Stern fällt, steigt eine Seele zu Gott empor!"
Sie strich wieder ein Schwefelholz an der Mauer. Es warf einen weiten Lichtschein ringsumher, und in seinem Glanze stand die Großmutter, hell beleuchtet, mild und freundlich da.
"Großmutter!" rief die Kleine, »o nimm mich mit dir! Im weiß, dass du verschwindest, sobald das Schwefelholz ausgeht, verschwindest wie der warme Kachelofen, der köstliche Gänsebraten und der große, flimmernde Weihnachtsbaum!" Schnell strich sie den ganzen Rest der Schwefelhölzer an, die sich noch im Schächtelchen befanden, sie wollte die Großmutter festhalten. Und die Schwefelhölzer verbreiteten einen solchen Glanz, dass es heller war als am lichten Tage. So schön, so groß war die Großmutter nie gewesen. Sie nahm das kleine Mädchen auf ihren Arm und hoch schwebten sie empor in Glanz und Freude. Kälte, Hunger und Angst wichen von ihm - sie waren bei Gott.
Aber im Winkel am Hause saß in der kalten Morgenstunde das kleine Mädchen mit roten Wangen, mit Lächeln um den Mund - tot, erfroren am letzten Tage des alten Jahres. Der Morgen des neuen Jahres ging über der Kleinen auf, die mit den Schwefelhölzchen, wovon fast ein Schächtelchen verbrannt war, dasaß. "Sie hat sich wärmen wollen!" sagte man. Niemand wusste, was sie Schönes gesehen hatte, in welchem Glanze sie mit der alten Großmutter zur Neujahrsfreude eingegangen war.

Zwölf mit der Post

Es war schneidend kalt, der Himmel sternklar, kein Lüftchen regte sich.
„Bums!“ Da wurde ein alter Kochtopf an die Tür des Nachbarn geworfen.
„Piff, paff!“ Dort knallte eine Pistole. Man begrüßte das neue Jahr, denn es war Neujahrsnacht und die Turmuhr schlug zwölf.
„Traratrara!“ Die Post kam angefahren. Die Postkutsche hielt vor dem Stadttor an, sie brachte zwölf Personen mit, alle Plätze waren besetzt.
„Hurra hoch!“, riefen die Leute in den Häusern der Stadt, wo man die Neujahrsnacht feierte und sich bei dem zwölften Schlage mit dem Glas in der Hand erhob, um das neue Jahr leben zu lassen.
„Prosit Neujahr!“, wünschte man sich, „eine schöne Frau, viel Geld und wenig Ärger!“
Darauf stieß man mit den Gläsern an, dass es nur so klang. Und draußen vor dem Tor hielt der Postwagen mit den zwölf fremden Reisenden.
Wer waren diese Gäste? Jeder von ihnen hatte Gepäck und einen Reisepass bei sich, ja, sie brachten sogar Geschenke für alle Leute im Städtchen mit - und auch für dich und mich! Wer aber waren sie, was wollten sie und was brachten sie wohl?
„Guten Morgen!“, riefen sie der Schildwache am Tore zu.
„Guten Morgen!“, antwortete diese, denn es hatte ja schon zwölf geschlagen.
„Name? Stand?“, fragte die Wache denjenigen, der zuerst aus dem Wagen gestiegen war.
„Schauen Sie selber im Pass nach“, antwortete der Reisende. „Ich bin ich!“ Er war aber auch ein ganzer Kerl, angetan mit Pelzstiefeln und einem Bärenpelz. „Ich bin der Mann, in den die Leute Hoffnungen setzen. Komm morgen zu mir, ich gebe dir ein Neujahrsgeschenk! Ich werfe Geld unter die Leute und gebe auch Bälle - einunddreißig Bälle, mehr Nächte kann ich nicht draufgehen lassen. Meine Schiffe sind eingefroren, aber in meinem Arbeitszimmer ist es gemütlich warm. Ich bin Kaufmann, heiße Januar und habe nur Rechnungen in meinem Gepäck.“
Nun stieg der zweite Reisende aus. Er war Theaterdirektor und Direktor aller Maskenfeste, die man sich denken kann. Sein Gepäck bestand aus einer großen Bütte.
„Aus dieser Tonne“, sagte er, „wollen wir zur Karnevalszeit die Katze herausjagen! Ich habe nicht lange zu leben, die kürzeste Zeit von der ganzen Familie, nämlich nur achtundzwanzig Tage. Zuweilen schalten sie auch noch einen Tag ein, aber das kümmert mich wenig, juchhuh!“
„Sie dürfen hier nicht so herumschreien“, sagte die Schildwache.
„Ach was, freilich darf ich schreien“, rief der Fremde. „Ich bin der Prinz Karneval und reise unter dem Namen Februar!“
Jetzt stieg der dritte aus, er sah aus wie die leibhaftige Fastenzeit, aber er trug die Nase hoch, denn er war ein Wetterprophet. Aber das ist kein nahrhaftes Amt, und deshalb hielt er es auch mit dem Fasten. In seinem Knopfloch trug er ein Veilchensträußchen, es war aber sehr klein.
„März, März!“, rief der vierte und schlug ihn auf die Schulter. „Riechst du nichts? Schnell hinein in die Wachstube, dort trinken sie Punsch, dein Leib- und Magengetränk! Marsch, Herr Martius!“
Das war gar nicht wahr, er wollte nur seinem Namen Ehre machen und ihn in den April schicken. Der vierte sah überhaupt sehr flott aus. Arbeiten tat er wenig, desto mehr Feiertage machte er.
„Wenn es nur etwas beständiger auf der Welt zuginge“, sagte er, „bald ist man guter, bald schlechter Laune, bald gibt es Regen, bald Sonnenschein! Ich kann lachen und weinen, je nach den Umständen. In meinem Koffer habe ich Sommergarderobe, aber es wäre sehr leichtsinnig, sie anzuziehen. Sonntags gehe ich in seidenen Strümpfen und Muff spazieren!“
Nach ihm stieg eine Dame aus der Kutsche, sie nannte sich Fräulein Mai. Sie trug einen Sommermantel und feste Stiefel, ein lindgrünes Kleid und Anemonen im Haar und duftete so stark nach Waldmeister, dass die Schildwache niesen musste.
„Gesundheit und Gottes Segen!“, sagte sie. Wie war sie reizend! Und Sängerin war sie - nicht Theatersängerin, sie durchstreifte den grünen Wald und sang dort zu ihrem eigenen Vergnügen.
„Jetzt kommt die junge Frau!“, rief es drinnen im Wagen, und eine feine, niedliche junge Dame stieg aus. Man sah es der Frau Juni an, dass sie es gewohnt war, von faulen Siebenschläfern bedient zu werden. Am längsten Tage des Jahres gab sie eine Gesellschaft, damit die Gäste auch Zeit hatten, die vielen köstlichen Gerichte zu verzehren. Sie hatte zwar einen eigenen Wagen, aber sie reiste wie alle anderen mit der Postkutsche, um zu zeigen, dass sie nicht hochmütig sei. Sie war in Begleitung, ihr jüngerer Bruder Julius war bei ihr.
Er war ein wohlgenährter Bursche, sommerlich gekleidet. Er hatte nur wenig Gepäck, weil es bei der Hitze beschwerlich war. Deshalb hatte er sich nur mit einer Badehose versorgt, das ist nicht viel.
Darauf kam die Mutter, Madame August, Obsthändlerin und Besitzerin vieler Fischteiche. Sie war dick, fasste selber kräftig mit an und trug den Arbeitern Bier aufs Feld hinaus. „Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen!“, sagte sie. „So steht es in der Bibel. Nach der Arbeit kommen Tanz und Spiel und das Erntefest!“ Sie war eine tüchtige Hausfrau.
Nach ihr stieg wieder ein Mann aus der Kutsche, der Maler Herr September. Wenn er es wollte, wechselten die Blätter des Waldes ihre Farben, sie schillerten in Rot, Gelb und Braun. Der Meister pfiff wie ein Star, war ein flinker Arbeiter und wand blaugrüne Hopfenranken um seinen Krug. Da stand er nun mit seinen Farbentöpfen - das war sein ganzes Gepäck.
Ihm folgte ein Gutsbesitzer, der an Ackern und Pflügen, aber auch an Jagdvergnügen dachte. Der Herr Oktober führte Hund und Büchse mit sich und hatte Nüsse in seiner Jagdtasche. Außerdem führte er noch viel Reisegepäck mit, sogar einen Pflug. Er sprach viel von Landwirtschaft, aber vor lauter Husten und Stöhnen seines Nachbarn hörte man nicht viel davon.
Der November war es, der so viel hustete, während er ausstieg. Er hatte Schnupfen und putzte sich ständig die Nase, aber er meinte, die Erkältung würde sich schon verlieren, wenn es ans Holzmachen ginge. Er war Sägemeister der Holzmacherinnung.
Endlich kam der letzte Gast zum Vorschein, das alte Mütterchen Dezember. Sie fror, aber ihre Augen leuchteten wie zwei Sterne. Sie trug einen Blumentopf im Arm, in den ein kleiner Tannenbaum gepflanzt war. „Ich will den Baum hegen und pflegen, damit er bis zum Weihnachtsabend groß und schön wird“, sagte die Alte. »Er soll vom Fußboden bis zur Decke reichen und mit flammenden Kerzen und vergoldeten Äpfeln geschmückt sein. Dann hole ich das Märchenbuch aus der Tasche und lese vor, dass alle Kinder im Zimmer ganz still werden, die Figürchen auf dem Baum aber lebendig. Der kleine Wachsengel auf der Spitze breitet dann seine Flittergoldflügel aus und fliegt herab. Und er küsst auch die armen Kinder draußen auf der Straße.“
„So, die Kutsche kann abfahren“, sagte der Wächter, „wir haben nun alle zwölf!“
Wenn ein Jahr vergangen ist, werde ich dir sagen, was die zwölf uns allen gebracht haben. Jetzt weiß ich es noch nicht, und sie wissen es wohl selbst nicht - denn es ist eine unruhige Zeit, in der wir leben.

Des Kaisers neue Kleider

Vor vielen Jahren lebte ein Kaiser, der so ungeheuer viel auf neue Kleider hielt, dass er all sein Geld dafür ausgab, um nur immer recht geputzt zu sein. Er kümmerte sich nicht um seine Soldaten, und an Schauspiel und Spazierfahrten hatte er nur darum Freude, weil er dabei seine neuen Kleider zeigen konnte. Er hatte einen Rock für jede Stunde des Tages, und wie man von einem Könige sagt, er ist im Rate, so sagte man hier immer: "Der Kaiser ist im Ankleidezimmer!"
In der großen Stadt, in der er wohnte, ging es sehr munter zu; an jedem Tage trafen viele Fremde ein. Eines Tages kamen auch zwei Betrüger an; sie gaben sich für Weber aus und sagten, sie verstünden das schönste Zeug zu weben, das man sich nur denken könne. Die Farben und das Muster wären nicht allein ungewöhnlich schön, sondern die Kleider, die von dem Zeuge genäht würden, besäßen die wunderbare Eigenschaft, dass sie für jeden Menschen unsichtbar wären, der nicht für sein Amt tauge oder der unaussprechlich dumm sei.
"Das wären ja prächtige Kleider", dachte der Kaiser; "wenn ich die anhätte, könnte ich ja dahinterkommen, welche Männer in meinem Reiche zu ihrem Amte nicht taugen; ich könnte die Klugen von den Dummen unterscheiden! Ja, das Zeug muss sogleich für mich gewebt werden!" Und er gab den beiden Betrügern viel Handgeld, damit sie ihre Arbeit beginnen möchten.
Sie stellten auch zwei Webstühle auf und taten, als ob sie arbeiteten; aber sie hatten nicht einen Faden auf der Spule. Mir nichts, dir nichts verlangten sie die feinste Seide und das prächtigste Gold; das steckten sie aber in ihre eigenen Taschen und arbeiteten an den leeren Stühlen bis spät in die Nacht hinein.
"Ich möchte doch wohl wissen, wie weit sie mit dem Zeuge sind!", dachte der Kaiser. Aber es war ihm ordentlich ein bisschen wunderlich ums Herz, wenn er daran dachte, dass ein Dummer oder zu seinem Amte Untauglicher es nicht sehen könne. Nun glaubte er zwar, dass er für sich selbst nichts zu fürchten habe; aber er wollte doch erst einen an dem senden, um zu sehen, wie es damit stünde. Alle Menschen in der ganzen Stadt wussten, welche besondere Kraft das Zeug habe, und alle waren begierig zu sehen, wie unbrauchbar oder dumm ihr Nachbar sei.
"Ich will meinen alten, ehrlichen Minister zu den Webern senden", dachte der Kaiser. "Er kann am besten beurteilen, wie das Zeug sich ausnimmt; denn er hat Verstand, und keiner versteht sein Amt besser als er."
Nun ging der alte, gute Minister in den Saal hinein, wo die beiden Betrüger saßen und an den leeren Webstühlen arbeiteten.
"Gott behüte uns!", dachte der alte Minister und riss die Augen auf, "ich kann ja nichts erblicken!"
Aber das sagte er nicht.
Beide Betrüger baten ihn, gefälligst näher zu treten, und fragten, ob es nicht ein' schönes Muster und schöne Farben seien. Dann zeigten sie auf den leeren Webstuhl, und der arme, alte Minister riss noch immer die Augen auf; aber er konnte nichts sehen; denn es war nichts da.
"Herr Gott!", dachte er, "sollte ich dumm sein? Das habe ich nie geglaubt, und das darf kein Mensch wissen! Sollte ich nicht zu meinem Amte taugen? Nein, es geht nicht an, dass ich erzähle, ich könnte das Zeug nicht sehen!"
"Nun, Sie sagen ja nichts dazu?", fragte der eine, der da webte.
"Oh, es ist ganz niedlich, ganz allerliebst!", antwortete der alte Minister und sah durch seine Brille. "Dieses Muster und diese Farben! Ja, ich werde dem Kaiser sagen, dass es mir sehr gefällt!"
"Nun, das freut uns!", sagten beide Weber, und darauf nannten sie die Farben mit Namen und erklärten das seltsame Muster. Der alte Minister passte gut auf, damit er dasselbe sagen könnte, wenn er zum Kaiser zurückkäme, und das tat er denn auch.
Jetzt verlangten die Betrüger mehr Geld, mehr Seide und mehr Gold, das sie zum Weben gebrauchen wollten. Das steckten sie jedoch wieder in ihre Taschen; auf den Webstuhl kam nicht ein Faden, und sie fuhren fort, nach wie vor an den leeren Stühlen zu arbeiten.
Der Kaiser sandte bald noch einen andern ehrlichen Beamten hin, der nachsehen sollte, wie es mit dem Gewebe stünde und ob das Zeug nicht bald fertig wäre. Es ging jedoch dem Manne ebenso wie dem andern: Er schaute und spähte; weil aber außer dem leeren Webstuhle nichts da war, so konnte er auch nichts sehen.
"Ist das nicht ein hübsches Stück Zeug?", fragten die beiden Betrüger und zeigten und erklärten das prächtige Muster, welches gar nicht da war.
"Dumm bin ich nicht!", dachte der Mann; "es ist also mein gutes Amt, zu dem ich nicht tauge. Es ist komisch genug; aber das muss man sich nicht merken lassen!" und so lobte er das. Zeug, welches er nicht sah, und versicherte ihnen seine Freude über die schönen Farben und das herrliche Muster. "Ja, es ist ganz allerliebst!", sagte er zum Kaiser.
Alle Menschen in der Stadt sprachen von dem prächtigen Zeuge.
Nun wollte der Kaiser es selbst sehen, während es noch auf dem Webstuhle war. Mit einer ganzen Schar auserwählter Männer, unter denen auch die beiden ehrlichen Beamten waren, die schon früher dort gewesen, ging er zu den beiden listigen Betrügern hin, die nun aus allen Kräften webten, aber ohne Faser und Faden.
"Ist das nicht prächtig?", sagten die beiden alten Staatsmänner, die schon einmal dagewesen waren. "Sehen Eure Majestät, welches Muster, welche Farben!" Und dann zeigten sie auf den leeren Webstuhl; denn sie glaubten, dass die andern das Zeug wohl sehen könnten.
"Was?", dachte der, Kaiser, "ich sehe gar nichts! Das ist ja schrecklich! Bin ich dumm? Tauge ich nicht dazu, Kaiser zu sein? Das wäre das Schrecklichste, was mir begegnen könnte!"
"Oh, es ist sehr hübsch!", sagte er. "Es hat meinen allerhöchsten Beifall!" Und er nickte zufrieden und betrachtete den leeren Webstuhl; denn er wollte nicht sagen, dass er nichts sehen könne. Das ganze Gefolge, das er bei sich hatte, riss die Augen auf; aber sie konnten nicht mehr sehen als alle anderen auch. Gleichwohl sagten sie wie der Kaiser: "Oh, das ist hübsch!“ und sie rieten ihm, diese neuen prächtigen Kleider das erste Mal bei der bevorstehenden großen Prozession zu tragen.
„Es ist herrlich, niedlich, reizend!“, ging es von Mund zu Mund; man schien allerseits innig erfreut darüber, und der Kaiser verlieh den Betrügern den Titel: Kaiserliche Hofweber.
Die ganze Nacht vor dem Morgen, an dem die Prozession stattfinden sollte, waren die Betrüger auf und hatten sechzehn Lichte angezündet. Die Leute konnten sehen, dass sie stark beschäftigt waren, des Kaisers neue Kleider fertigzumachen. Sie taten, als ob sie das Zeug von dem Webstuhle nähmen, sie schnitten mit großen Scheren in die Luft, sie nähten mit Nähnadeln ohne Faden und sagten zuletzt: „Nun sind die Kleider fertig!“
Der Kaiser kam mit seinen vornehmsten Kavalieren selbst dahin, und beide Betrüger hoben den einen Arm in die Höhe, als ob sie etwas hielten, und sagten: „Seht, hier sind die Beinkleider! Hier ist der Rock! Hier der Mantel!“ und so weiter. „Es ist so leicht wie Spinngewebe; man sollte glauben, man habe nichts auf dem Leibe; aber das ist ja gerade das Schöne daran!“
„Ja!“, sagten alle Kavaliere; aber sie konnten nichts sehen, denn es war nichts da.
„Belieben Eure Kaiserliche Majestät jetzt Ihre Kleider allergnädigst abzulegen“, sagten die Betrüger, „so wollen wir Ihnen die neuen anziehen, hier vor dem großen Spiegel.“
Der Kaiser legte alle seine Kleider ab, und die Betrüger stellten sich, als ob sie ihm jedes Stück der neuen anzögen, und der Kaiser wendete sich und drehte sich vor dem Spiegel.
„Ei, wie gut sie ihn kleiden! Wie herrlich sie sitzen!“, sagten alle. „Welche Muster, welche Farben! Das ist eine köstliche Tracht!“
„Draußen stehen sie mit dem Thronhimmel, welcher über Eurer Majestät in der Prozession getragen werden soll“, meldete der Oberzeremonienmeister.
„Wohlan, ich bin fertig!“, sagte der Kaiser. „Sitzt es nicht gut?“ Und dann wendete er sich nochmals zu dem Spiegel; denn es sollte scheinen, als ob er seinen Schmuck recht betrachtete.
Die Kammerherren, welche die Schleppe tragen sollten, griffen mit den Händen nach dem Fußboden, gerade als ob sie die Schleppe aufhöben; sie gingen und taten, wie wenn sie etwas in der Luft hielten; sie wagten nicht, es sich merken zu lassen, dass sie nichts sehen konnten.
So ging der Kaiser in der Prozession unter dem prächtigen Thronhimmel, und alle Menschen auf der Straße und in den Fenstern sprachen: "Gott, wie sind des Kaisers neue Kleider unvergleichlich; welche Schleppe er am Kleide hat, wie schön das sitzt!" Keiner wollte es sich merken lassen, dass er nichts sähe; denn dann hätte er ja nicht zu seinem Amte getaugt oder wäre sehr dumm gewesen. Soviel Anerkennung hatte noch keines der kaiserlichen Kleider gefunden.
Plötzlich aber rief ein kleines Kind mit seiner lieben, hellen Stimme ganz unbesorgt und laut: "Aber der Kaiser hat ja gar nichts an!"
"Herr Gott, höret die Stimme der Unschuld!", sagte der Vater, und der eine zischelte dem andern zu, was das Kind gesagt hatte.
"Aber er hat ja gar nichts an!", rief zuletzt das ganze Volk.
Das ärgerte den Kaiser; denn es schien ihm, als hätten sie recht; aber er dachte bei sich: "Nun muss ich die Prozession wohl oder übel aushalten!" Und darum schritt er ernst und scheinbar unbekümmert weiter, und die Kammerherren gingen hinterdrein und trugen die Schleppe, die gar nicht da war.

Der Engel

Jedes Mal, wenn ein gutes Kind stirbt, kommt ein Engel Gottes zur Erde hernieder, nimmt das tote Kind auf seine Arme, breitet die großen, weißen Flügel aus und pflückt eine ganze Handvoll Blumen, die er zu Gott hinaufbringt, damit sie dort noch schöner als auf der Erde blühen. Gott drückt sie dort an sein Herz, aber der Blume, die ihm die liebste ist, gibt er einen Kuss, und dann bekommt sie Stimme und kann in der großen Glückseligkeit mitsingen.
Sieh, alles dieses erzählte ein Engel Gottes, während er ein totes Kind zum Himmel fort trug, und das Kind hörte wie im Traume; sie flogen über die Stätten in der Heimat, wo das Kleine gespielt hatte, und kamen durch Gärten mit herrlichen Blumen.
"Welche wollen wir nun mitnehmen und in den Himmel pflanzen?" fragte der Engel.
Da stand ein schlanker, herrlicher Rosenstock, aber eine böse Hand hatte den Stamm abgebrochen, so dass alle Zweige, voll von großen, halb aufgebrochenen Knospen, vertrocknet rundherum hingen. "Der arme Rosenstock!" sagte das Kind. "Nimm ihn, damit er oben bei Gott zum Blühen kommen kann!"
Und der Engel nahm ihn, küsste das Kind dafür, und das Kleine öffnete seine Augen zur Hälfte. Sie pflückten von den reichen Prachtblumen, nahmen aber auch die verachtete Butterblume und das wilde Stiefmütterchen.
"Nun haben wir Blumen!" sagte das Kind, und der Engel nickte, aber er flog noch nicht zu Gott empor. Es war Nacht und ganz still; sie blieben in der großen Stadt und schwebten in einer der schmalen Gassen umher, wo Haufen Stroh und Asche lagen; es war Umzug gewesen. Da lagen Scherben von Tellern, Gipsstücke, Lumpen und alte Hutköpfe, was alles nicht gut aussah. Der Engel zeigte in allen diesen Wirrwarr hinunter auf einige Scherben eines Blumentopfes und auf einen Klumpen Erde, der da herausgefallen war. Von den Wurzeln einer großen vertrockneten Feldblume, die nichts taugte und die man deshalb auf die Gasse geworfen hatte, wurde er zusammengehalten. "Diese nehmen wir mit!" sagte der Engel. "Ich werde dir erzählen, während wir fliegen!"
Sie flogen, und der Engel erzählte:
"Dort unten in der schmalen Gasse, in dem niedrigen Keller, wohnte ein armer, kranker Knabe. Von seiner Geburt an war er immer bettlägerig gewesen; wenn es ihm am besten ging, konnte er auf Krücken die kleine Stube ein paar Mal auf und nieder gehen, das war alles. An einigen Tagen im Sommer fielen die Sonnenstrahlen während einer halben Stunde bis in den Keller hinab, und wenn der Knabe dasaß und sich von der warmen Sonne bescheinen ließ und das rote Blut durch seine feinen Finger sah, die er vor das Gesicht hielt, dann hieß es: 'Heute ist er aus gewesen!' Er kannte den Wald in seinem herrlichen Frühjahrsgrün nur dadurch, dass ihm des Nachbars Sohn den ersten Buchenzweig brachte, den hielt er über seinem Haupte und träumte dann unter Buchen zu sein, wo die Sonne scheint und die Vögel singen. An einem Frühlingstage brachte ihm des Nachbars Knabe auch Feldblumen, und unter diesen war zufällig eine Wurzel, deshalb wurde sie in einen Blumentopf gepflanzt und am Bette neben das Fenster gestellt. Die Blume war mit einer glücklichen Hand gepflanzt, sie wuchs, trieb neue Zweige und trug jedes Jahr ihre Blumen; sie wurde des kranken Knaben herrlichster Blumengarten, sein kleiner Schatz hier auf Erden; er begoss und pflegte sie und sorgte dafür, dass sie jeden Sonnenstrahl, bis zum letzten, der durch das niedrige Fenster hinunter glitt, erhielt; die Blume selbst verwuchs mit seinen Tränen, denn für ihn blühte sie, verbreitete sie ihren Duft und erfreute das Auge; gegen sie wendete er sich im Tode, da der Herr ihn rief. Ein Jahr ist er nun bei Gott gewesen, ein Jahr hat die Blume vergessen im Fenster gestanden und ist verdorrt und wurde deshalb beim Umziehen hinaus auf die Straße geworfen. Und dies ist die Blume, die vertrocknete Blume, die wir mit in unsern Blumenstrauß genommen haben, denn diese Blume hat mehr erfreut als die reichste Blume im Garten einer Königin!"
"Aber woher weißt du das alles?" fragte das Kind, das der Engel gen Himmel trug.
"Ich weiß es", sagte der Engel, "denn ich war selbst der kleine, kranke Knabe, der auf Krücken ging; meine Blume kenne ich wohl!"
Das Kind öffnete seine Augen ganz und sah in des Engels herrliches, frohes Antlitz hinein, und im selben Augenblick befanden sie sich in Gottes Himmel, wo Freude und Glückseligkeit waren. Gott drückte das tote Kind an sein Herz, und da bekam es Schwingen wie der andere Engel und flog Hand in Hand mit ihm. Gott drückte alle Blumen an sein Herz, aber die arme verdorrte Feldblume küsste er, und sie erhielt Stimme und sang mit allen Engeln, welche Gott umschwebten, einige ganz nahe, andere um diese herum in großen Kreisen und immer weiter fort in das Unendliche, aber alle gleich glücklich. Und alle sangen sie, klein und groß, samt dem guten, gesegneten Kinde und der armen Feldblume, die verdorrt dagelegen hatte, hingeworfen in den Kehricht des Umziehtages, in der schmalen, dunklen Gasse.
 

Der standhafte Zinnsoldat

Es waren einmal fünfundzwanzig Zinnsoldaten, die alle Brüder waren, da man sie aus einem und demselben alten Zinnlöffel gegossen hatte. Das Gewehr hielten sie im Arm, das Gesicht vorwärts gegen den Feind gerichtet; rot und blau, kurzum herrlich war die Uniform. Das allererste, was sie in dieser Welt hörten, nachdem der Deckel von der Schachtel abgenommen wurde, in der sie lagen, war das Wort: "Zinnsoldaten!" Das rief ein kleiner Knabe und klatschte vor Wonne in die Hände. Er hatte sie zu seinem Geburtstage bekommen und stellte sie nun auf dem Tisch in Schlachtordnung auf. Der eine Soldat glich dem andern auf das genaueste, nur ein einziger war etwas verschieden: er hatte nur ein Bein, denn da er zuletzt gegossen worden, hatte das Zinn nicht mehr ausgereicht; doch stand er auf seinem einen Bein ebenso fest wie die andern auf ihren beiden, und gerade er sollte sich durch sein denkwürdiges Schicksal besonders auszeichnen.
Auf dem Tische, wo sie aufgestellt wurden, stand noch viel anderes Spielzeug; aber dasjenige, welches am meisten Aufmerksamkeit auf sich zog, war ein hübsches Schloss aus Papier. Durch die kleinen Fenster konnte man in die Säle hineinschauen. Vor demselben standen kleine Bäume, ringsum ein Stück Spiegelglas, welches einen See vorstellen sollte. Schwäne von Wachs schwammen auf demselben und spiegelten sich darin. Das war wohl alles niedlich, aber das Niedlichste blieb doch ein kleines Mädchen, welches mitten in dem offenen Schlossportale stand. Es war ebenfalls aus Papier ausgeschnitten, hatte aber ein seidenes Kleid an und ein kleines, schmales, blaues Band über den Schultern; mitten auf diesem saß ein funkelnder Stern, so groß wie ihr ganzes Gesicht. Das kleine Mädchen streckte ihre beiden Arme anmutig in die Höhe, denn sie war eine Tänzerin, und dann erhob sie das eine Bein so hoch, dass es der Zinnsoldat gar nicht entdecken konnte und dachte, dass sie, wie er, nur ein Bein hätte.
"Die passte für mich als Frau!", dachte er, "aber sie ist zu vornehm für mich, sie wohnt in einem Schlosse, und ich habe nur eine Schachtel, die ich mit vierundzwanzig teilen muss, das ist keine Wohnung für sie. Doch will ich zusehen, ob ich ihre Bekanntschaft machen kann!" Dann legte er sich der Länge nach hinter eine Schnupftabaksdose, die auf dem Tische stand. Von hier konnte er die kleine feine Dame, die nicht müde wurde, auf einem Bein zu stehen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, genau beobachten.
Als es Abend wurde, legte man die übrigen Zinnsoldaten in ihre Schachtel, und die Leute im Hause gingen zu Bette. Nun begann das Spielzeug zu spielen, bald "Heut kommt Besuch", bald "Räuber und Stadtsoldaten" oder "Versteck". Die Zinnsoldaten rasselten in ihrer Schachtel, weil sie gerne mit dabei gewesen wären, sie vermochten aber den Deckel nicht aufzuheben. Der Nussknacker schlug Purzelbäume und der Griffel fuhr lustig über die Tafel hin. Es entstand ein Lärm, dass der Kanarienvogel aufwachte und seinen Gesang mit hineinschmetterte, aber nur in Versen. Die beiden einzigen, welche sich nicht von der Stelle bewegten, waren der Zinnsoldat und die kleine Tänzerin. Sie stand kerzengerade auf der Zehenspitze und hatte beide Arme erhoben; er war auf seinem einen Bein ebenso standhaft, nicht einen Augenblick wandte er seine Augen von ihr ab.
Jetzt schlug es Mitternacht und klatsch! sprang der Deckel von der Schnupftabaksdose, aber nicht etwa Schnupftabak war darin, nein, sondern ein kleiner schwarzer Kobold; das war ein Kunststück.
"Zinnsoldat!" sagte der Kobold "du wirst dir noch die
Augen aussehen!"
Aber der Zinnsoldat tat, als ob er es nicht hörte. "Ja, warte nur bis morgen!" sagte der Kobold.
Als es nun Morgen ward und die Kinder aufstanden, wurde der Zinnsoldat in das offene Fenster gestellt, und war es nun der Kobold oder ein Zugwind, gleichviel, plötzlich flog das Fenster auf, und der Soldat fiel aus dem dritten Stockwerk hinunter. Das war ein schrecklicher Sturz, er streckte sein eines Bein gerade in die Luft und blieb auf dem Helm, das Bajonett nach unten, zwischen den Pflastersteinen stecken.
Die Dienstmagd und der kleine Knabe liefen sogleich hinunter, um ihn zu suchen; aber obgleich sie beinahe auf ihn getreten wären, konnten sie ihn doch nicht erblicken. Hätte der Zinnsoldat gerufen: "Hier bin ich", so würden sie ihn gewiss gefunden haben, da er aber in Uniform war, hielt er es nicht für passend, so laut zu schreien.
Nun begann es zu regnen; Tropfen folgte auf Tropfen, bis es ein tüchtiger Platzregen wurde; als er vorüber war, kamen zwei Straßenjungen dorthin.
"Sieh, sieh!", sagte der eine, "da liegt ein Zinnsoldat, der muss hinaus und segeln!"
Nun machten sie ein Boot aus Zeitungspapier, setzten den Zinnsoldaten mitten hinein und ließen ihn den Rinnstein hinuntersegeln. Beide Knaben liefen nebenher und klatschten in die Hände. Hilf, Himmel, was für Wellen erhoben sich in dem Rinnstein, und welch reißender Strom war da! Ja, Es musste der Regen stromweise hernieder gerauscht sein. Das Papierboot schwankte auf und nieder und bisweilen drehte es sich im Kreise, dass den Zinnsoldaten ein Schauer überlief. Trotzdem blieb er standhaft, verfärbte sich nicht, sah nur vorwärts und behielt das Gewehr im Arm.
Plötzlich trieb das Boot unter eine lange Rinnsteinbrücke; hier herrschte eine gleiche Finsternis wie in seiner Schachtel.
"Wo mag ich jetzt nur hinkommen?", dachte er. "Ja, ja, das ist des Kobolds Schuld! Ach, säße doch das kleine Mädchen hier im Boote, dann könnte es getrost noch einmal so finster sein."
In diesem Augenblicke erschien eine große Wasserratte, welche unter der Rinnsteinbrücke ihre Wohnung hatte.
"Hast du einen Pass?" fragte die Ratte. "Her mit dem Passe!"
Aber der Zinnsoldat schwieg still und hielt sein Gewehr nur noch fester. Das Boot fuhr weiter und die Ratte hinterher. Hu! wie sie mit den Zähnen knirschte und den Spänen und dem Stroh zurief: "Haltet ihn auf, haltet ihn auf! Er hat keinen Zoll bezahlt, er hat seinen Pass nicht vorgezeigt.
Aber die Strömung wurde stärker und stärker; der Zinnsoldat konnte, schon ehe er das Ende der Rinnsteinbrücke erreichte, den hellen Tag erblicken, aber er hörte zugleich einen brausenden Ton, der auch eines tapferen Mannes Herz erschrecken konnte. Denkt euch, das Wasser im Rinnstein stürzte am Ende der Brücke gerade in einen großen Kanal hinab, was dem Zinnsoldaten gleiche Gefahr bringen musste, wie wenn wir einen großen Wasserfall hinunter segeln wollten.
Er war jetzt schon so nahe dabei, dass er nicht mehr anzuhalten vermochte. Das Boot fuhr hinab, der arme Zinnsoldat hielt sich, so gut es gehen wollte, aufrecht. Niemand sollte ihm nachsagen können, dass er auch nur mit den Augen geblinkt hätte. Das Boot drehte sich drei·, viermal um sich selbst und füllte sich dabei bis zum Rande mit Wasser, es musste sinken. Der Zinnsoldat stand bis zum Halse im Wasser, und tiefer und tiefer sank das Boot. Mehr und mehr löste sich das Papier auf; jetzt ging das Wasser schon über des Soldaten Haupt, - da dachte er an die kleine, niedliche Tänzerin, die er nie mehr erblicken sollte; und es klang vor des Zinnsoldaten Ohren:
"Morgenrot, Morgenrot, leuchtest mir zum frühen Tod!"
Nun zerriss das Papier, und der Zinnsoldat fiel hindurch, wurde aber in demselben Augenblick von einem großen Fisch verschlungen.
Nein, wie finster war es da drinnen; da war es noch schlimmer als unter der Rinnsteinbrücke, und vor allen Dingen so eng. Gleichwohl war der Zinnsoldat standhaft und lag, so lang er war, mit dem Gewehr im Arme.
Der Fisch fuhr umher und machte die entsetzlichsten Bewegungen; endlich wurde er ganz still, und wie ein Blitzstrahl fuhr es durch ihn hin. Dann drang ein heller Lichtglanz hinein und jemand rief laut: "Der Zinnsoldat!" Der Fisch war gefangen worden, auf den Markt gebracht, verkauft und in die Küche hinaufgekommen, wo ihn die Magd mit einem langen Messer aufschnitt. Sie fasste den Soldaten mitten um den Leib und trug ihn in die Stube hinein, wo sämtliche einen so merkwürdigen Mann sehen wollten, der im Magen eines Fisches umhergereist war; der Zinnsoldat war jedoch darauf gar nicht stolz. Man stellte ihn auf den Tisch, und da - nein, wie wunderlich kann es doch in der Welt zugehen - befand sich der Zinnsoldat in der nämlichen Stube, in der er vorher gewesen war, er sah die nämlichen Kinder, und das nämliche Spielzeug stand auf dem Tische: das herrliche Schloss mit der niedlichen, kleinen Tänzerin. Sie hielt sich immer noch auf dem einen Bein und hatte das andere hoch in der Luft, sie war ebenfalls standhaft. Das rührte den Zinnsoldaten so, dass er beinahe Zinn geweint hätte, aber das schickte sich nicht. Er sah sie und sie sah ihn an, aber sie sagten einander nichts.
Plötzlich ergriff der eine der kleinen Knaben den Zinnsoldaten und warf ihn in den Ofen, obwohl er gar keinen Grund dazu hatte. Sicherlich trug der Kobold in der Dose die Schuld daran.
Der Zinnsoldat stand ganz beleuchtet da und fühlte eine erschreckliche Hitze, ob sie aber die Folge des Feuers oder seiner übergroßen Liebesglut war, das konnte er nicht unterscheiden. Alle Farbe war von ihm gewichen; ob dies auf der Reise geschehen oder ob es von seinem tiefen Gram herrührte, weiß niemand zu sagen. Er sah das kleine Mädchen an, und dies sah ihn an. Er fühlte, dass er schmelze, aber noch stand er standhaft mit dem Gewehr im Arm. Da ging eine Tür auf, der Wind ergriff die Tänzerin und sie flog wie eine Sylphide ebenfalls gerade in den Kachelofen zum Zinnsoldaten hin, loderte in hellen Flammen auf und war verschwunden. Da schmolz der Zinnsoldat zu einem Klumpen zusammen, und als die Magd am nächsten Tage die Asche herausnahm, fand sie ihn als ein kleines Zinnherz. Von der Tänzerin war dagegen nur der Stern übrig, und der war kohlschwarz gebrannt.

Der Buchweizen

Häufig, wenn man nach einem Gewitter an einem Acker vorübergeht, auf dem Buchweizen wächst, sieht man, dass er ganz schwarz geworden und abgesengt ist; es ist gerade, als ob eine Feuerflamme über denselben hingefahren wäre, und der Landmann sagt dann: "Das hat er vom Blitz bekommen!"
Aber warum bekam er das?
Ich will erzählen, was der Sperling mir gesagt hat, und der Sperling hat es von einem alten Weidenbaume gehört, welcher bei einem Buchweizenfelde steht. Es ist ein ehrwürdiger großer Weidenbaum, aber verkrüppelt und alt, er ist in der Mitte geborsten, und es wachsen Gras und Brombeerranken aus der Spalte hervor; der Baum neigt sich vornüber, und die Zweige hängen ganz auf die Erde hinunter, gerade als ob sie ein langes grünes Haar bildeten.
Auf allen Feldern ringsumher wuchs Korn, sowohl Roggen und Gerste wie Hafer, ja, der herrliche Hafer, der da, wenn er reif ist, gerade wie eine Menge kleiner gelber Kanarienvögel auf seinem Zweige aussieht. Das Korn stand gesegnet, und je schwerer es war, desto tiefer neigte es sich in frommer Demut.
Aber da war auch ein Feld mit Buchweizen, und dieses Feld war dem alten Weidenbaume gerade gegenüber. Der Buchweizen neigte sich durchaus nicht wie das übrige Korn, sondern prangte stolz und steif.
"Ich bin wohl so reich wie die Ähre", sagte er, "überdies bin ich weit hübscher; meine Blumen sind schön wie die Blüten des Apfelbaums, es ist eine Freude, auf mich und die Meinigen zu blicken! Kennst du etwas Prächtigeres als uns, du alter Weidenbaum?"
Der Weidenbaum nickte mit dem Kopfe, gerade als ob er damit sagen wollte: "Ja freilich!" Aber der Buchweizen spreizte sich aus lauter Hochmut und sagte: "Der dumme Baum, er ist so alt, dass ihm Gras im Leibe wächst!"
Nun zog ein schrecklich böses Gewitter auf; alle Feldblumen falteten ihre Blätter zusammen oder neigten ihre kleinen Köpfe herab, während der Sturm über sie dahinfuhr; aber der Buchweizen prangte in seinem Stolze.
"Neige dein Haupt wie wir", sagten die Blumen.
"Das ist durchaus nicht nötig", erwiderte der Buchweizen. "Senke dein Haupt wie wir!", rief das Korn. "Nun kommt der Engel des Sturmes geflogen! Er hat Schwingen, die oben von den Wolken bis gerade herunter zur Erde reichen, und er schlägt dich mitten durch, bevor du bitten kannst, er möge dir gnädig sein!"
"Aber ich will mich nicht beugen!", sagte der Buchweizen. "Schließe deine Blumen und neige deine Blätter!", sagte der alte Weidenbaum. "Sieh nicht zum Blitze empor, wenn die Wolke berstet; selbst die Menschen dürfen das nicht, denn im Blitze kann man in Gottes Himmel hineinsehen; aber dieser Anblick kann selbst die Menschen blenden. Was würde erst uns, den Gewächsen der Erde, geschehen, wenn wir es wagten, welche doch weit geringer sind!"
"Weit geringer?", sagte der Buchweizen. "Nun will ich gerade in Gottes Himmel hineinsehen!" Und er tat es in seinem Obermut und Stolz. Es war, als ob die ganze Welt in Flammen stünde, so blitzte es.
Als das böse Wetter vorbei war, standen die Blumen und das Korn in der stillen reinen Luft erfrischt vom Regen, aber der Buchweizen war vom Blitz kohlschwarz gebrannt; er war nun ein totes Unkraut auf dem Felde.
Der alte Weidenbaum bewegte seine Zweige im Winde, und es fielen große Wassertropfen von den grünen Blättern, gerade als ob der Baum weine, und die Sperlinge fragten: "Weshalb weinst du? Hier ist es ja so gesegnet! Sieh, wie die Sonne scheint, sieh, wie die Wolken ziehen! Kannst du den Duft von Blumen und Büschen bemerken? Warum weinst du, alter Weidenbaum?"
Und der Weidenbaum erzählte vom Stolze des Buchweizens, von seinem Obermute und der Strafe, die immer darauf folgt. Ich, der die Geschichte erzählte, habe sie von den Sperlingen gehört. Sie erzählten sie mir eines Abends, als ich um ein Märchen bat.

Die Kröte

Der Brunnen war tief, darum war das Seil lang; die Winde drehte sich schwer, wenn man den Eimer, mit Wasser gefüllt, über die Brunnenkante hinauf heben musste. So klar das Wasser auch war, die Sonne drang doch niemals so weit in den Brunnen hinab, dass sie sich im Wasser spiegeln konnte, aber soweit ihr Schein reichte, wuchs Grün zwischen den Steinen der Brunnenwände hervor.
Da unten wohnte eine Familie vom Krötengeschlecht; sie war eigentlich kopfüber hinunter geraten durch die alte Krötenmutter, die noch lebte. Die grünen Frösche, die weit früher hier zu Hause waren und im Wasser umher schwammen, erkannten die Verwandtschaft an und nannten sie die ,Brunnengäste'. Die aber hatten wahrscheinlich die Absicht, für immer dazubleiben; denn sie lebten hier sehr behaglich auf dem Trockenen, wie sie die nassen Steine nannten.
Die Froschmutter war einmal verreist, sie war im Wassereimer gewesen, als dieser aufwärts ging, aber es wurde ihr zu hell, sie bekam Augenschmerzen, und glücklicherweise gelangte sie wieder aus dem Eimer heraus; sie fiel mit einem entsetzlichen Plump ins Wasser und lag nachher drei Tage lang krank an Rückenschmerzen. Von der Welt oberhalb konnte sie also nicht viel erzählen, aber so viel wusste sie, und so viel wussten sie alle, dass der Brunnen nicht die ganze Welt wäre. Die Krötenmutter hätte zwar dieses und jenes erzählen können, aber sie antwortete niemals, wenn man sie fragte, und so fragte man nicht mehr.
"Dick, fett und hässlich ist sie", sagten die jungen, grünen Frösche.
"Ihre Jungen werden später einmal ebenso hässlich werden!"
"Das mag sein!" sagte die Krötenmutter, "aber eins hat in seinem Kopf einen Edelstein, oder ich habe ihn selbst!
Die grünen Frösche horchten und glotzten, und weil ihnen irgendetwas daran nicht zu passen schien, so schnitten sie Grimassen und gingen in die Tiefe. Aber die Krötenjungen streckten die Hinterbeine aus vor lauter Stolz, denn jedes glaubte, den Edelstein zu haben; und immer saßen sie mit dem Kopf ganz still, aber endlich fragten sie, was das bedeute, worauf sie so stolz waren, und was für ein Ding so ein Edelstein eigentlich wäre.
"Das ist etwas so Herrliches und Kostbares, dass ich es gar nicht beschreiben kann!" sagte die Krötenmutter. "Es ist etwas, womit man zu seinem eigenen Vergnügen umhergeht und worüber die andern sich ärgern. Aber fragt nicht, ich antworte nicht!"
"Aber, ich habe den Edelstein nicht!" sagte die kleinste Kröte; sie war so hässlich, wie nur eine sein kann. "Warum sollte gerade ich eine solche Kostbarkeit haben? Und wenn sie andere ärgert, so kann ich mich ja nicht darüber freuen! Nein, ich wünsche nur, dass ich einmal bis an den Brunnenrand hinaufkommen und hinausschauen könnte; das muss herrlich sein!"
"Bleibe du lieber, wo du bist!" sagte die Alte, "hier kennst du alles und weißt, was du hast! Nimm dich in acht vor dem Eimer, der zerdrückt dich; und kommst du auch wohlbehalten hinein, so könntest du herausfallen; nicht alle fallen so glücklich wie ich und kommen mit ganzen Gliedmaßen und ganzen Eiern davon!"
"Quak!" sagte die Kleine, gerade so, wie wenn wir Menschen ,Ach!' sagen.
Sie hatte ein zu großes Verlangen, bis zur Brunnenkante hinauf zu gelangen und da auszuschauen; sie fühlte eine zu große Sehnsucht nach dem Grünen da oben! Als am nächsten Morgen zufällig der mit Wasser gefüllte Eimer aufgewunden wurde und einen Augenblick unterwegs gerade vor dem Steine anhielt, auf dem die Kröte saß, durchzuckte sie es so seltsam, und sie sprang in den gefüllten Eimer, der nun vollends hinaufgewunden und ausgegossen wurde.
"Pfui Teufel!", sagte der Knecht, der den Eimer ausgoss und die Kröte sah. "So was Hässliches habe ich lange nicht gesehen!" Und mit seinem Holzschuh stieß er nach der Kröte, die beinahe zerquetscht worden wäre, sich aber doch in die hohen Nesseln hinein rettete, die am Brunnen standen. Hier sah sie Stiel an Stiel stehen, sie schaute aber auch aufwärts!
Die Sonne schien auf die Blätter, die ganz durchsichtig waren; ihr war zumute wie uns Menschen, wenn wir auf einmal in einen großen Wald treten, wo die Sonne durch Zweige und Blätter scheint.
"Hier ist es viel schöner als unten im Brunnen! Hier möchte man sein Leben lang bleiben!", sagte die kleine Kröte. Sie blieb darum eine Stunde, sie blieb zwei Stunden liegen. „Was wohl draußen sein mag? Bin ich so weit gekommen, muss ich auch versuchen, noch weiter zu kommen!"
Sie kroch, so schnell sie kriechen konnte, und gelangte auf die Landstraße hinaus, wo die Sonne sie beschien und der Staub sie puderte, als sie quer über die Straße marschierte.
"Hier ist man richtig aufs Trockene gelangt!" sagte die Kröte, "es ist beinahe zuviel des Guten, es kribbelt mich wirklich."
Sie erreichte den Graben; da wuchsen Vergissmeinnicht und Labkraut, ganz in der Nähe war eine Hecke von Weißdorn, und auch Holunder wuchs da und Schlingpflanzen mit weißen Blüten; hier waren prächtige Farben zu sehen; auch ein Schmetterling flog da umher! Die Kröte meinte, es wäre eine Blume, die sich losgerissen hatte, damit sie sich besser in der Welt umschauen konnte; das wäre ja ganz natürlich.
"Wenn man so eine Reise machen könnte wie die!" sagte die Kröte. "Quak! Ach! Was für ein Vergnügen!"
Sie blieb acht Nächte und Tage am Graben und hatte keinen Mangel an Nahrung. Am neunten Tage dachte sie: ,Vorwärts, weiter!' - Aber was könnte sie Herrlicheres und Schöneres finden? Vielleicht eine kleine Kröte oder ein paar grüne Frösche. Es hatte die letzte Nacht gerade so im Winde geläutet, als wären ,Vettern' in der Nähe.
"Das Leben ist schön! Schön ist's, aus dem Brunnen herauszukommen, in Brennnesseln zu liegen, auf dem staubigen Wege zu kriechen! Aber weiter, vorwärts, um Frösche oder eine kleine Kröte zu finden, das ist nicht gut zu entbehren, die Natur ist einem nicht genug!" Damit ging sie wieder auf die Wanderung.
Sie gelangte auf das Feld und an einen großen Teich, der mit Schilf umwachsen war; sie platschte hinein.
"Hier wird's Ihnen wohl zu nass sein!" sagten die Frösche; "aber Sie sind sehr willkommen! Sind Sie ein Er oder eine Sie! Es tut nichts zur Sache, Sie sind gleich willkommen!"
Und nun wurde sie abends zum Konzert, zum Familienkonzert eingeladen. Große Begeisterung und sehr dünne Stimmen; das kennen wir. Bewirtung fand nicht statt, nur freies Getränk gab es, nämlich den ganzen Teich.
"Jetzt reise ich weiter!" sagte die kleine Kröte; sie fühlte immer den Drang zu etwas Besserem.
Sie sah die Sterne blitzen, so groß, so hell, sah die Mondsichel leuchten, sah die Sonne aufgehen, immer höher und höher steigen.
"Ich bin am Ende noch immer im Brunnen, in einem größeren Brunnen, ich muss höher hinauf! Ich habe eine große Unruhe und Sehnsucht!" Und als der Mond voll und rund wurde, dachte das armselige Tier: ,Ob das wohl der Eimer ist, der herabgelassen wird und in den ich hineinspringen muss, um höher hinauf zu gelangen? Oder ist die Sonne der große Eimer? Wie der groß ist, wie der strahlend ist, er kann uns alle aufnehmen! Ich muss aufpassen, dass ich die Gelegenheit nicht versäume! Oh, wie es in meinem Kopf leuchtet! Ich glaube, der Edelstein kann nicht schöner leuchten! Aber den habe ich nicht, und darum gräme ich mich auch nicht, nein, höher hinauf in Glanz und Freude! Ich habe Zuversicht und doch Furcht - es ist ein schwerer Schritt, aber ich muss ihn tun! Vorwärts! Immer geradeaus, auf den Weg!'
Sie machte einige Schritte, so gut wie ein Kriechtier eben schreiten kann, und befand sich bald auf einer Landstraße, an der Menschen wohnten; hier waren Blumengärten und auch Kohlgärten. Sie ruhte an einem Kohlgarten aus.
"Wie viele verschiedene Geschöpfe gibt es doch, die ich nie gekannt habe! Und wie ist die Welt so groß und schön! Aber man muss sich auch in der Welt umsehen und nicht auf einem Fleck sitzenbleiben. " Und sie hüpfte kurz entschlossen in den Kohlgarten hinein. "Wie grün ist es hier, wie schön ist es hier!"
"Das weiß ich schon!" sagte die Kohlraupe auf dem Blatte. "Mein Blatt ist das größte hier! Es verdeckt die halbe Welt, aber die kann ich entbehren!"
"Gluck! Gluck!" sagte es, und Hühner kamen heran; sie trippelten im Kohlgarten umher. Das Huhn, das voranging, war weitsichtig, es erblickte die Raupe auf dem krausen Blatte und schnappte nach ihr, so dass sie auf die Erde fiel, wo sie sich krümmte und wand. Das Huhn betrachtete sie erst mit dem einen Auge, dann mit dem andern, denn es wusste nicht, was daraus werden würde.
,Sie tut es nicht gutwillig!', dachte das Huhn und hob den Kopf, um nach ihr zu schnappen. Die Kröte entsetzte sich so darüber, dass sie gerade auf das Huhn zukroch.
"Also die hat Hilfstruppen!", sagte das Huhn. "Sieh mal das Gekrabbel an!" Und damit drehte es sich um. "Ich mache mir nichts aus dem kleinen grünen Bissen, er könnte höchstens im Hals kitzeln!" Die anderen Hühner waren derselben Ansicht, und sie kehrten nun alle um.
"Ich wand mich von ihm los!" sagte die Raupe; "es ist gut, wenn man Geistesgegenwart besitzt; aber das Schwerste bleibt noch übrig: wieder auf mein Kohlblatt zu kommen. Wo ist das?"
Und die kleine Kröte kam heran und äußerte ihre Teilnahme. Sie freute sich, dass ihre Hässlichkeit die Hühner erschreckt hatte.
"Was meinen Sie damit?" fragte die Raupe. "Ich wand mich ja selbst von dem Huhne los. Sie sind sehr unangenehm anzusehen! Darf ich wohl auf meinem Eigentum in Ruhe bleiben? Jetzt rieche ich Kohl! Jetzt bin ich an meinem Blatte! Nichts ist so schön wie Eigentum. Aber ich muss höher hinauf!" .
"Ja, höher hinauf!" sagte die kleine Kröte, "höher hinauf! Sie fühlt gerade wie ich! Aber sie ist heute nicht guter Laune, das kommt von dem Schrecken. Alle wollen wir höher hinauf!" Und sie sah so hoch hinauf, wie sie konnte.
Der Storch saß in seinem Nest auf dem Dache des Bauernhauses; er klapperte, und die Storchmutter klapperte auch.
,Wie die hoch wohnen!', dachte die Kröte. ,Wer da hinauf könnte!' In dem Bauernhause wohnten zwei junge Studenten; der eine war Dichter, der andere Naturforscher; der eine sang und schrieb in Freude von allem, was Gott geschaffen hatte, und wie es sich in seinem Herzen spiegelte; er sang es heraus, kurz, klar und reich in klangvollen Versen; der andere griff das Ding selbst an, ja schnitt es auf, wenn es sein musste. Er betrachtete die Schöpfung Gottes als ein großes Rechenexempel, subtrahierte, multiplizierte und wollte es in- und auswendig kennen, mit Verstand darüber reden; und das war echter Verstand, und er sprach in Freude und mit Klugheit davon. Es waren gute, fröhliche Menschen, die beiden.
"Da sitzt ja ein treffliches Exemplar von einer Kröte!", sagte der Naturforscher; "das muss ich in Spiritus haben!"
"Du hast ja schon zwei andere!" sagte der Dichter; "lass die in Ruhe sitzen und sich des Lebens freuen!"
"Aber sie ist so wunderbar hässlich!" sagte der andere.
"Ja, wenn wir den Edelstein in ihrem Kopfe finden könnten", meinte der Dichter, "dann würde ich selbst mit dabei sein, sie aufzuschneiden."
"Edelstein!" sagte der andere, "du scheinst dich gut auf die Naturgeschichte zu verstehen!"
"Aber liegt nicht gerade etwas Schönes in dem Volksglauben, dass die Kröte, das hässlichste Tier, oft den köstlichsten Edelstein in ihrem Kopfe trägt?! Geht es nicht gerade so mit dem Menschen? Welch einen Edelstein hatte nicht Äsop und vollends Sokrates? -"
Mehr hörte die Kröte nicht, und sie begriff nicht die Hälfte. Die beiden Freunde schritten weiter, und sie entging dem Schicksal, in Spiritus zu kommen.
"Die bei den sprachen auch von dem Edelstein!", sagte die Kröte. "Wie ·gut, dass ich ihn nicht habe! Ich hätte sonst Unannehmlichkeiten haben können."
Nun klapperte es auf dem Dach des Bauernhauses; Storchvater hielt Vortrag für die Familie, und diese schielte auf die zwei jungen Menschen im Kohlgarten hinab.
"Der Mensch ist die eingebildetste Kreatur!", sagte der Storch. "Hört, wie der Klapperschnabel ihnen geht, und dabei können sie doch nicht ordentlich klappern. Sie sind stolz auf ihre Rednergabe und ihre Sprache! Das ist mir eine schöne Sprache: Sie geht ins Unverständliche über bei jeder Tagesreise, die wir machen; der eine versteht den anderen nicht. Unsere Sprache können wir überall auf der ganzen Erde sprechen, in Dänemark und in Ägypten. Fliegen können die Menschen auch nicht! Sie schießen dahin durch eine Erfindung, die sie ,Eisenbahn' nennen, aber sie brechen auch oft den Hals dabei. Es läuft mir kalt über den Schnabel, wenn ich daran denke! Die Welt kann ohne Menschen bestehen. Wir können sie entbehren! Wenn wir nur Frösche und· Regenwürmer behalten!"
,Das war doch eine gewaltige Rede!' dachte die kleine Kröte. "Was für ein großer Mann ist das, und wie hoch wohnt er, so hoch, wie ich noch niemand habe wohnen sehen! Und wie er schwimmen kann!" rief sie, als der Storch mit ausgebreiteten Flügeln durch die Luft dahinfuhr.
Und Storchmutter sprach im Neste, erzählte von Ägypten, von den Gewässern des Nils und von dem unvergleichlichen Schlamme, der im fremden Lande war; es klang der kleinen Kröte ganz neu und reizend.
"Ich muss nach Ägypten!" sagte sie. "Wenn nur der Storch oder eins seiner Jungen mich mitnehmen wollte. Ich würde ihm wieder gefällig sein. Ja, ich werde nach Ägypten kommen, denn ich bin so glücklich! All die Sehnsucht und all die Lust, die ich habe, ist wirklich besser als ein Edelstein im Kopf!"
Und doch besaß gerade sie den Edelstein: die ewige Sehnsucht und Lust nach aufwärts, immer nach aufwärts! Es leuchtete drinnen im Kopfe, leuchtete in Freude, strahlte in Lust.
Da kam plötzlich der Storch heran, der hatte die Kröte im Grase gesehen, fuhr nieder und fasste das kleine Tier eben nicht sanft an. Der Schnabel drückte, der Wind sauste, es war nicht angenehm, aber aufwärts ging es, aufwärts nach Ägypten, das wusste sie; und darum blitzten die Augen, es war, als sprühe ein Funken aus ihnen hervor.
"Quak! Ach!"
Der Körper war tot, die Kröte war getötet. Aber der Funken aus ihren Augen, wo blieb der?
Der Sonnenstrahl nahm ihn mit, der Sonnenstrahl trug den Edelstein vom Kopfe der Kröte. Wohin?
Frage nicht den Naturforscher, frage lieber den Dichter; er erzählt es dir wie ein Märchen; und die Kohlraupe und die Storchfamilie ist mit darin. Denke! Die Raupe wird verwandelt und wird ein schöner Schmetterling! Die Storchfamilie fliegt über Berge und Meere nach dem fernen Afrika und findet doch den nächsten Weg zurück nach Hause, nach demselben Lande, demselben Dache! Ja, das ist wirklich fast gar zu abenteuerlich, und doch ist es wahr; du kannst sogar den Naturforscher fragen, er muss es zugestehn; und du selbst weißt es auch, denn du hast es gesehen.
Aber der Edelstein im Kopfe der Kröte?
Suche ihn in der Sonne! Blicke ihn an, wenn du kannst!
Der Glanz da ist zu stark. Wir haben noch nicht die Augen, um in die Herrlichkeit hineinschauen zu können, die Gott geschaffen hat, aber wir werden sie einmal bekommen, und das wird das schönste Märchen sein, denn wir selbst sind mit darin.

Das Feuerzeug

Ein Soldat kam auf der Landstraße dahermarschiert. Er trug einen Tornister und einen Säbel, weil er im Kriege gewesen war. Da begegnete er einer alten Hexe, die entsetzlich hässlich war.
Sie sagte: "Guten Abend, Soldat! Was für einen schönen Säbel und großen Tornister du doch hast! Du bist ein wahrer Soldat!"
"Schönen Dank, alte Hexe", sagte der Soldat.
"Siehst du dort den Baum?" fragte die Hexe. "Er ist innen hohl. Wenn du ihn bis zum Gipfel ersteigst, erblickst du ein Loch, durch das du hinab gleiten und bis tief in den Baum hinunter kommen kannst. Ich werde dir einen Strick um den Leib binden, um dich wieder heraufziehen zu können, sobald du mich rufst!"
"Was soll ich denn da unten in dem Baume?" fragte der Soldat ganz verwundert.
"Geld holen!" sagte die Hexe. "Du musst wissen, sobald du auf den Boden des Baumes hinunter kommst, befindest du dich in einem langen Gange, in dem es ganz hell ist, weil dort viele hundert Lampen brennen. Du gewahrst drei Türen, die du öffnen kannst, die Schlüssel stecken darin. Gehst du in die erste Kammer hinein, so erblickst du mitten auf dem Fußboden eine große Kiste, auf der ein Hund sitzt. Er hat Augen so groß wie Gänseeier, aber darum darfst du dich nicht kümmern!"
Ich gebe dir meine blau karierte Schürze, die kannst du auf dem Fußboden ausbreiten; packe dann den Hund, setze ihn auf meine Schürze, öffne die Kiste und nimm, so viel Geld du haben willst. Es ist lauter Kupfer. Willst du aber lieber Silber, so musst du in das nächste Zimmer eintreten; dort sitzt ein Hund, der Augen hat so groß wie Mühlräder. Aber darum brauchst du dich nicht zu kümmern. Setze ihn nur auf meine Schürze und nimm dir von dem Gelde. Willst du dagegen Gold haben, so kannst du es auch bekommen, so viel du nur zu tragen vermagst, wenn du in die dritte Kammer hineingehst. Allein der Hund, der hier auf der Geldkiste sitzt, hat Augen, jedes so groß wie ein runder Turm. Aber auch darum brauchst du dich nicht zu kümmern, setze ihn nur auf meine Schürze, so tut er dir nichts, und nimm aus der Kiste so viel Gold du magst."
"Nicht übel", sagte der Soldat. "Aber du willst doch auch etwas von dem Gelde haben?"
"Nein", antwortete diese, nicht einen Pfennig. Hole mir nur das alte Feuerzeug, das meine Großmutter vergaß, als sie das letzte Mal unten war."
"Gut", sagte der Soldat, "knüpfe mir dann den Strick um den Leib." "Hier ist er", sagte die Hexe, "und hier ist meine blau karierte Schürze!"
So kletterte denn der Soldat den Baum hinauf, glitt dann durch das Loch hinunter und stand nun in dem großen Gange, wo die vielen hundert Lampen brannten. Dann öffnete er die erste Türe. Uh! da saß der Hund mit den Augen so groß wie Gänseeier und glotzte ihn an.
Der beherzte Soldat setzte ihn sogleich auf die Schürze der Hexe und füllte seine Taschen mit Kupfergeld, verschloss die Kiste, setzte den Hund wieder hinauf und ging in das andere Zimmer. Potztausend, da saß der Hund mit Augen so groß wie Mühlräder.
"Glotz' mich nicht so an", sagte der Soldat und setzte den Hund auf die Schürze. Als er das viele Silbergeld sah, warf er alles Kupfergeld fort und füllte sich die Taschen und den Tornister mit Silber. Dann ging er in die dritte Kammer, wo der Hund war mit Augen so, groß wie ein runder Turm.
"Guten Abend", sagte der Soldat, hob den Hund herunter und öffnete die Kiste. Was sah er da für eine Menge Gold! Man hätte ganz Kopenhagen und die Zuckerferkel, Zinnsoldaten, Peitschen und Schaukelpferde der ganzen Welt dafür kaufen können. Nun warf der Soldat alles Silbergeld, womit er seine Taschen und seinen Tornister gefüllt hatte, fort und nahm stattdessen Gold, ja alle Taschen, der Tornister, der Tschako und die Stiefel wurden angefüllt, so dass er kaum gehen konnte. Nun hatte er Geld! Den Hund setzte er auf die Kiste, schlug die Türe zu und rief dann durch den Baum hinauf: "Zieh mich nun empor, alte Hexe!"
"Hast du denn auch das Feuerzeug?" fragte die Hexe.
"Wahrhaftig", sagte der Soldat, "das hatte ich rein vergessen." Und er ging hin und nahm es. Die Hexe zog ihn rasch empor, und wie er wieder vom Baume herabstieg, da purzelten Goldstücke nur so aus den Taschen, Stiefeln und Tornister, so voll waren sie bis obenan.
"Was willst du denn mit dem Feuerzeug?" fragte der Soldat, als er wieder auf den Beinen stand.
"Das geht dich nichts an!" sagte die Hexe, "du hast ja Geld bekommen, gib mir jetzt das Feuerzeug."
"Larifari!" sagte der Soldat, "gleich sagst du mir, was du damit willst, oder ich ziehe meinen Säbel und dann soll es dir schlecht bekommen!"
"Nein!" sagte die Hexe.
Da wollte der Soldat mit dem Säbel nach ihr schlagen, aber ehe es dazu kam, lag sie schon mausetot da. Er aber band all sein Geld in die Schürze, nahm diese wie ein Bündel auf den Rücken, steckte das Feuerzeug in die Tasche und ging geradeswegs nach der Stadt.
Im besten Wirtshaus kehrte er ein, verlangte die besten Speisen und wohnte in den schönsten Zimmern, denn aus dem armen Soldaten war nun ein vornehmer Herr geworden. Man erzählte ihm von allen Herrlichkeiten der Stadt und von dem König, und wie reizend seine Tochter, die Prinzessin, sei.
„Wo kann man sie zu sehen bekommen?“, fragte der Soldat.
„Niemand darf sie sehen“, war die Antwort. „Sie wohnt in einem großen kupfernen Schlosse, ringsum durch viele Mauern und Türme geschützt. Niemand außer dem König darf bei ihr aus- und eingehen, weil geweissagt ist, dass sie mit einem gemeinen Soldaten verheiratet werden wird, und das kann der König nicht dulden.“
„Ich möchte sie wohl sehen!“, dachte der Soldat, aber dazu bekam er ja keine Erlaubnis.
Nun lebte er lustig in den Tag hinein. Da er aber fortwährend nur Geld ausgab und nie etwas einnahm, so hatte er zuletzt zwei Pfennig übrig und musste aus den prächtigen Zimmern, die er bisher bewohnt hatte, in ein gar ärmliches Stübchen unterm Dach ziehen; musste sich seine Stiefel selbst bürsten und seine zerrissenen Kleider mit einer Stopfnadel selbst zusammen nähen, und keiner seiner Freunde kam zu ihm, weil man so viele Treppen zu ihm hinaufzusteigen hatte.
Einst war ein ganz dunkler Abend und er konnte sich nicht einmal ein Licht kaufen. Da erinnerte er sich plötzlich, dass sich noch ein Lichtstumpf in dem Feuerzeug befinden musste, das er aus dem hohlen Baume mitgenommen hatte. Er holte das Feuerzeug; aber als er Feuer schlug, sprang die Tür auf, und der Hund mit den Augen wie Gänseeier stand vor ihm.
»Was befiehlt mein Herr?" fragte er. »Ei, das ist ein drolliges Feuerzeug!" rief der Soldat. »Schaffe mir Geld!" befahl er dem Hund, und - wips war er fort - wips – war er wieder da und hielt einen großen Beutel voll Geld in seiner Schnauze.
Nun wusste der Soldat, was das für ein prächtiges Feuerzeug war!
Schlug er einmal, so kam der Hund, der auf der Kiste mit dem Kupfergeld saß; schlug er zweimal, so kam der, welcher das Silbergeld, und schlug er dreimal, so kam der angerannt, der das Gold bewachte.
Da dachte er auch sogleich an die Prinzessin: »Es ist doch kurios, dass man sie nicht zu sehen bekommt! Sie soll so schön sein, behauptet jeder, aber was kann ihr das nützen, wenn sie immer in dem großen Kupferschloss sitzen muss. Kann ich sie denn gar nicht zu sehen bekommen? Halt: mein Feuerzeug!" Nun schlug er Feuer, und - wips kam der Hund mit Augen so groß wie Gänseeier.
»Es ist zwar mitten in der Nacht", sagte der Soldat, »aber ich möchte doch gar zu gern die Prinzessin sehen, nur einen kleinen Augenblick! Willst du sie mir verschaffen?"
Der Hund war gleich aus der Türe, und ehe es der Soldat dachte, sah er ihn schon mit der Prinzessin wieder. Sie saß und schlief auf des Hundes Rücken und war so schön, dass man sehen konnte, dass es eine wirkliche Prinzessin war. Der Soldat war ganz überglücklich und konnte sich nicht enthalten, sie zu küssen. Gleich darauf lief der Hund mit der Prinzessin wieder zurück.
Am anderen Morgen zog der Soldat wieder in die prächtigen Zimmer hinunter, zeigte sich in guten Kleidern, da erkannten ihn alle seine guten Freunde wieder und hielten natürlich große Stücke auf ihn.
Zu gleicher Zeit, als der König und die Königin beim Frühstück saßen, sagte die Prinzessin, sie hätte in der Nacht einen ganz wunderlichen Traum von einem Hund und einem Soldaten gehabt. Sie wäre auf dem Hunde geritten, und der Soldat hätte sie geküsst.
»Das wäre eine schöne Geschichte!" sagte die Königin.
Nun sollte eine der alten Hofdamen in der nächsten Nacht am Bette der Prinzessin wachen, um zu sehen, ob es ein wirklicher Traum wäre oder was es sonst sein könnte.
In der Nacht kam auch richtig der Hund, nahm die schöne Prinzessin und lief, was er laufen konnte, allein die alte Hofdame zog Wasserstiefel an und lief ebenso schnell hinterher. Als sie nun sah, dass sie in einem großen Hause verschwanden, dachte sie: »Nun weiß ich, wo es ist!" und zeichnete mit einem Stück Kreide ein großes Kreuz an die Tür. Darauf ging sie heim und legte sich nieder, und auch der Hund kam mit der Prinzessin wieder. Als er aber sah, dass ein Kreuz auf die Tür, wo der Soldat wohnte, gezeichnet war, nahm er ebenfalls ein Stück Kreide und machte auf allen Türen der ganzen Stadt Kreuze. Und das war klug getan, denn nun konnte ja die Hofdame die richtige Tür nicht finden, da an allen Kreuze waren.
Frühmorgens kam der König und die Königin, die alte Hofdame und alle Offiziere, um zu sehen, wo die Prinzessin gewesen war.
»Da ist es!" sagte der König, als er die erste, mit einem Kreuz bezeichnete Tür erblickte.
»Nein, dort ist es!" sagte die Königin, als sie die zweite Tür mit dem Kreuzzeichen bemerkte.
»Aber da ist eins und dort ist eins!" riefen sie alle. Wohin sie sahen, waren Kreuze an den Türen. Da sahen sie denn wohl ein, dass alles Suchen vergeblich wäre.
Aber die Königin war eine außerordentlich kluge Frau. Sie nähte einen kleinen Beutel, den füllte sie mit feiner Buchweizengrütze, band ihn der Prinzessin auf den Rücken und schnitt darauf ein kleines Loch in den Beutel, so dass die Grütze den ganzen Weg, den die Prinzessin passierte, bestreuen konnte.
Nachts kam der Hund wieder, nahm die Prinzessin auf seinen Rücken und lief mit ihr zu dem Soldaten, der so gern ein Prinz gewesen wäre, um sie heimführen zu können.
Der Hund merkte durchaus nicht, wie die Grütze über den ganzen Weg, vom Schlosse bis zu dem Fenster, wo er mit der Prinzessin die Mauer hinauflief, verstreut wurde. Nun sahen es des Morgens der König und die Königin deutlich, wo ihre Tochter des Nachts gewesen war, und da machten sie kurzen Prozess mit dem Soldaten und warfen ihn ins Gefängnis.
Ach, wie finster und langweilig war es darin! Man sagte ihm: "Morgen wirst du gehängt werden!" Das war just nicht vergnüglich zu hören, und dazu hatte er sein Feuerzeug daheim im Wirtshaus gelassen. Am Morgen konnte er durch das Eisengitter vor seinem kleinen Fenster sehen, wie das Volk aus der Stadt herbeieilte, ihn hängen zu sehen. Er hörte die Trommeln und sah die Soldaten marschieren. Alle Leute waren auf den Beinen. Dabei war auch ein Schusterjunge mit Schurzfell und Pantoffeln, der galoppierte so eilig, dass ihm ein Pantoffel abflog und gerade gegen die Mauer fiel, hinter der der Soldat saß und durch das Eisengitter hinausschaute.
"Hör' einmal, Schusterjunge! Du brauchst dich nicht so zu beeilen", sagte der Soldat zu ihm, "es wird doch nichts daraus bevor ich komme. Willst du aber in meine frühere Wohnung laufen und mir mein Feuerzeug holen, so sollst du vier Groschen bekommen. Aber lauf und nimm die Beine in die Hand!" Der Schusterjunge wollte gern das Geld haben und eilte pfeilgeschwind nach dem Feuerzeug, brachte es dem Soldaten und - ja nun werden wir es zu hören bekommen.
Außerhalb der Stadt war ein großer Galgen aufgebaut, ringsum standen die Soldaten und viele tausend Menschen. Der König und die Königin saßen auf einem prächtigen Throne, den Richtern und dem ganzen Rate gegenüber.
Schon stand der Soldat oben auf der Leiter. Als man ihm aber den Strick um den Hals legen wollte, bat er, man möge ihn doch noch eine Pfeife Tabak rauchen lassen.
Das wollte ihm nun der König nicht abschlagen, und so nahm der Soldat sein Feuerzeug und schlug Feuer, ein- zwei-, dreimal. Siehe, da standen alle Hunde da, der mit Augen so groß wie Gänseeier, der mit Augen wie Mühlräder, und der, welcher Augen hatte so groß wie ein runder Turm.
"Helft mir, dass ich nicht gehängt werde!" sagte der Soldat, und da stürzten sich die Hunde auf die Richter und den ganzen Rat, ergriffen den einen bei den Beinen, den anderen bei der Nase und warfen sie viele Klafter hoch in die Luft, so dass sie beim Niederfallen in kleine Stücke zerschlagen wurden.
"Ich will nicht!" sagte der König, aber der größte Hund nahm sowohl ihn wie die Königin und warf sie allen anderen nach. Da erschraken die Soldaten. Das Volk aber schrie: "Lieber Soldat, du sollst unser König sein und die schöne Prinzessin haben!"
Darauf setzte man den Soldaten in des Königs Karosse, und alle drei Hunde tanzten voran und riefen: "Hurra!" Die Jungen pfiffen auf den Fingern und die Soldaten präsentierten. Da kam die Prinzessin aus dem Schlosse und das Volk jubelte seiner neuen Königin zu. Die Hochzeit währte acht Tage. Die drei Hunde aber saßen mit an der Hochzeitstafel und machten große Augen.

Der Tannenbaum

Weit draußen im Walde stand ein niedlicher Tannenbaum. Er hatte einen guten Platz, die Sonne konnte zu ihm dringen, Luft war genug da, und rund umher wuchsen viele größere Kameraden, Tannen und Fichten. Aber der kleine Tannenbaum wollte nur immer wachsen und wachsen, er dachte nicht an den warmen Sonnenschein und die frische Luft und bekümmerte sich nicht um die Bauernkinder, wenn sie draußen im Wald umherschwärmten, um Erdbeeren und Himbeeren zu sammeln. Oftmals kamen sie mit einem ganzen Topfe voll oder hatten Erdbeeren auf Strohhalme gezogen.
Dann setzten sie sich neben das Bäumchen und sagten: "Ach, wie klein der ist!" Doch das gefiel dem Bäumchen nicht. Im nächsten Jahre war es schon um einen Schuh größer und aas Jahr darauf war es wieder um einen gewachsen; denn bei einem Tannenbaum kann man, sobald man zählt, wie oft er einen neuen Trieb angesetzt hat, genau die Jahre seines Wachstums berechnen.
"Oh, wäre ich doch ein so großer Baum wie die anderen!" seufzte das Bäumchen, "dann könnte ich meine Zweige weit ausbreiten und mit dem Gipfel in die weite Welt hinausschauen! Dann würden die Vögel ihre Nester zwischen meine Zweige bauen, und wenn es stürmte, könnte ich so vornehm nicken wie dort die anderen."
Weder der Sonnenschein, noch die Vögel, noch die roten Wolken, die morgens und abends über ihn segelten, machten ihm Freude.
War es nun Winter und Schnee lag blendend weiß ringsumher, dann kam oft ein Hase angesprungen und setzte gerade über das Bäumchen hinweg. Oh, das war empörend! Aber zwei Winter verstrichen und im dritten war der Baum schon so hoch, dass der Hase um ihn herumlaufen musste.
"Oh, wachsen, wachsen, groß und alt werden, das ist doch das einzig Schöne in der Welt!" dachte der Baum.
Im Spätherbst erschienen regelmäßig Holzhauer und fällten einige der größten Bäume. Das geschah jedes Jahr, und den jungen Tannenbaum, der nun schon tüchtig in die Höhe geschossen war, befiel Zittern und Beben dabei, denn mit Gepolter und Krachen stürzten seine Kameraden zur Erde, die Zweige wurden ihnen abgehauen, sie sahen nun ganz nackt, lang und schmal aus, sie waren kaum noch wiederzuerkennen. Dann aber wurden sie auf Wagen gelegt und Pferde zogen sie zum Walde hinaus.
Wohin sollten sie? Was stand ihnen bevor? -
Als im Frühjahr die Schwalbe und der Storch kamen, fragte sie der Baum: "Wisst ihr nicht, wohin sie geführt wurden? Seid ihr ihnen nicht begegnet?"
Die Schwalbe wusste nichts, doch der Storch sah sehr nachdenklich aus, nickte mit dem Kopf und sagte: "ja, ich glaube fast, mir begegneten auf meiner Rückreise von Ägypten viele neue Schiffe. Auf diesen standen mächtige Mastbäume; ich darf wohl behaupten, dass sie es waren, denn sie verbreiteten Tannengeruch. Sie lassen euch vielmals grüßen, sie überragen alles!"
"Oh, wäre ich doch auch groß genug, um über das Meer hinfliegen zu können! Wie ist es eigentlich, dieses Meer, und wem ähnelt es?"
"ja, das ist weitläufig zu erklären!" sagte der Storch und ging weiter. "Freue dich deiner Jugend!" sagten die Sonnenstrahlen, "freue dich deines Wachstums, des jungen Lebens, das dich erfüllt!"
Und der Wind küsste den Baum und der Tau weinte Tränen über ihn, allein der Tannenbaum verstand es nicht.

In der Weihnachtszeit wurden ganz junge Bäume gefällt, Bäume, die nicht einmal so groß waren, noch im gleichen Alter standen wie unser Tannenbäumchen, das weder Ruh' noch Rast hatte, sondern nur immer weiter wollte. Diese jungen Bäume, und es waren gerade die allerschönsten, behielten immer ihre Zweige, sie wurden auf Wagen gelegt und Pferde zogen sie aus dem Walde.
"Wohin bringt man sie?" fragte der Tannenbaum. "Sie sind nicht größer als ich, ja, da war sogar einer dabei, der noch weit kleiner aussah. Weshalb behalten sie alle ihre Zweige? Wohin fahren sie?"
"Das wissen wir, das wissen wir", zwitscherten die Sperlinge. "Unten in der Stadt haben wir zu den Fenstern hineingeschaut. Oh, sie gelangen zur größten Pracht und Herrlichkeit, die sich denken lässt! Wir haben gesehen, dass sie mitten in die warme Stube hineingepflanzt und mit den herrlichsten Sachen, mit vergoldeten Äpfeln, Honigkuchen, Spielzeug und vielen, vielen Lichtern geschmückt wurden!"
"Und dann?" fragte der Tannenbaum und bebte in allen Zweigen.
"Und dann? Was geschieht dann?"
"Ja, mehr haben wir nicht gesehen, es war unvergleichlich!"
"Ob auch mir dieses Los zufallen wird, diesen strahlenden Weg zu gehen?" jubelte das Bäumchen. "Das ist doch besser, als über das Meer zu fahren. Oh, wie mich die Sehnsucht verzehrt! Wäre ich erst auf dem Wagen! Wäre ich erst in der warmen Stube mit all ihrer Pracht und Herrlichkeit? Und dann? Ja, dann kommt noch etwas Besseres, noch Schöneres, weshalb würde man mich sonst so ausschmücken! Da muss noch etwas Größeres, noch etwas Herrlicheres kommen!" -
"Freue dich meiner!" sagte die Luft und sagte der Sonnenschein, "freue dich deiner frischen Jugend draußen im Freien!"
Aber das Bäumchen freute sich gar nicht; es wuchs und wuchs und stand Winter und Sommer dunkelgrün da! Die Leute, die es sahen, sagten: "Das ist ein hübscher Baum!" Und zur Weihnachtszeit wurde er zuerst von allen gefällt! Die Axt hieb tief durch das Mark, und der Baum fiel mit einem Seufzer zu Boden. Er fühlte einen Schmerz, eine Ohnmacht, er vermochte an gar kein Glück mehr zu denken. Er war betrübt, von der Heimat zu scheiden, von dem Fleck, auf dem er emporgeschossen war. Er wusste ja, dass er nie mehr die lieben, alten Kameraden, die kleinen Büsche und Blumen, wiedersehen würde.
Der Baum kam erst wieder zu sich, als er im Hofe, mit den anderen Bäumen abgeladen, einen Mann sagen hörte: „Der ist prächtig! Wir brauchen keinen anderen!“
Nun kamen zwei Diener und trugen den Tannenbaum in einen großen, prächtigen Saal. Er wurde in ein mit Sand gefülltes Gefäß gestellt. Doch niemand konnte merken, dass es ein Gefäß war, denn es wurde ringsum mit grünem Zeuge behängt und stand auf einem großen bunten Teppich. Oh, wie der Baum bebte!
Was sollte nun geschehen?
Diener kamen und putzten ihn. Über die Zweige hängten sie kleine, aus buntem Papier ausgeschnittene Netze, mit Zuckerwerk gefüllt. Vergoldete Äpfel und Walnüsse hingen wie festgewachsen herab, und über hundert rote, blaue und weiße Lichtchen wurden an den Zweigen befestigt. Puppen, die wie leibhaftige Menschen aussahen, schwebten im Grünen, und ganz oben auf der Spitze strahlte ein Stern von Flittergold. Es war prächtig, ganz unvergleichlich prächtig!
"Heute Abend", sagten alle, "heute Abend wird er strahlen!"
"Oh!" dachte der Baum, "wäre es doch erst Abend! Würden doch nur die Lichter angezündet! Und was mag dann geschehen? Ob wohl die Bäume aus dem Walde kommen und mich anschauen? Ob die Sperlinge gegen die Fensterscheiben fliegen? Ob ich hier festwachsen und Winter und Sommer geschmückt dastehen werde?" -
Nun wurden die Lichter angezündet. Welcher Glanz! Welche Pracht!
Der Baum bebte in allen Zweigen dabei, so dass einige Nadeln an einem der Lichter Feuer fingen. Es sengte ordentlich.
"Gott bewahre uns!" schrien einige Mädchen und löschten es schnell aus. Nun durfte der Baum nicht einmal beben. Oh, das war ein Graus!
Er war so besorgt, etwas von seinem Staate zu verlieren und war von all dem Glanze wie betäubt.
Und nun öffneten sich beide Flügeltüren und viele Kinder stürzten herein, als ob sie den ganzen Baum umrennen wollten. Die älteren Leute kamen bedächtig hinterher. Die Kleinen standen ganz stumm, aber nur einen kurzen Augenblick, dann jubelten sie laut, dass es widerhallte.
Sie tanzten um den Baum, und ein Geschenk nach dem anderen wurde abgepflückt.
"Was haben sie nur vor?" dachte der Baum. "Was soll da geschehen?"
Die Lichter brannten bis auf die Zweige herunter. Darauf löschte man sie aus, und die Kinder erhielten Erlaubnis, den Baum zu plündern. Die stürzten auf ihn los, dass es in allen Zweigen knackte. Wäre er nicht mit der Spitze und dem goldenen Stern an der Decke befestigt gewesen, so hätten sie ihn sicher umgeworfen.
Die Kinder tanzten nun mit ihrem prächtigen Spielzeug umher. Niemand beachtete den Baum, mit Ausnahme der alten Kinderfrau, die aufmerksam zwischen die Zweige nach einem etwa vergessenen Apfel blickte.
"Eine Geschichte, eine Geschichte!" riefen die Kinder und zerrten einen kleinen, dicken Mann nach dem Baume hin. Er setzte sich gerade unter ihn nieder, "denn so", meinte er, "sind wir im Grünen. Aber ich erzähle nur eine Geschichte. Wollt ihr die von Ivede-Avede hören oder die von Klumpe-Dumpe, der die Treppe hinab fiel und sich doch auf den Thron schwang und die Prinzessin erhielt?"
"Ivede-Avede!" schrien einige, "Klumpe-Dumpe!" schrien andere.
Was war das für ein Rufen und Durcheinanderschreien! Nur der Tannenbaum schwieg still. Seine Rolle war vorüber, er hatte ja seine Schuldigkeit getan!
Der Mann erzählte von K I u m p e - Du m p e, der die Treppe hinab fiel und sich doch auf den Thron schwang und die Prinzessin erhielt. Und die Kinder klatschten in die Hände und riefen: "Erzähle, erzähle!" Sie wollten auch noch die Geschichte von Ivede-Avede hören, mussten sich aber mit Klumpe-Dumpe begnügen. Der Tannenbaum stand ganz still und gedankenvoll, nie hatten die Vögel draußen im Walde dergleichen erzählt. "Klumpe-Dumpe fiel die Treppe hinab und bekam doch die Prinzessin! Ja, ja, so geht es in der Welt zu!" dachte der Tannenbaum und hielt es für Wahrheit, weil der Erzähler ein so netter Mann war. "Ja, ja, wer kann wissen, vielleicht falle ich auch die Treppe hinab und bekomme eine Prinzessin!" Und er freute sich darauf, den nächsten Tag wieder mit lauter glänzenden Dingen behangen zu werden.
"Morgen werde ich nicht zittern!'" dachte er. "Ich werde eine recht große Freude über alle meine Herrlichkeit empfinden. Morgen werde ich wieder die Geschichte von Klumpe-Dumpe hören und vielleicht auch die von Ivede-Avede." Und die ganze Nacht stand der Baum still und gedankenvoll da.
Am folgenden Morgen traten die Diener und Mägde herein.
"Nun beginnt der Staat von neuem!" dachte der Baum, aber sie schleppten ihn zum Zimmer hinaus, die Treppe hinauf bis auf den Boden, und dort stellten sie ihn in einen dunklen Winkel, wohin kein Tageslicht fiel. "Was hat denn das zu bedeuten?" dachte der Baum.
"Was habe ich denn hier zu tun? Was soll ich denn hier wohl hören?" Er lehnte sich gegen die Mauer und stand da und sann und sann. Und Zeit hatte er genug dazu, denn es verstrichen Tage und Nächte. Niemand kam herauf, und als endlich jemand kam, geschah es nur, um einige große Kasten in den Winkel zu stellen.
"Nun ist draußen Winter!" dachte der Baum. "Die Erde ist hart und mit Schnee bedeckt, die Menschen können mich nicht pflanzen; deshalb soll ich wahrscheinlich bis zum Frühling hier im Schutze stehen! Wie fürsorglich doch die Menschen sind! Wäre es hier nur nicht so dunkel und so schrecklich einsam! Draußen im Walde war es doch lustig, wenn der Schnee lag und der Hase vorüber sprang, ja selbst wenn er über mich hinwegsetzte; aber damals gefiel es mir freilich nicht. Hier oben ist es aber doch entsetzlich einsam!"
"Piep, piep!" sagte plötzlich eine kleine Maus und schlüpfte hervor, und darauf kam noch eine zweite. Sie schnüffelten an dem Tannenbaum und kletterten durch seine Zweige.
"Es herrscht heute furchtbare Kälte!" sagten die zwei kleine Mäuschen, "nicht wahr, du alter Tannenbaum?"
"Ich bin doch gar nicht alt!" versetzte der Tannenbaum, "es gibt viel ältere als ich bin!"
"Woher kommst du?" fragten die Mäuse, "und was weißt du?" Sie waren' gewaltig neugierig. "Erzähle uns doch von den herrlichen Plätzchen auf Erden! Bist du schon dort gewesen? Bist du schon in der Speisekammer gewesen, wo Käse auf den Brettern liegen und Schinken unter der Decke hängen, wo man auf Talglichtern tanzt, mager hineingeht und fett herauskommt?" "Die kenne ich allerdings nicht", sagte der Baum, "aber den Wald kenne ich, wo die Sonne scheint und die Vögel singen!" Darauf erzählte er ihnen alle Erlebnisse seiner Jugend, und die Mäuschen hatten dergleichen nie zuvor gehört.
"Oh", sagten die Mäuschen, "wie glücklich du gewesen bist, du alter Tannenbaum!"
"Ich bin durchaus nicht alt!" erwiderte der Tannenbaum, "erst in diesem Winter bin ich ja aus dem Walde gekommen! Ich stehe in meinem allerbesten Alter!"
"Wie schön du erzählst!" sagten die Mäuschen, und in der nächsten Nacht kamen sie mit vier anderen kleinen Mäusen wieder, die den Baum auch erzählen hören sollten. Aber je mehr er erzählte, desto lebhafter trat es ihm selbst vor die Augen und er sagte: "Es waren doch wirklich glückliche Zeiten! Aber sie können wiederkommen! Klumpe-Dumpe fiel die Treppe hinab und bekam doch die schöne Prinzessin."
"Wer ist Klumpe-Dumpe?", fragten die Mäuschen.
Nun erzählte der Tannenbaum das ganze Märchen, dessen er sich Wort für Wort entsinnen konnte. Und die Mäuschen wären aus lauter Freude fast in die Spitze des Baumes gesprungen. In der folgenden Nacht versammelten sich noch weit mehr Mäuse, und am Sonntag kamen sogar zwei Ratten. Die behaupteten aber, die Geschichte sei nicht lustig, und das betrübte die Mäuschen, denn sie kam ihnen nun auch weniger schön vor.
"Nur die eine!" antwortete der Baum, "ich hörte sie an meinem glücklichsten Abend, aber damals dachte ich nicht daran, wie glücklich ich war!"
"Das ist eine höchst elende Geschichte! Wissen Sie keine von Speck und Talglichtern? Keine Speisekammergeschichten?"
"Nein!" sagte der Baum.
"Nun dann danken wir!", erwiderten die Ratten und liefen davon.
Zuletzt blieben die Mäuschen auch fort und da seufzte der Baum: "Es war doch ganz hübsch, als sie um mich saßen, die munteren Mäuschen, und auf meine Erzählungen lauschten! Nun ist das auch vorbei!"
Und eines Morgens kamen Leute auf den Boden und kramten umher.
Die Kasten erhielten einen anderen Platz und der Baum wurde hervorgezogen. Sie warfen ihn unsanft auf den Fußboden, aber sofort schleppte ihn ein Hausknecht nach der Treppe, wo das Tageslicht schimmerte.
"Nun beginnt das Leben wieder!", dachte der Baum. Er fühlte die frische Luft, den ersten Sonnenstrahl, - und nun war er draußen auf dem Hof. Alles ging so schnell, dass der Baum völlig vergaß, sich selbst zu betrachten; zu viel Neues war ringsumher anzustaunen. Der Hof stieß an einen Garten, und alles stand darin in voller Blüte. Die Rosen hingen frisch und duftend über den kleinen Lattenzaun herüber, die Lindenbäume blühten, und die Schwalben flogen umher und zwitscherten: "Quirre virrevit, mein Mann ist gekommen!" Aber den Tannenbaum meinten sie damit nicht.
"Nun will ich leben!" jubelte dieser und breitete seine Zweige weit aus. Ach, sie waren alle vertrocknet und gelb, und zwischen Unkraut und Nesseln lag er in einem Winkel da. Der Goldpapierstern saß noch oben auf der Spitze und leuchtete im hellsten Sonnenschein. Auf dem Hofe selbst spielten ein paar von den Kindern, die am Weihnachtsabend so fröhlich um den Baum getanzt hatten. Eines der kleinsten riss den Goldstern ab.
"Sieh, was da noch an dem alten, hässlichen Tannenbaum sitzt!" rief es und trat auf die Zweige, dass sie unter seinen Stiefeln knackten.
Und der Baum betrachtete all die Blumenpracht und Frische im Garten, betrachtete dann sich selbst und wünschte, dass er in seinem finsteren Winkel auf dem Boden geblieben wäre. Er gedachte seiner frischen Jugend im Walde, des lustigen Weihnachtsabends und der kleinen Mäuse, die so fröhlich der Geschichte von Klumpe-Dumpe zugelauscht hatten.
"Vorbei, vorbei!" seufzte der arme Baum. "Hätte ich mich doch gefreut, als ich es noch konnte! Vorbei, vorbei!"
Nun kam der Hausknecht und hieb ihn in kleine Stücke, ein ganzes Bund lag da. Und dann loderte es hell auf unter dem großen Wasserkessel.
Der Baum seufzte tief, jeder Seufzer tönte wie ein kleiner Schuss.
Deshalb liefen die Kinder, die draußen spielten, herbei, setzten sich vor das Feuer, schauten hinein und riefen: "Piff, paff!" Aber bei jedem Knall, der ein tiefer Seufzer war, gedachte der Baum eines Sommertags im Wald, einer Winternacht draußen, wenn die Sterne glänzten. Er gedachte des Weihnachtsabends und des Klumpe-Dumpe, des einzigen Märchens, das er gehört hatte und zu erzählen wusste. Und dann war er verbrannt.
Die Kinder spielten im Hof, und der kleinste hatte auf der Brust den Goldstern, den der Baum an seinem glücklichsten Abend getragen hatte. Nun war dieser vorüber und mit ihm auch der Baum mit seiner Geschichte. Vorbei, vorbei. Und so geht es mit allen Geschichten.

Die Stopfnadel

Es war einmal eine Stopfnadel, die so fein und spitz war, dass sie sich einbildete, eine Nähnadel zu sein.
"Seht jetzt nur darauf, dass ihr mich ordentlich festhaltet!" sagte die Stopfnadel zu den Fingern, die sie hervorholten. "Lasst mich nicht los! Falle ich auf den Boden, wird es kaum möglich sein, mich wieder zu finden, so fein bin ich!"
"Nun, nun! Nur nicht zu viel des Eigenlobs!" sagten die Finger und fassten sie dann fest um den Leib.
"Seht ihr, ich komme mit Gefolge!" rief die Stopfnadel und zog einen langen Faden hinter sich her.
Die Finger lenkten die Stopfnadel gerade gegen den Pantoffel der Köchin, dessen Oberleder einen Riss bekommen hatte und jetzt zusammen genäht werden sollte.
"Das ist eine niedrige Arbeit!" sagte die Stopfnadel, "ich komme nie hindurch, ich zerbreche, ich zerbreche!" und da zerbrach sie. "Habe ich nicht oft genug wiederholt", jammerte sie, "dass ich zu fein bin!"
"Nun taugt sie zu nichts mehr!" meinten die Finger, mussten sie aber doch festhalten; die Köchin machte ihr einen Kopf aus Siegellack und steckte sie dann vorn in ihr Tuch.
"Sieh, jetzt bin ich eine Busennadel!" sagte die Stopfnadel, "ich wusste wohl, dass ich zu Ehren kommen würde; aus etwas Rechtem wird etwas Rechtes!" Und dabei lachte sie innerlich, denn äußerlich kann man es einer Stopfnadel nie ansehen, dass sie lacht. Da saß sie nun stolz, als führe sie in einer Kutsche, und blickte nach allen Seiten.
"Darf ich mir wohl erlauben, Sie zu fragen, ob Sie von Gold sind?", fragte sie die Stecknadel, die ihre Nachbarin war, "Sie haben ein vortreffliches Äußeres und Ihren eigenen Kopf, wenn er auch nur klein ist. Sie müssen dafür Sorge tragen, dass sich dieser auswächst, denn man kann nicht allen das Ende mit Siegellack versehen!"
Dabei richtete sich die Stopfnadel so stolz in die Höhe, dass sie sich aus dem Tuche löste und in die Gosse fiel, gerade als die Köchin das Spülicht ausgoss.
"Nun gehen wir auf Reisen!", sagte die Stopfnadel; doch da saß sie fest in der Gosse. "Mein gutes Bewusstsein ist mir geblieben", tröstete sie sich und hielt sich stramm und aufrecht.
Allerlei segelte über sie dahin, Holzstückchen, Stroh und Zeitungspapier. "Sieh, wie sie dahinsegeln!" sagte die Stopfnadel. "Sie wissen nicht, was unter ihnen steckt! Ich stecke und sitze hier. Sieh, da treibt jetzt ein Holzpflock, der denkt an nichts in der Weh als an Pflöcke und Klötze, und er ist selber einer. Dort schwimmt ein Strohhalm; sieh, wie er schwenkt, wie er sich dreht! Ich sitze geduldig und still; ich weiß, was ich bin und das bleibe ich!" -
Eines Tages gewahrte die Stopfnadel dicht an ihrer Seite einen glänzenden Gegenstand, weswegen sie vermutete, dass es ein Diamant wäre; aber es war nur eine gewöhnliche Glasscherbe. Da diese flimmerte, redete sie die Stopfnadel an und gab sich ihr als Busennadel zu erkennen. "Sie sind wohl ein Diamant?"
"Ja, ich bin etwas dergleichen!"
Und so hielten sie sich denn gegenseitig für sehr kostbare Gegenstände und sprachen über den jetzigen Hochmut der Weh.
"Ich habe meine Wohnung in einer sehr feinen, bunten Schachtel gehabt, die einer Köchin gehörte", begann die Stopfnadel ihre Erzählung. "Sie hatte an jeder Hand fünf Finger; aber obgleich diese nur da waren, um mich zu halten und aus der Schachtel zu nehmen, so waren sie doch schrecklich eingebildet."
"Zeichneten sie sich denn durch Glanz aus?", fragte die Glasscherbe. "Durch Glanz!?" rief die Stopfnadel aus, nein durch eitel Hochmut!
Es waren fünf Brüder, alle geborene ,Finger'; in aufrechter Haltung hielten sie sich stolz nebeneinander, obwohl ihre Länge sehr verschieden war. Der äußere von ihnen, der Däumling, war kurz und dick; er stand nicht mit in Reih und Glied, sondern vor ihnen, und dann hatte er nur ein Gelenk im Rücken, er konnte sich nur in einer Richtung verbeugen. Der Topflecker fuhr in Süßes und Saures, zeigte nach Sonne und Mond und drückte auf die Feder, wenn sie schrieben. Der Langemann überragte die anderen um Haupteslänge. Der Ringhalter ging mit goldenen Reifen um den Leib einher, und der kleine Peter Spielmann tat gar nichts und war darauf noch stolz. Prahlerei war es und Prahlerei blieb es, und darum warf ich mich in die Gosse."
"Und nun sitzen wir beisammen und glänzen!" sagte die Glasscherbe. Plötzlich strömte mehr Wasser in den Rinnstein, das nun über den Rand trat und die Glasscherbe mit sich riss.
"Sieh, nun wurde die befördert!" sagte die Stopfnadel. "Ich bleibe sitzen, ich bin zu fein, aber das ist mein Stolz und der ist achtungswert!" So saß sie in aufrechter Haltung da und machte sich viele Gedanken.
"Ich möchte fast annehmen, dass ich von einem Sonnenstrahl geboren bin, so fein bin ich. Mich dünkt sogar, dass mich die Sonne fortwährend unter dem Wasser sucht. Ach, ich bin so fein, dass mich die eigene Mutter nicht finden kann. Hätte ich mein altes Auge noch, das abbrach, ich glaube, ich könnte Tränen vergießen. :.- Nein, ich könnte es doch nicht tun, weinen ist nicht fein."
Eines Tages spielten einige Gassenbuben neben dem Rinnstein und wühlten in ihm herum, wo sie alte Nägel und Kupferdreier fanden.
"Au!", schrie der eine, indem er sich an der Stopfnadel stach. "Das ist ja ein schlimmer Bursche!"
"Ich bin kein Bursch, ich bin ein Fräulein!" erwiderte die Stopfnadel, aber niemand hörte es.
Der Siegellack hatte sich abgelöst und deshalb hielt sie sich für noch feiner als zuvor.
"Da kommt eine Eierschale angesegelt!" sagten die Knaben und steckten die Stopfnadel fest in die Schale.
"Weiße Wände und selbst schwarz!" sagte die Stopfnadel, "das kleidet gut! Nun kann man mich doch sehen! Wenn ich nur nicht seekrank werde, denn sonst breche ich noch mehr!" Aber sie wurde nicht seekrank und brach nicht weiter.
"Es ist gegen die Seekrankheit doch gut, wenn man einen stählernen Magen hat und dabei immer eingedenk bleibt, dass man etwas mehr als ein Mensch ist. Bei mir ist es nun vorüber; je feiner man ist, desto mehr kann man aushalten!"
"Krach!" stöhnte die Eierschale, während ein Lastwagen über sie hin ging.
"Ach, wie das drückt!" seufzte die Stopfnadel. "Nun werde ich doch seekrank; ich breche, ich breche!" Aber sie brach nicht, trotzdem sie von einem Lastwagen überfahren wurde, sie lag der Länge nach da - und da mag sie liegen bleiben.

Das Gänseblümchen

Nun merke auf! Draußen auf dem Lande, hart am Wege, lag ein Landhaus, du hast es sicher selbst schon einmal gesehen! Vor demselben befindet sich ein Blumengärtchen mit schön angestrichenem Gitter. Dicht daneben wuchs auf einem Grabenrande inmitten des üppigsten Grases ein Gänseblümchen. Die Sonne schien auf dasselbe ebenso warm und schön, wie auf die großen reichen Prachtblumen drinnen im Garten, und deshalb wuchs es zusehends. Eines Morgens stand es mit seinen glänzend weißen Blättchen, die wie Strahlen rings um die inwendige gelbe Sonne sitzen, völlig entfaltet da. Es fiel ihm gar nicht ein, dass kein Mensch es im Grase dort bemerkte und dass es ein armes, verachtetes Blümchen wäre. 0 nein, es war ganz froh, wandte sich der warmen Sonne entgegen, schaute zu ihr empor und lauschte auf die Lerche, die in den lüften sang.
Das Gänseblümchen fühlte sich so glücklich, als ob es ein hoher Festtag wäre, und doch war es ein Montag; alle Kinder waren in der Schule. Während diese auf ihren Bänken saßen und lernten, saß jenes auf seinem kleinen grünen Stängel und lernte gleichfalls von der warmen Sonne und von allem ringsumher, wie gütig Gott wäre, und es kam ihm ganz in der Ordnung vor, dass die kleine Lerche alles, was sie im stillen fühlte, so klar und schön sang. Das Gänseblümchen sah mit einer Art Ehrfurcht zu dem glücklichen Vogel empor, der singen und fliegen konnte, und war selbst gar nicht betrübt, dass es dies selbst nicht vermochte. "Ich sehe und höre ja", dachte es. "Die Sonne bescheint mich und der Wind küsst mich. Oh, wie reich bin ich doch begabt worden."
Innerhalb des Staketenzaunes standen viele steife, vornehme Blumen; je weniger Duft sie hatten, desto stolzer erhoben sie ihr Haupt. Die Sonnenrosen blähten sich, um größer als die Rosen zu erscheinen, aber auf die äußere Größe kommt es wenig an. Die Tulpen hatten die allerschönsten Farben, und das wussten sie auch und richteten sich kerzengerade auf, um sich bemerkbar zu machen. Das eben erst aufgeblühte Gänseblümchen übersahen sie ganz, desto mehr aber beobachtete dieses sie und dachte: "Wie reich und schön sie sind! Ja, zu ihnen fliegt gewiss der prächtige Vogel hernieder und besucht sie. Gottlob, dass ich so nahe dabeistehe, so kann ich doch die Herrlichkeit zu sehen bekommen." Und gerade während es das überlegte, "quirrevit!", da kam die Lerche geflogen, aber nicht zu den Sonnenrosen und Tulpen, nein, hernieder in das Gras zu dem armen Gänseblümchen, welches aus lauter Freude so erschrak, dass es gar nicht wusste, was es denken sollte.
Der kleine Vogel tanzte rings um dasselbe her und sang:
"Wie weich doch das Gras ist! Sieh, welch allerliebstes Blümchen mit Gold im Herzen und Silber auf dem Kleide!"
Das gelbe Pünktchen in der Gänseblume leuchtete auch wie Gold, und die kleinen Blätter ringsumher blinkten silberhell.
Wie glücklich das Gänseblümchen war, nein, das übersteigt jede Vorstellung. Der Vogel küsste es mit seinem Schnabel, sang vor ihm und erhob sich dann wieder in die blaue Luft. Es währte ganz gut eine Viertelstunde, ehe sich das Blümchen wieder erholen konnte. Halb verschämt und doch innig froh, sah es sich nach den Blumen drinnen im Garten um. Sie hatten ja die Ehre und Glückseligkeit, die ihm widerfahren war, mit angesehen, sie mussten ja begreifen, welche Freude das war. Aber die Tulpen richteten sich noch einmal so steif empor wie vorher und waren im Gesicht ganz spitz und rot, denn sie hatten sich geärgert. Die Sonnenrosen waren ganz dickköpfig. Hu! es war gut, dass sie nicht reden konnten, sonst würden sie dem Gänseblümchen ordentlich die Wahrheit gesagt haben. Das arme Blümchen konnte wohl sehen, dass ihnen die gute Laune vergangen war, und das tat ihm aufrichtig leid. Zu gleicher Zeit trat ein Mädchen in den Garten mit einem scharfen, weithin blitzenden Messer. Es schritt durch die Tulpen hindurch und schnitt eine nach der andern ab. "Ach", seufzte das Gänseblümchen, "das war ja erschrecklich, nun ist es mit ihnen vorbei!" Dann ging das Mädchen mit den Tulpen fort; das Gänseblümchen war froh darüber, dass es draußen im Grase stand und nur ein armes Blümchen war.
Es fühlte sich so recht dankbar, und als die Sonne unterging, faltete es seine Blätter, entschlief und träumte die ganze Nacht von der Sonne und dem kleinen Vogel.
Als am Morgen die Blume wieder alle ihre weißen Blätter wie kleine Ärmchen der Luft entgegenstreckte, erkannte sie des Vogels Stimme, aber was er sang, war gar traurig. Ja, die arme Lerche hatte guten Grund dazu, denn sie war gefangen worden und saß jetzt in einem Käfig, dicht neben dem offenen Fenster. Sie sang von der Herrlichkeit, frei und glücklich umherfliegen zu können, sang von der jungen grünen Saat auf dem Felde und von der schönen Reise, die sie auf ihren Schwingen hoch hinauf in die Luft machen konnte. Der arme Vogel war nicht guter Laune, gefangen saß er da im Bauer.
Das Gänseblümchen wünschte so gern zu helfen, allein wie sollte es das anfangen? Ja, es war schwer, das Richtige zu finden. Es vergaß ganz und gar, wie schön alles ringsumher stand, wie warm die Sonne schien und wie herrlich seine eigenen Blättchen erglänzten. Ach, es vermochte nur an den gefangenen Vogel zu denken, für den es gar nichts tun konnte.
In diesem Augenblick kamen zwei kleine Knaben aus dem Garten, der eine von ihnen hatte ein Messer in der Hand, groß und scharf wie dasjenige, mit welchem das Mädchen die Tulpen abgeschnitten hatte. Sie gingen gerade auf das Gänseblümchen los, das gar nicht begreifen konnte, was sie vorhatten.
"Hier können wir für die Lerche ein herrliches Rasenstück ausschneiden", sagte der eine Knabe und begann in einem Viereck um das Gänseblümchen tief hineinzuschneiden, so dass dasselbe mitten in das Rasenstück zu stehen kam.
"Reiß die Blume ab!", sagte der andere Knabe, und das Gänseblümchen schauderte ordentlich vor Angst, denn abgerissen zu werden, hieße ja das Leben verlieren, und gerade jetzt wünschte es erst recht zu leben, da es mit dem Rasenstück zu der gefangenen Lerche in den Käfig kommen sollte.
"Nein, lass sie sitzen", sagte der andere Knabe, "sie ist so niedlich!" Und so blieb das Gänseblümchen sitzen und kam mit zu der Lerche in den Käfig hinein.
Aber der arme Vogel klagte laut über seine verlorene Freiheit und schlug mit den Flügeln gegen das Drahtgeflecht des Vogelbauers. Das Gänseblümchen konnte nicht reden, konnte nicht ein einziges tröstendes Wort sagen, so gern es auch wollte. Auf diese Weise verging der ganze Vormittag.
"Hier ist kein Wasser", sagte die gefangene Lerche. "Sie sind alle ausgegangen und haben vergessen, mir einen Tropfen Wasser hinzusetzen. Meine Kehle ist trocken und brennend heiß. Bald glühe ich vor Hitze, bald zittere ich vor Frost, und die Luft ist so schwer! Ach, ich muss sterben, muss mich trennen von dem warmen Sonnenschein, von dem frischen Grün, von all der Herrlichkeit, die Gott geschaffen hat!" Und dann bohrte sie ihren kleinen Schnabel in das Rasenstück, um sich daran ein wenig zu erfrischen. Da fielen ihre Augen auf das Gänseblümchen, und der Vogel nickte ihm zu, küsste es mit seinem Schnabel und sagte: "Auch du musst hier drinnen verwelken, du armes Blümchen! Dich und das grüne Grasfleckchen hat man mir für die ganze Welt, die ich draußen hatte, gegeben! Jeder kleine Grashalm soll mir ein grüner Baum, jedes deiner weißen Blätter eine duftende Blume sein. Ach, ihr erzählt mir nur, wie viel ich verloren habe!"
"Wer ihn doch trösten könnte!", dachte das Gänseblümchen, konnte aber kein Blatt bewegen; allein der Duft, welchen die feinen Blätter aushauchten, war weit stärker, als er sich sonst bei dieser Blume vorfindet. Das entging auch dem Vogel nicht, und obwohl er vor Durst verschmachtete und in seiner Angst die grünen Grashalme abriss, rührte er die Blume gar nicht an,
Es wurde Abend, und noch erschien niemand und brachte dem armen Vogel einen Tropfen Wasser. Da breitete er seine schönen Flügel aus, zuckte noch einmal krampfhaft zusammen, sein Gesang war ein wehmütiges "Piep, piep“, das Köpfchen neigte sich gegen die Blume und sein Herz brach vor Mangel und Sehnsucht. Da konnte auch die Blume nicht wie am Abend vorher ihre Blätter zusammenfalten und einschlafen. Krank und traurig hing sie auf die Erde nieder.
Erst am nächsten Morgen kamen die Knaben und weinten, als sie den Vogel tot sahen, weinten viele Tränen und gruben ihm ein niedliches Grab, welches mit Blumenblättern ausgeschmückt wurde.
Des Vogels Leiche wurde in eine schöne rote Schachtel gelegt, königlich sollte er begraben werden, der arme Vogel! Als er lebte und sang, vergaßen sie ihn, ließen ihn im Bauer sitzen und Not leiden, jetzt wurde für ihn großer Aufwand getrieben und reichliche Tränen wurden ihm nachgeweint.
Aber das Rasenstück mit dem Gänseblümchen wurde hinaus in den Staub der Landstraße geworfen. Niemand gedachte der Blume, die doch am meisten für den Vogel gefühlt hatte und ihn so gern trösten wollte.

Die kleine Seejungfrau

Weit hinaus im Meer ist das Wasser so blau wie die Blätter der schönsten Kornblume und so klar wie das reinste Glas, aber es ist sehr tief, tiefer als irgendein Ankertau reicht; viele Kirchtürme müssten aufeinandergestellt werden, um vom Boden bis über das Wasser zu reichen.
Nun muss man aber nicht glauben, dass da nur der weiße Sandboden sei; nein, da wachsen die sonderbarsten Bäume und Pflanzen, die so geschmeidig im Stiel und in den Blättern sind, dass sie sich bei der geringsten Bewegung des Wassers rühren, gerade als ob sie lebten. Alle Fische, kleine und große, schlüpfen zwischen den Zweigen hindurch, ebenso, wie hier oben die Vögel in der Luft. An der allertiefsten Stelle liegt des Meerkönigs Schloss, die Mauern sind von Korallen und langen, spitzen Fenster vom allerklarsten Bernstein; aber das Dach bilden Muschelschalen, die sich öffnen und schließen, je nachdem das Wasser strömt. Das sieht herrlich aus, denn in jeder liegen strahlende Perlen; eine einzige würde in der Krone einer Königin die größte Pracht geben.
Der Meerkönig dort unten war seit vielen Jahren Witwer gewesen, während seine alte Mutter bei ihm wirtschaftete. Sie war eine kluge Frau, aber stolz auf ihren Adel, deshalb trug sie zwölf Austern auf dem Schwanze, die andern Vornehmen durften nur sechs tragen. - Sonst verdiente sie großes Lob, besonders weil sie viel von den kleinen Meerprinzessinnen, ihren Enkelinnen, hielt. Es waren sechs schöne Kinder, aber die jüngste war die Schönste von allen, ihre Haut war so klar und fein wie ein Rosenblatt, ihre Augen waren so blau wie der tiefste See, aber wie all die andern hatte sie keine Füße, ihr Körper endete in einen Fischschwanz.
Den ganzen Tag konnten sie unten im Schlosse in den großen Sälen, wo lebendige Blumen aus den Wänden hervor wuchsen, spielen. Die großen Bernsteinfenster wurden aufgemacht, und dann schwammen die Fische zu ihnen hinein, wie bei uns die Schwalben herein fliegen, wenn wir die Fenster aufmachen. Die Fische schwammen gerade zu den Prinzessinnen hin, fraßen aus ihren Händen und ließen sich streicheln.
Draußen vor dem Schlosse war ein großer Garten mit feuerroten und dunkelblauen Bäumen; die Früchte strahlten wie Gold und die Blumen wie brennendes Feuer, und sie bewegten fortwährend Stängel und Blätter. Die Erde selbst war der feinste Sand, aber blau wie die Schwefelflamme. über dem Ganzen lag ein eigentümlicher blauer Schein, man hätte eher glauben mögen, dass man hoch in der Luft stehe und nur Himmel über und unter sich habe, als dass man auf dem Grund des Meeres sei. Während der Windstille konnte man die Sonne erblicken, sie erschien wie eine Purpurblume, aus deren Kelch alles Licht ausströme.
Eine jede der kleinen Prinzessinnen hatte ihren kleinen Fleck im Garten, wo sie graben und pflanzen konnte, wie es ihr gefiel. Die eine gab ihrem Blumenfleck die Gestalt eines Walfisches, einer andern gefiel es besser, dass der ihre einem kleinen Meerweib gleiche, aber die jüngste machte den ihren ganz rund, der Sonne gleich, und hatte nur Blumen, die rot wie diese schienen. Sie war ein wunderbares Kind, still und nachdenkend, und wenn die andern Schwestern mit seltsamen Sachen, die sie von gestrandeten Schiffen erhalten hatten, Staat machten, wollte sie nur außer den rosenroten Blumen, die der Sonne dort oben glichen, ein hübsches Marmorbild haben; es war ein herrlicher Knabe, aus weißem, klarem Stein gehauen, der beim Stranden auf den Meeresgrund gekommen war. Sie pflanzte bei dem Bilde eine rosenrote Trauerwinde, die wuchs herrlich und hing mit ihren frischen Zweigen über den Knaben hinweg, gegen den blauen Sandboden hinunter, wo der Schatten sich bräunlich zeigte und gleich den Zweigen in Bewegung war. Es sah aus, als ob die Spitze und die Wurzeln miteinander spielten, als wollten sie sich küssen.
Es gab keine größere Freude für sie, als von der Menschenwelt dort oben zu hören; die alte Großmutter musste alles, was sie von Schiffen und Städten, Menschen und Tiere wusste, erzählen. Hauptsächlich erschien ihr ganz besonders schön, dass oben auf der Erde die Blumen duften, das taten sie auf dem Grunde des Meeres nicht, und dass die Wälder grün sind und dass die Fische, die man dort zwischen den Bäumen erblickte, so laut und herrlich singen können, dass es eine Lust ist; das waren die kleinen Vögel, die von der Großmutter Fische genannt wurden, denn sonst konnten die Kinder sie nicht verstehen, da sie noch keinen Vogel erblickt hatten.
"Wenn ihr euer fünfzehntes Jahr erreicht habt", sagte die Großmutter, "dann sollt ihr die Erlaubnis erhalten, aus dem Wasser emporzutauchen, im Mondschein auf der Klippe zu sitzen und die großen Schiffe, die vorbeisegeln, zu sehen, Wälder und Städte werdet ihr dann erblicken!" In dem kommenden Jahr war die eine der Schwestern fünfzehn Jahre alt. Von den übrigen war eine immer ein Jahr jünger als die andere, die jüngste von ihnen hatte demnach noch volle fünf Jahre zu warten, bevor sie aus dem Grund des Meeres hinaufkommen und sehen konnte, wie es bei uns aussah. Aber die eine versprach der andern zu erzählen, was sie erblickt, was sie am ersten Tag am schönsten gefunden habe; denn ihre Großmutter erzählte ihnen nicht genug.
Keine war so sehnsüchtig wie die Jüngste, gerade sie, die noch die längste Zeit zu warten hatte und die so still und gedankenvoll war. Manche Nacht stand sie am offenen Fenster und sah durch das dunkelblaue Wasser empor, wie die Fische mit ihren Flossen und Schwänzen schlugen. Mond und Sterne konnte sie sehen, freilich schienen sie ganz bleich, aber durch das Wasser sahen sie weit größer aus als vor unsern Augen. Zog dann etwas einer schwarzen Wolke gleich unter ihnen hin, so wusste sie, dass es entweder. ein Walfisch, der ,über ihr schwamm, oder auch ein Schiff mit vielen Menschen war; sie dachten sicher nicht daran, dass eine liebliche, kleine Seejungfrau unten stehe und ihre weißen Hände gegen den Kiel empor strecke.
Nun war die älteste Prinzessin fünfzehn Jahre alt und durfte über die Meeresfläche emporsteigen.
Als Sie zurückkehrte hatte Sie hunderterlei zu erzählen, aber das ~Schönste, sagte sie, war, im Mondschein auf einer Sandbank in der ruhigen See zu liegen und nebenbei die Küste mit der großen Stadt u betrachten, wo die Lichter gleich hundert Sternen blinkten, die Musik und den Lärm und das Toben von Wagen und Menschen zu hören, die vielen Kirchtürme und Spitzen zu sehen und das Läuten der Glocken zu hören. Gerade weil sie noch nicht da hinauf gelangen konnte, sehnte die Jüngste sich am allermeisten nach all diesem.
Oh, wie horchte sie auf, und wenn sie später des Abends am Fenster stand und durch das dunkelblaue Wasser empor blickte, gedachte sie der großen Stadt mit all dem Lärm und Toben, und dann glaubte sie das Läuten der Kirchenglocken bis zu sich herunterhören zu können.
Im folgenden Jahre erhielt. die zweite Schwester die Erlaubnis, durch das Wasser emporzusteigen und zu schwimmen, wohin sie wolle. Sie tauchte auf, eben als die Sonne unterging, und dieser Anblick, fand sie, war das Schönste. Der ganze Himmel habe wie Gold ausgesehen, sagte sie, und die Wolken, ja, deren Schönheit konnte sie nicht genug beschreiben; rot und blau waren sie über ihr dahingesegelt, aber weit schneller als diese flog, einem langen, weißen Schleier gleich, ein Schwarm wilder Schwäne über das Wasser hin, wo die Sonne stand. Sie schwammen ihr entgegen, aber die Sonne sank, und der Rosenschein erlosch auf der Meeresfläche und den Wolken.
Das Jahr darauf kam die dritte Schwester hinauf; sie war die mutigste von allen, deshalb schwamm sie einen breiten Fluss aufwärts, der in das Meer ausmündete. Herrlich grüne Hügel mit Weinranken erblickte sie, Schlösser und Gehöfte schimmerten durch prächtige Wälder hervor, und sie hörte, wie alle Vögel sangen. In einer kleinen Bucht traf sie einen ganzen Schwarm kleiner Menschenkinder, ganz nackt liefen sie und plätscherten im Wasser; sie wollte mit ihnen spielen, aber die Kinder liefen erschrocken davon, und es kam ein kleines, schwarzes Tier, das war ein Hund, aber sie hatte nie einen Hund gesehen, der bellte sie so erschrecklich an, dass ihr bange wurde und sie die offene See zu erreichen suchte. Nie konnte sie die Wälder, die Hügel und die niedlichen Kinder vergessen, die im Wasser schwimmen konnten, obgleich sie keinen Fischschwanz hatten.
Die vierte Schwester war nicht so kühn, sie blieb draußen mitten im wilden Meer und erzählte, dass es dort am schönsten sei; man sehe ringsumher, viele Meilen weit, und der Himmel stehe wie eine Glasglocke darüber. Schiffe hatte sie gesehen, aber nur in weiter Ferne, sie sahen wie Strandmöwen aus, und die possierlichen Delphine hatten Purzelbäume geschossen und die großen Walfische aus ihren Nasenlöchern Wasser empor gespritzt, so dass es ausgesehen hatte wie Hunderte von Springbrunnen ringsumher.
Nun kam die Reihe an die fünfte Schwester; ihr Geburtstag fiel in den Winter, und deshalb sah sie, was die andern das erste Mal nicht gesehen hatten. Die See nahm sich ganz grün aus, und ringsumher schwammen große Eisberge, ein jeder sah wie eine Perle aus, sagte sie, und war doch weit größer als die Kirchtürme der Menschen. Sie zeigten sich in den sonderbarsten Gestalten und glänzten wie Diamanten. Sie hatte sich auf einen der allergrößten gesetzt, und alle Segler kreuzten erschrocken draußen herum, wo sie saß und den Wind mit ihrem langen Haar spielen ließ; aber gegen Abend hatte sich der Himmel mit Wolken überzogen, es blitzte und donnerte, während die schwarze See die großen Eisblöcke hoch emporhob und sie beim roten Blitz erglänzen ließ. Auf allen Schiffen zog man die Segel ein, da war eine Angst und ein Grauen, aber sie saß ruhig auf ihrem schwimmenden Eisberge und sah die blauen Blitzstrahlen im Zickzack in die schimmernde See fahren.
Das erste Mal, wenn eine der Schwestern über das Wasser emporkam. war jede entzückt über das Neue und Schöne, was sie erblickte; aber da sie nun als erwachsene Mädchen die Erlaubnis hatten, hinaufzusteigen wann sie wollten, wurde es ihnen gleichgültig. Sie sehnten sich wieder zurück, und nach Verlauf eines Monats sagten sie, dass es da unten bei ihnen am allerschönsten sei. Da sei man hübsch zu Hause.
In mancher Abendstunde nahmen die fünf Schwestern einander in die Arme und stiegen in einer Reihe über das Wasser auf; herrliche Stimmen hatten sie, schöner als irgendein Mensch, und wenn dann ein Sturm im Anzug war, so dass sie vermuten konnten, dass Schiffe untergehen würden, schwammen sie vor den Schiffen her und sangen lieblich, wie schön es auf dem Grunde des Meeres sei. Sie baten die Seeleute, sich nicht zu fürchten, da hinunterzukommen, die aber konnten die Worte nicht verstehen und glaubten es sei der Sturm. Sie bekamen auch die Herrlichkeiten dort unten nicht zu sehen, denn wenn das Schiff sank, ertranken die Menschen und kamen als Leichen zu des Meerkönigs Schloss.
Wenn die Schwestern so des Abends Arm in Arm hoch durch das Wasser hinaufstiegen, dann stand die kleine Schwester ganz allein und sah ihnen nach, und es war ihr, als ob sie weinen müsste, aber die Seejungfrau hat keine Tränen, und darum leidet sie weit mehr.
"Ach, wäre ich doch fünfzehn Jahre alt!" sagte sie. "Ich weiß, dass ich die Welt dort oben und die Menschen, die darauf wohnen, recht lieben werde."
Endlich war sie fünfzehn Jahre alt.
"Sieh, nun bist du erwachsen!" sagte die Großmutter, die alte Königin Witwe. "Komm, nun lass mich dich schmücken gleich deinen andern Schwestern!" Und sie setzte ihr einen Kranz weißer Lilien auf das Haar, aber jedes Blatt in der Blume war die Hälfte einer Perle; und die Alte ließ acht große Austern sich im Schwanze der Prinzessin festklemmen, um ihren hohen Rang zu zeigen.
"Das tut weh!" sagte die kleine Seejungfrau.
"Ja, Hoffart muss Zwang leiden!" sagte die Alte.
Oh, sie hätte gern alle diese Pracht abschütteln und den schweren Kranz ablegen mögen, ihre roten Blumen im Garten kleideten sie besser, aber sie konnte es nun nicht ändern. "Lebt wohl!" sprach sie und stieg leicht und klar, gleich einer Blase, durch das Wasser auf.
Die Sonne war eben untergegangen, als sie den Kopf über das Wasser erhob, aber alle Wolken glänzten noch wie Rosen und Gold, und inmitten der blassroten Luft strahlte der Abendstern hell und schön, die Luft war mild und frisch und das Meer ganz ruhig. Da lag ein großes Schiff mit drei Masten, ein einziges Segel war nur aufgezogen, denn es rührte sich kein Lüftchen, und ringsumher im Tauwerk und auf den Stangen saßen Matrosen. Da war Musik und Gesang, und wie der Abend dunkler ward, wurden Hunderte von bunten Laternen angezündet; sie sahen aus, als ob die Flaggen aller Völker in der Luft wehten. Die kleine Seejungfrau schwamm bis zum Kajütenfenster hin, und jedes Mal, wenn das Wasser sie emporhob, konnte sie durch die spiegelklaren Fensterscheiben blicken, wo viele geputzte Menschen standen; aber der schönste war doch der junge Prinz mit den großen, schwarzen Augen. Er war sicher nicht mehr als fünfzehn Jahre alt; heute war sein Geburtstag, und deshalb herrschte all diese Pracht. Die Matrosen tanzten auf dem Verdeck, und als der junge Prinz da hinaustrat, stiegen über hundert Raketen in die Luft, leuchteten wie der helle Tag, so dass die kleine Seejungfrau sehr erschrak und unter das Wasser tauchte. Aber bald steckte sie den Kopf wieder hervor, und da war es gerade, als ob alle Sterne des Himmels zu ihr herunterfielen. Nie hatte sie solche Feuerkünste gesehen. Große Sonnen sprühten herum, prächtige Feuerfische flogen in die blaue Luft, und alles glänzte in der klaren, stillen See wieder. Auf dem Schiffe selbst war es so hell, dass man jedes kleine Tau, wie viel mehr die Menschen sehen konnte. Oh, wie war doch der junge Prinz hübsch, und er drückte den Leuten die Hände und lächelte, während die Musik in der herrlichen Nacht erklang!
Es wurde spät, aber die kleine Seejungfrau konnte ihre Augen nicht von dem Schiffe und dem schönen Prinzen weg wenden. Die bunten Laternen wurden ausgelöscht, Raketen stiegen nicht mehr in die Höhe, es ertönten auch keine Kanonenschüsse mehr, aber tief unten im Meer summte und brummte es. Inzwischen saß sie auf dem Wasser und schaukelte auf und nieder, so dass sie in die Kajüte hinein blicken konnten. Aber das Schiff bekam mehr Wind, ein Segel nach dem andern breitete sich aus, nun gingen die Wogen stärker, große Wolken zogen auf, es blitzte in der Ferne. Oh, es würde ein schrecklich böses Wetter werden; deshalb zogen die Matrosen die Segel ein. Das große Schiff schaukelte in fliegender Fahrt auf der wilden See, das Wasser erhob sich gleich großen, schwarzen Bergen, die sich über die Maste wälzen wollten, aber das Schiff tauchte einem Schwan gleich zwischen den hohen Wogen nieder und ließ sich wieder auf die aufgetürmten Wasser heben. Der kleinen Seejungfrau dünkte es eine" recht lustige Fahrt zu sein, aber so erschien es den Seeleuten nicht. Das Schiff knackte und krachte, die dicken Planken bogen sich bei den starken Stößen, die See drang in das Schiff hinein, der Mast brach mittendurch, als ob er ein Rohr wäre, und das Schiff legte sich auf die Seite, während das Wasser in den Raum eindrang. Nun sah die kleine Seejungfrau, dass sie in Gefahr waren, sie musste sich selbst vor Balken und Stücken vom Schiff, die auf dem Wasser trieben, in acht nehmen. Einen Augenblick war es so stockdunkel, dass sie nicht das mindeste wahrnehmen konnte, aber wenn es dann blitzte, wurde es wieder so hell, dass sie alle auf dem Schiff erkennen konnte; besonders suchte sie den jungen Prinzen, und sie sah ihn, als das Schiff verschwand, in das tiefe Meer versinken. Zuerst wurde sie ganz vergnügt, denn nun kam er zu ihr hinunter, aber da gedachte sie, dass die Menschen nicht im Wasser leben können und dass er nicht anders als tot zum Schlosse ihres Vaters hinuntergelangen konnte. Nein, sterben, das durfte er nicht; deshalb schwamm sie hin zwischen Balken und Planken, die auf der See trieben, und vergaß völlig, dass diese sie hätten zerquetschen können; sie tauchte tief unter das Wasser und stieg wieder hoch zwischen den Wogen empor und gelangte am Ende so zu dem jungen Prinzen hin, der fast nicht länger in der stürmenden See schwimmen konnte; seine Arme und Beine begannen zu ermatten, die schönen Augen schlossen sich, er hätte sterben müssen, wäre die kleine Seejungfrau nicht hinzugekommen. Sie hielt seinen Kopf über dem Wasser empor und ließ sich dann mit ihm von den Wogen treiben, wohin sie wollten.
Am Morgen war das böse Wetter vorüber, von dem Schiffe war keine Spur zu erblicken, die Sonne stieg rot und glänzend aus dem Wasser empor, es war, als ob des Prinzen Wangen dadurch Leben erhielten, aber die Augen blieben geschlossen. Die Seejungfrau küsste seine hohe, schöne Stirn und strich sein nasses Haar zurück; es kam ihr vor, als gleiche er dem Marmorbilde unten in ihrem kleinen Garten, sie küsste ihn wieder und wünschte, dass er noch leben möchte.
Nun erblickte sie vor sich das feste Land, hohe, blaue Berge, auf deren Gipfel der weiße Schnee erglänzte, als wären es Schwäne, die dort lägen; unten an der Küste waren herrliche, grüne Wälder, und vorn lag eine Kirche oder ein Kloster, das wusste sie nicht recht, aber ein Gebäude war es. Zitronen- und Apfelsinenbäume wuchsen im Garten, und vor dem standen hohe Palmbäume. Die See bildete hier eine kleine Bucht, da war es ganz still, aber sehr tief; hierher bis zur Klippe, wo der weiße, feine Sand aufgespült war, schwamm sie mit dem schönen Prinzen, legte ihn in den Sand und sorgte besonders dafür, dass der Kopf hoch im warmen Sonnenschein lag.
Nun läuteten die Glocken in dem großen, weißen Gebäude, und es kamen viel junge Mädchen durch den Garten. Da schwamm die kleine Seejungfrau weiter hinaus, hinter einige hohe Steine, die aus dem Wasser emporragten, legte Seeschaum auf ihr Haar und ihre Brust, so dass niemand ihr kleines Antlitz sehen konnte, und dann passte sie auf, wer zu dem armen Prinzen kommen würde.
Es währte nicht lange, bis ein junges Mädchen dorthin kam; sie schien sehr zu erschrecken, aber nur einen Augenblick, dann holte sie mehrere Menschen, und die Seejungfrau sah, dass der Prinz zum Leben zurückkehrte und dass er alle ringsherum anlächelte, aber zu ihr hinaus lächelte er nicht, er wusste ja auch nicht, dass sie ihn gerettet hatte. Sie fühlte sich sehr betrübt, und als er in das große Gebäude hineingeführt wurde, tauchte sie traurig unter das Wasser und kehrte zum Schlosse ihres Vaters zurück.
Immer war sie still und nachdenkend gewesen, aber nun wurde sie es weit mehr. Die Schwestern fragten sie, was sie das erste Mal dort oben gesehen habe, aber sie erzählte nichts.
Manchen Abend und Morgen stieg sie da hinauf, wo sie den Prinzen verlassen hatte. Sie sah, Wie die Früchte des Gartens reiften und abgepflückt wurden, sie sah, wie der Schnee auf den hohen Bergen schmolz, aber den Prinzen erblickte sie nicht, und deshalb kehrte sie immer betrübter heim. Da war es ihr einziger Trost, in ihrem kleinen Garten zu sitzen und ihre Arme um das schöne Marmorbild zu schlingen, das dem Prinzen glich, aber ihre Blumen pflegte sie nicht, die wuchsen wie in einer Wildnis über die Gänge hinaus und flochten ihre langen Stiele und Blätter in die Zweige der Bäume hinein, so dass es dort ganz dunkel war.
Zuletzt konnte sie es nicht länger aushalten, sondern sagte es einer ihrer Schwestern, und da bekamen es gleich alle andern zu wissen, aber auch niemand sonst als diese und ein paar andere Seejungfrauen, die es nicht weiter sagten, außer ihren nächsten Freundinnen. Eine von ihnen wusste, wer der Prinz war, sie hatte auch das Fest auf (lern Schiffe gesehen und gab an, woher er war und wo sein Königsschloss lag.
Dieses war aus einer hellgelben, glänzenden Stein art ausgeführt, mit großen Marmortreppen, deren eine gerade in das Meer hinunterreichte. Prächtig vergoldete Kuppeln erhoben sich über dem Dache, und zwischen den Säulen, die um das Gebäude herumliefen, standen. Marmorbilder, die sahen aus, als lebten sie. Durch das klare Glas in den hohen Fenstern blickte man in die prächtigen Säle hinein, wo köstliche, seidene Vorhänge und Teppiche aufgehängt und alle Wände mit großen Gemälden geziert waren, so dass es ein wahres Vergnügen war,
die zu betrachten. Mitten in dem größten Saal plätscherte ein großer Springbrunnen, seine Strahlen reichten hoch hinauf gegen die Glaskuppel in der Decke. Durch diese Kuppel aber schien die Sonne auf das Wasser und die schönen Pflanzen, die in dem großen Becken wuchsen.
Nun wusste die kleine Seejungfrau, wo er wohnte, und dort war sie manchen Abend und manche Nacht auf dem Wasser; sie schwamm dem Lande weit näher, als eine der andern es gewagt hatte, ja, sie ging den schmalen Kanal ganz hinauf, unter den prächtigen Marmoraltar, der einen langen Schatten über das Wasser hinwarf. Hier saß sie und betrachtete den jungen Prinzen, der glaubte, er sei ganz allein in dem klaren Mondschein.
Sie sah ihn manchen Abend mit Musik in seinem prächtigen Boote, von dem die Flaggen wehten, segeln; sie lauschte durch das grüne Schilf hervor; und ergriff der Wind ihren langen, silberweißen Schleier und jemand sah ihn, so glaubte er, es sei ein Schwan, der die Flügel ausbreitete.
Sie hörte in mancher Nacht, wenn die Fischer mit Fackeln auf der See waren, dass sie viel Gutes von dem jungen Prinzen erzählten, und es freute sie, dass sie sein Leben gerettet hatte, als er halbtot auf den Wogen herumtrieb, und sie dachte daran, wie fest sein Haupt an ihrem Busen geruht und wie herzlich sie ihn da geküsst hatte; er wusste gar nichts davon, konnte nicht einmal von ihr träumen.
Mehr und mehr fing sie an, die Menschen zu lieben, mehr und mehr wünschte sie, unter ihnen umherwandeln zu können, deren Welt ihr weit größer zu sein schien als die ihrige; sie konnten ja auf Schiffen über das Meer fliegen, auf den hohen Bergen hoch über die Wolken emporsteigen, und die Länder, die sie besaßen, erstreckten sich mit Wäldern und Feldern weiter, als ihre Blicke reichten. Da war so vieles, was sie zu wissen wünschte, aber die Schwestern wussten ihr nicht alles zu beantworten, deshalb fragte sie die alte Großmutter, und diese kannte die höhere Welt recht gut, die sie sehr richtig die Länder über dem Meer nannte.
„Wenn die Menschen nicht ertrinken", fragte die kleine Seejungfrau, können sie dann ewig leben, sterben sie nicht wie wir unten im Meer?"
„Ja", sagte die Alte, sie müssen auch sterben, und ihre Lebenszeit ist sogar noch kürzer als die unsere. Wir können dreihundert Jahre alt werden, aber wenn wir dann aufhören zu sein, so werden wir in Schaum auf dem Wasser verwandelt, haben nicht einmal ein Grab hier unten unter unsern Lieben. Wir haben keine unsterbliche Seele, wir erhalten nie wieder Leben, wir sind gleich dem grünen Schilf, ist das einmal durchschnitten, so kann es nicht wieder grünen. Die Menschen dahingegen haben eine Seele, die ewig lebt, nachdem der Körper zu Erde geworden ist; sie steigt hinauf zu den glänzenden Sternen! So wie wir aus dem Wasser auftauchen und die Länder der Menschen erblicken, so steigen sie zu unbekannten, herrlichen Orten auf, die wir nie zu sehen bekommen."
"Warum bekamen wir keine unsterbliche Seele?" fragte die kleine Seejungfrau betrübt. "Ich möchte alle meine Hunderte von Jahren, die ich zu leben habe, dafür geben, um nur einen Tag ein Mensch zu sein und dann Anteil an der himmlischen Welt zu haben."
"Daran musst du nicht denken!" sagte die Alte. "Wir fühlen uns weit glücklicher und besser als die Menschen dort oben!"
"Ich werde also sterben und als Schaum auf dem Meer treiben, nicht die Musik der Wogen hören, die Blumen und die Sonne sehen? Kann ich denn gar nichts tun, um eine unsterbliche Seele zu gewinnen?"
"Nein", sagte die Alte, "nur wenn ein Mensch dich so lieben würde, dass du ihm mehr als Vater und Mutter wärest; wenn er mit all seinem Denken und all seiner Liebe an dir hinge, seine rechte Hand in die deinige legen wollte, mit dem Versprechen der Treue hier und in alle Ewigkeit, dann flösse seine Seele in deinen Körper über, und auch du erhieltest Anteil an der Glückseligkeit der Menschen. Er gäbe dir Seele und behielte doch seine eigene. Aber das kann nie geschehen! Was hier im Meer gerade schön ist, dein Fischschwanz, den finden sie dort auf der Erde hässlich, sie verstehen es nun nicht besser, man muss dort zwei plumpe Stützen haben, die sie Beine nennen, um schön zu sein!"
Da seufzte die kleine Seejungfrau und sah betrübt auf ihren Fischschwanz.
"Lass uns froh sein!" sagte die Alte. "Hüpfen und springen wollen wir in den dreihundert Jahren, die wir zu leben haben. Das ist wahrlich lange Zeit genug, später kann man um so besser ausruhen. Heute Abend werden wir Hofball haben!"
Das war auch eine Pracht, wie man sie nie auf Erden erblickt. Die Wände und die Decke des großen Tanzsaales waren von dickem, aber klarem Glase. Mehrere hundert ungeheure Muschelschalen, rosenrote und grasgrüne, standen zu jeder Seite in Reihen mit einem blau brennenden Feuer, das den ganzen Saal beleuchtete und durch die Wände hinaus schien, so dass die See draußen ganz beleuchtet war. Man konnte alle die unzähligen Fische sehen, große und kleine, die gegen die Glasmauern hin schwammen; auf einigen glänzten die Schuppen purpurrot, auf andern erschienen sie wie Silber und Gold. - Mitten durch den Saal floss ein breiter Strom, und auf ihm tanzten die Meermänner und Meerweibchen zu ihrem eigenen lieblichen Gesang. So schöne Stimmen haben die Menschen auf der Erde nicht. Die kleine Seejungfrau sang am schönsten von ihnen allen, sie wurde deshalb beklatscht, und einen Augenblick fühlte sie eine Freude in ihrem Herzen, denn sie wusste, dass sie die schönste Stimme von allen auf der Erde und im Meere hatte. Aber bald gedachte sie wieder der Welt oben über sich; sie konnte den hübschen Prinzen und ihren Kummer, dass sie keine unsterbliche Seele wie er besaß, nicht vergessen. Deshalb schlich sie sich aus ihres Vaters Schloss hinaus, und während alles drinnen Gesang und Frohsinn war, saß sie betrübt in ihrem kleinen Garten. Da hörte sie das Waldhorn durch das Wasser ertönen, und sie dachte: ,Nun segelt er sicher dort oben, er, von dem ich mehr halte als von Vater und Mutter, er, an dem meine Sinne hängen und in dessen Hand ich meines Lebens Glück legen möchte. Alles will ich wagen, um ihn und eine unsterbliche Seele zu gewinnen! Während meine Schwestern dort in meines Vaters Schloss tanzen, will ich zur Meerhexe gehen, vor der ich mich immer gefürchtet habe, aber sie kann mir vielleicht raten und helfen!'
Nun ging die kleine Seejungfrau aus ihrem Garten hinaus nach den brausenden Strudeln hin, hinter denen die Hexe wohnte. Den Weg hatte sie früher nie zurückgelegt; da wuchsen keine Blumen, kein Seegras, nur der nackte, graue Sandboden erstreckte sich gegen die Strudel hin, wo das Wasser gleich brausenden Mühlrädern herumwirbelte und alles, was es erfasste, mit sich in die Tiefe riss. Mitten zwischen diesen zermalmenden Wirbeln musste sie hindurch, um in den Bereich der Meerhexe zu gelangen, und hier war ein langes Stück kein anderer Weg als über warmen sprudelnden Schlamm, den die Hexe ihr Torfmoor nannte. Dahinter lag ihr Haus mitten in einem seltsamen Walde. Alle Bäume und Büsche waren Polypen, halb Tier, halb Pflanze, sie sahen aus wie hundertköpfige Schlangen, die aus der Erde hervor wuchsen; alle Zweige waren lange, schleimige Arme mit Fingern wie geschmeidige Würmer, und Glied um Glied bewegten sie sich, von der Wurzel bis zur äußersten Spitze. Alles, was sie im Meer erfassen konnten, umschlangen sie fest und ließen es nie wieder fahren. Die kleine Seejungfrau blieb ganz erschrocken stehen; ihr Herz pochte vor Furcht, fast wäre sie umgekehrt, aber sie dachte an den Prinzen und an die Seele des Menschen, und da bekam sie Mut. Ihr langes, fliegendes Haar band sie fest um das Haupt, damit die Polypen sie nicht daran ergreifen möchten, beide Hände legte sie über ihre Brust zusammen und schoss so davon, wie der Fisch durch das Wasser schießen kann, zwischen den hässlichen Polypen hindurch, die ihre geschmeidigen Arme und Finger hinter ihr herstreckten. Sie sah, wie jeder von ihnen etwas, das er ergriffen hatte, mit Hunderten von kleinen Armen, gleich starken Eisenbanden, hielt. Menschen, die auf der See umgekommen und tief hinunter gesunken waren, sahen als weiße Gerippe aus den Armen der Polypen hervor. Schiffsruder und Kisten hielten sie fest, Knochen von Landtieren und ein kleines Meerweib, das sie gefangen und erstickt hatten, das war ihr das Schrecklichste.
Nun kam sie zu einem großen, sumpfigen Platz im Walde, wo große, fette Wasserschlangen sich wälzten und ihren hässlichen, weißgelben Bauch zeigten. Mitten auf dem Platze war ein Haus, von weißen Knochen gestrandeter Menschen errichtet, da saß die Meerhexe und ließ eine Kröte aus ihrem Munde fressen, gerade wie die Menschen einem kleinen Kanarienvogel Zucker zu essen geben. Die hässlichen, fetten Wasserschlangen nannte sie ihre Küchlein und ließ sie sich auf ihrer Brust ringeln.
"Ich weiß schon was du willst!" sagte die Meerhexe; "es ist zwar dumm von dir, doch sollst du deinen Willen haben, denn er wird dich ins Unglück stürzen, meine schöne Prinzessin. Du willst gern deinen Fischschwanz los sein und statt dessen zwei Stützen gleich wie die Menschen zum Gehen haben, damit der junge Prinz verliebt in dich werden möge und du ihn und eine unsterbliche Seele erhalten kannst!" Dabei lachte die Hexe widerlich, so dass die Kröte und die Schlange auf die Erde fielen, wo sie sich wälzten. "Du kommst gerade zur rechten Zeit", sagte die Hexe, "morgen, wenn die. Sonne aufgeht, könnte ich dir nicht helfen, bis wieder ein Jahr vorüber wäre. Ich werde dir einen Trank bereiten, mit dem musst du, bevor die Sonne aufgeht, nach dem Lande schwimmen, dich dort an das Ufer setzen und ihn trinken, dann schwindet dein Schweif und schrumpft zu dem, was die Menschen niedliche Beine nennen, ein; aber das tut weh, es ist, als ob ein scharfes Schwert dich durchdränge. Alle, die dich sehen, werden sagen, du seiest das schönste Menschenkind, was sie gesehen haben! Du behältst deinen schwebenden Gang, keine Tänzerin kann schweben wie du, aber bei jedem Schritt, den du machst, ist dir, als ob du auf scharfe Messer trätest, als ob dein Blut fließen müsste. Willst du alles dies leiden, so werde ich dir helfen!"
"Ja!" sagte die kleine Seejungfrau mit bebender Stimme und gedachte des Prinzen und der unsterblichen Seele.
"Aber bedenke", sagte die Hexe, "hast du erst menschliche Gestalt bekommen, so kannst du nie wieder eine Seejungfrau werden! Du kannst nie durch das Wasser zu deinen Schwestern und zum Schlosse deines Vaters zurückkehren, und gewinnst du des Prinzen Liebe nicht, so dass er für dich Vater und Mutter vergisst, an dir mit Leib und Seele hängt und ihr Mann und Frau werdet, so bekommst du keine unsterbliche Seele! Am ersten Morgen, nachdem er mit einer andern verheiratet ist, da wird dein Herz brechen, und du wirst zu Schaum auf dem Wasser."
"Ich will es!" sagte die kleine Seejungfrau und ward bleich wie der Tod. "Aber du musst mich auch bezahlen!" sagte die Hexe, "und es ist nicht wenig, was ich verlange. Du hast die schönste Stimme von allen hier auf dem Grunde des Meeres, damit glaubst du wohl, ihn bezaubern zu können, aber diese Stimme musst du mir geben. Das Beste, was du besitzest, will ich für meinen köstlichen Trank haben! Mein eigen Blut muss ich dir ja darin geben, damit der Trank scharf werde wie ein zweischneidig Schwert!"
"Aber wenn du meine Stimme nimmst", sagte die kleine Seejungfrau, "was bleibt mir dann übrig?"
"Deine schöne Gestalt", sagte die Hexe, "dein schwebender Gang und deine sprechenden Augen, damit kannst du schon ein Menschenherz betören. Nun, hast du den Mut verloren? - Strecke deine kleine Zunge hervor, dann schneide ich sie an Zahlungsstatt ab, und du erhältst den kräftigen Trank!"
"Es geschehe!", sagte die kleine Seejungfrau, und die Hexe setzte ihren Kessel auf, um den Zaubertrank zu kochen. "Reinlichkeit ist eine gute Sache!" sagte sie und scheuerte den Kessel mit den Schlangen ab, die sie in einen Knoten band; nun ritzte sie sich selbst in die Brust und ließ ihr schwarzes Blut dahinein tröpfeln; der Dampf bildete die sonderbarsten Gestalten, so dass einem angst und bange werden musste. Jeden Augenblick warf die alte Hexe neue Sachen in den Kessel, und als es recht kochte, klang es, als ob ein Krokodil weinte. Zuletzt war der Trank fertig, er sah aus wie das klarste Wasser.
"Da hast du ihn!", sagte die Hexe und schnitt der kleinen Seejungfrau die Zunge ab, die nun stumm war, weder singen noch sprechen konnte.
"Sollten die Polypen dich ergreifen, wenn du durch meinen Wald zurückkehrst", sagte die Hexe, "so wirf nur einen einzigen Tropfen dieses Getränkes auf sie, davon zerspringen ihre Arme und Finger in tausend Stücke!" Aber das brauchte die kleine Seejungfrau nicht zu tun, die Polypen zogen sich erschrocken vor ihr zurück, als sie den glänzenden Trank erblickten, der in ihrer Hand leuchtete, als sei es ein funkelnder Stern. So kam sie schnell durch den Wald, das Moor und die Strudel.
Sie konnte ihres Vaters Schloss sehen, die Fackeln waren in dem großen Tanzsaal erloschen; sie schliefen sicher alle darin, aber sie wagte doch nicht, sie aufzusuchen, nun, da sie stumm war und sie auf immer verlassen wollte. Es war, als ob ihr Herz vor Trauer zerspringen sollte. Sie schlich in den Garten, nahm eine Blume von jedem Blumenbeet ihrer Schwestern, warf tausend Kussfinger dem Schlosse zu und stieg durch die dunkelblaue See hinauf.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als sie des Prinzen Schloss erblickte und die prächtige Marmortreppe hinaufstieg. Der Mond schien herrlich klar. Die kleine Seejungfrau trank den brennenden, scharfen Trank, und es war, als ginge ein zweischneidig Schwert durch ihren feinen Körper, sie fiel dabei in Ohnmacht und lag wie tot da. Als die Sonne über die See schien, erwachte sie und fühlte einen schneidenden Schmerz, aber vor ihr stand der schöne junge Prinz und heftete seine kohlschwarzen Augen auf sie, so dass sie die ihrigen niederschlug. Da sah sie, dass ihr Fischschwanz fort war und dass sie die niedlichsten, kleinen weißen Beine hatte, die nur ein Mädchen haben kann; aber sie war ganz nackt, deshalb hüllte sie sich in ihr dichtes, langes Haar ein. Der Prinz fragte, wer sie sei und wie sie dahin gekommen sei, und sie sah ihn milde und doch betrübt mit ihren dunkelblauen Augen an, sprechen konnte sie ja nicht. Da nahm er sie bei der Hand und führte sie in das Schloss hinein. Bei jedem Schritt, den sie tat, war ihr, wie die Hexe vorausgesagt hatte, als träte sie auf spitze Nadeln und scharfe Messer, aber das ertrug sie gern; an des Prinzen Hand stieg sie so leicht wie eine Seifenblase, und er sowie alle wunderten sich über ihren lieblichen, schwebenden Gang.
Köstliche Kleider von Seide und Musselin bekam sie nun anzuziehen, im Schlosse war sie die schönste von allen, aber sie war stumm, konnte weder singen noch sprechen. Herrliche Sklavinnen, in Seide und Gold gekleidet, kamen hervor und sangen vor dem Prinzen und seinen königlichen Eltern; eine sang schöner als alle die andern, und der Prinz klatschte in die Hände und lächelte sie an, da wurde die kleine Seejungfrau betrübt, sie wusste, dass sie selbst weit schöner gesungen- hatte, ,Oh', dachte sie, ,er sollte nur wissen, dass ich, um bei ihm zu sein, meine Stimme für alle Ewigkeit dahingegeben habe.'
Nun tanzten die Sklavinnen niedliche, schwebende Tänze zur herrlichsten Musik; da erhob die kleine Seejungfrau ihre schönen, weißen Arme, richtete sich auf den Zehenspitzen empor und schwebte tanzend über den Fußboden hin, wie noch keine getanzt hatte; bei jeder Bewegung wurde ihre Schönheit noch sichtbarer, und ihre Augen sprachen tiefer zum Herzen als der Gesang der Sklavinnen.
Alle waren entzückt davon, besonders der Prinz, der sie sein kleines Findelkind nannte, und sie tanzte immerfort, obwohl es jedes Mal, wenn ihr Fuß die Erde berührte, war, als ob sie auf scharfe Messer träte. Der Prinz sagte, dass sie immer bei ihm sein solle, und sie erhielt die Erlaubnis, vor seiner Tür auf einem Samtkissen zu schlafen.
Er ließ ihr eine Männertracht machen, damit sie ihn zu Pferde begleiten könne. Sie ritten durch die duftenden Wälder, wo die grünen Zweige ihre Schultern berührten und die kleinen Vögel hinter den frischen Blättern sangen. Sie kletterte mit dem Prinzen auf die hohen Berge hinauf, und obgleich ihre zarten Füße bluteten, so dass die anderen es sehen konnten, lachte sie doch darüber und folgte ihm, bis sie die Wolken unter sich segeln sahen, als wäre es ein Schwarm Vögel, die nach fremden Ländern zögen.
Zu Hause in des Prinzen Schloss, wenn nachts die andern schliefen, ging sie auf die breite Marmortreppe hinaus, kühlte ihre brennenden Füße im kalten Seewasser und gedachte derer dort unten in der Tiefe.
Einmal nachts kamen ihre Schwestern Arm in Arm, sie sangen sehr traurig, indem sie über dem Wasser schwammen, und sie winkte ihnen, und sie erkannten sie und erzählten, wie sie sie allesamt betrübt habe. Darauf besuchten sie die jüngste Schwester in jeder Nacht, und einst erblickte sie auch in weiter Ferne ihre alte Großmutter, die in vielen Jahren nicht über der Meeresfläche gewesen war, und den Seekönig, mit seiner Krone auf dem Haupte; sie streckten beide die Hände gegen sie aus, wagten sich aber dem Lande nicht so nahe wie die Schwestern.
Tag für Tag wurde sie dem Prinzen lieber, er hatte sie so lieb, wie man nur ein gutes, liebes Kind lieben kann, aber sie zur Königin zu machen, kam ihm nicht in den Sinn, und seine Frau musste sie doch werden, sonst erhielt sie keine unsterbliche Seele und musste an seinem Hochzeitsmorgen zu Schaum auf dem Meere werden.
"Liebst du mich nicht am meisten von ihnen allen?", schienen der kleinen Seejungfrau Augen zu sagen, wenn er sie in seine Arme nahm und ihre schöne Stirne küsste.
,,Ja, du bist mir die liebste", sagte der Prinz, "denn du hast das beste Herz von allen, du bist mir am meisten ergeben, und du gleichst einem jungen Mädchen, das ich einmal sah, aber sicher nie wieder finde. Ich war auf einem Schiffe, das strandete, die Wellen warfen mich bei einem Tempel an das Land, wo mehrere junge Mädchen den Dienst verrichteten. Die jüngste dort fand mich am Ufer und rettete mein Leben; ich sah sie nur zweimal; sie wäre die einzige, die ich in dieser Welt lieben könnte, aber du gleichst ihr, du verdrängst fast ihr Bild aus meiner Seele, sie gehört dem heiligen Tempel an, und deshalb hat mein gutes Glück dich mir gesendet, nie wollen wir uns trennen!" ,Ach, er weiß nicht, dass ich sein Leben gerettet habe!', dachte die kleine Seejungfrau. ‚Ich trug ihn über das Meer zum Walde hin, wo der Tempel steht, ich saß hinter dem Schaume und sah, ob keine Menschen kommen würden. Ich sah das hübsche Mädchen, das er mehr liebt als mich!' Und die Seejungfrau seufzte tief, weinen konnte sie nicht. ,Das Mädchen gehört dem heiligen Tempel an, hat er gesagt, sie kommt nie in die Welt hinaus, sie begegnen sich nicht mehr, ich bin bei ihm, sehe ihn jeden Tag, ich will ihn pflegen, lieben, ihm mein Leben opfern!'
Aber nun sollte der Prinz sich verheiraten und des Nachbarkönigs schöne Tochter haben, erzählte man, deswegen rüstete er ein prächtiges Schiff aus. Der Prinz reist, um des Nachbarkönigs Länder zu besichtigen, heißt es wohl, aber es geschieht, um des Nachbarkönigs Tochter zu sehen, ein großes Gefolge soll ihn begleiten; aber die kleine Seejungfrau schüttelte das Haupt und lächelte; sie kannte des Prinzen Gedanken weit besser als die andern. "Ich muss reisen!", hatte er zu ihr gesagt. "Ich muss die schöne Prinzessin sehen, meine Eltern verlangen es, aber sie wollen mich nicht zwingen, sie als meine Braut heimzuführen. Ich kann sie nicht lieben, sie gleicht nicht dem schönen Mädchen im Tempel, der du ähnlich bist; sollte ich einst eine Braut wählen, so würdest du es eher sein, mein liebes, gutes Findelkind mit den sprechenden Augen!" Und er küsste sie, spielte mit ihren schönen, langen Haaren und legte sein Haupt an ihr Herz, so dass es von Menschenglück und einer unsterblichen Seele träumte.
"Du fürchtest doch das Meer nicht, mein stummes Kind?", sagte er, als sie auf dem prächtigen Schiffe standen, das ihn nach dem Lande des Nachbarkönigs führen sollte, und er erzählte ihr vom Sturm und von der Windstille, von seltsamen Fischen in der Tiefe und was die Taucher dort gesehen, und sie lächelte bei seiner Erzählung, sie wusste ja besser als sonst jemand auf dem Grunde des Meeres Bescheid.
In der mondhellen Nacht, wenn sie alle bis auf den Steuermann, der am Ruder stand, schliefen, saß sie an dem Bord des Schiffes und starrte durch das klare Wasser hinunter, und sie glaubte ihres Vaters Schloss zu erblicken; hoch auf dem Dach stand die alte Großmutter mit der Silberkrone auf dem Haupte und starrte durch die reißenden Ströme nach des Schiffes Kiel empor. Da kamen ihre Schwestern über das Wasser hervor und starrten sie traurig an und rangen ihre weißen Hände; sie winkte ihnen zu, lächelte und wollte erzählen, dass es ihr gut gehe, dass sie glücklich sei, aber der Schiffsjunge näherte sich ihr, und die Schwestern tauchten unter, so dass er glaubte, das Weiße, was er gesehen, sei nur Schaum auf der See gewesen.
Am nächsten Morgen segelte das Schiff in den Hafen von des Nachbarkönigs prächtiger Stadt. Alle Kirchenglocken läuteten, und von den hohen Türmen wurden die Posaunen geblasen, während die Soldaten mit fliegenden Fahnen und blitzenden Bajonetten in Reihe und Glied dastanden. Jeder Tag führte ein neues Fest mit sich. Bälle und Gesellschaften folgten einander, aber die Prinzessin war noch nicht da, sie werde weit davon entfernt in einem Tempel erzogen, sagten sie, dort lerne sie alle königlichen Tugenden. Endlich traf sie ein.
Die kleine Seejungfrau war begierig, ihre Schönheit zu sehen, und sie musste anerkennen, dass sie eine lieblichere Erscheinung noch nie gesehen habe. Die Haut war fein und klar, und hinter den langen, dunklen Augenwimpern lächelten ein Paar schwarzblaue, treue Augen.
"Du bist es", sagte der Prinz, "du, die mich gerettet hat, als ich einer Leiche gleich an der Küste lag!" Und er drückte seine errötende Braut in seine Arme. "Oh, ich bin allzu glücklich!" sagte er zur kleinen Seejungfrau. "Das Beste, was ich je hoffen durfte, ist mir in Erfüllung gegangen. Du wirst dich über mein Glück freuen, denn du meinst es am besten mit mir von allen!" Die kleine Seejungfrau küsste seine Hand, und es war ihr, als fühle sie ihr Herz brechen. Sein Hochzeitsmorgen sollte ihr ja den Tod geben und sie in Schaum auf dem Meere verwandeln.
Alle Kirchenglocken läuteten, die Herolde ritten in den Straßen umher und verkündeten die Verlobung. Auf allen Altären brannte duftendes öl in köstlichen Silberlampen. Die Priester schwangen die Räucherfässer, und Braut und Bräutigam reichten einander die Hand und erhielten den Segen des Bischofs. Die kleine Seejungfrau stand in Seide und Gold und hielt die Schleppe der Braut, aber ihre Ohren hörten die festliche Musik nicht, ihr Auge sah die heilige Handlung nicht, sie gedachte ihrer Todesnacht und alles dessen, was sie in dieser Welt verloren hatte.
Noch an demselben Abend gingen die Braut und der Bräutigam an Bord des Schiffes; die Kanonen donnerten, alle Flaggen wehten, und mitten auf dem Schiffe war ein köstliches Zelt von Gold und Purpur und mit den schönsten Kissen errichtet, da sollte das Brautpaar in der stillen, kühlen Nacht schlafen.
Die Segel schwollen im Winde, und das Schiff glitt leicht und ohne große Bewegung über die klare See dahin.
Als es dunkelte, wurden bunte Lampen angezündet, und die Seeleute tanzten lustige Tänze auf dem Verdeck. Die kleine Seejungfrau musste ihres ersten Auftauchens aus dem Meere gedenken, wo sie dieselbe Pracht und Freude erblickt hatte, und sie drehte sich mit im Tanze, schwebte, wie die Schwalbe schwebt, wenn sie verfolgt wird, und alle jubelten ihr Bewunderung zu, nie hatte sie so herrlich getanzt. Es schnitt wie scharfe Messer in die zarten Füße, aber sie fühlte es nicht; es schnitt ihr noch schmerzlicher durch das Herz. Sie wusste, es war der letzte Abend, an dem sie ihn erblickte, für den sie ihre Verwandten und ihre Heimat verlassen, ihre schöne Stimme dahingegeben und täglich unendliche Qualen ertragen, ohne dass er eine Ahnung davon hatte. Es war die letzte Nacht, dass sie dieselbe Luft mit ihm einatmete, das tiefe Meer und den sternklaren Himmel erblickte, eine ewige Nacht ohne Gedanken und Traum harrte ihrer, die keine Seele hatte, keine Seele gewinnen konnte. Alles war Freude und Heiterkeit auf dem Schiffe bis weit über Mitternacht hinaus, sie lachte und tanzte mit Todesgedanken im Herzen. Der Prinz küsste seine schöne Braut,. und sie spielte mit seinen schwarzen Haaren, und Arm in Arm gingen sie zur Ruhe in das prächtige Zelt.
Es wurde tot und stille auf dem Schiffe, nur der Steuermann stand am Ruder, die kleine Seejungfrau legte ihre weißen Arme auf den Schiffsrand und blickte gegen Osten nach der der Morgenröte, der erste Sonnenstrahl, wusste sie, wurde sie töten. Da sah sie ihre Schwestern aus dem Meere aufsteigen, sie waren bleich wie sie; ihre langen, schönen Haare wehten nicht mehr im Winde, sie waren abgeschnitten.
"Wir haben sie der Hexe gegeben, um dir Hilfe bringen zu können, damit du diese Nacht nicht sterben musst! Sie hat uns ein Messer gegeben, hier ist es! Siehst du, wie scharf? Bevor die Sonne aufgeht, musst du es in das Herz des Prinzen stechen, und wenn dann das warme Blut auf deine Füße spritzt, so wachsen diese in einen Fischschwanz zusammen, und du wirst wieder eine Seejungfrau, kannst zu uns herabsteigen und lebst deine dreihundert Jahre, bevor du der tote, salzige Meerschaum wirst. Beeile dich! Einer von euch muss sterben, er oder du, bevor die Sonne aufgeht! Unsere alte Großmutter trauert so, dass ihr weißes Haar gefallen ist wie das unsrige, von der Schere der Hexe. Töte den Prinzen und komm zurück! Beeile dich, siehst du den roten Streifen am Himmel? In wenigen Minuten steigt die Sonne auf, und dann musst du sterben!" Und sie stießen einen tiefen Seufzer aus und versanken in die Wogen.
Die kleine Seejungfrau zog den Purpurteppich vom Zelte fort, und sie sah die schöne Braut mit ihrem Haupte an des Prinzen Brust ruhen. Sie bog sich nieder, küsste ihn auf seine schöne Stirn, blickte gen Himmel auf, wo die Morgenröte mehr und mehr leuchtete, betrachtete das scharfe Messer und heftete die Augen wieder auf den Prinzen, der im Traum seine Braut beim Namen nannte; nur sie war in seinen Gedanken, und das Messer zitterte in der Seejungfrau Hand - aber da warf sie es weit hinaus in die Wogen, die glänzten rot; wo es hinfiel, sah es aus, als keimten Blutstropfen aus dem Wasser auf. Noch einmal sah sie mit halbgebrochenem Blick auf den Prinzen, stürzte sich vom Schiffe in das Meer hinab und fühlte, wie ihr Körper sich in Schaum auflöste.
Nun stieg die Sonne aus dem Meere, die Strahlen fielen mild und warm auf den todkalten Meeresschaum, und die kleine Seejungfrau fühlte nichts vom Tode; sie sah die klare Sonne, und oben über ihr schwebten Hunderte von durchsichtigen, herrlichen Geschöpfen, sie konnte durch sie des Schiffes weiße Segel und des Himmels rote Wolken erblicken. Ihre Sprache war melodisch, aber so geistig, dass kein menschliches Ohr sie vernehmen, ebenso wie kein menschliches Auge sie erblicken konnte; ohne Schwingen schwebten sie vermittels ihrer eigenen Leichtigkeit durch die Luft. Die kleine Seejungfrau sah, dass sie einen Körper hatte wie diese, der sich mehr und mehr aus dem Schaume erhob.
"Zu wem komme ich?", fragte sie, und ihre Stimme klang wie die der andern Wesen, so geistig, dass keine irdische Musik sie wiederzugeben vermag.
"Zu den Töchtern der Luft!" erwiderten die andern. "Die Seejungfrau hat keine unsterbliche Seele, kann sie nie erhalten, wenn sie nicht eines Menschen Liebe gewinnt; von einer fremden Macht hängt ihr ewiges Dasein ab. Die Töchter der Luft haben auch keine ewige Seele, aber sie können durch gute Handlungen sich selbst eine schaffen. Wir fliegen nach den warmen Ländern, dort fächeln wir Kühlung. Wir breiten den Duft der Blumen durch die Luft aus und senden Erquickung und Heilung. Wenn wir dreihundert Jahre lang gestrebt haben, alles Gute, was wir vermögen, zu vollbringen, so erhalten wir eine unsterbliche Seele und nehmen teil an dem ewigen Glücke der Menschen. Du arme, kleine Seejungfrau hast mit ganzem Herzen gelitten und geduldet, nun kannst du dir selbst durch gute Werke nach drei Jahrhunderten eine unsterbliche Seele schaffen."
Die kleine Seejungfrau erhob ihre verklärten Arme gegen Gottes Sonne, und zum ersten Mal fühlte sie Tränen in ihren Augen. - Auf dem Schiffe war wieder Lärm und Leben, sie sah den Prinzen mit seiner schönen Braut nach ihr suchen; wehmütig starrten sie den perlenden Schaum an, als ob sie wüssten, dass sie sich in die Fluten gestürzt habe. Unsichtbar küsste sie die Stirn der Braut, lächelte ihn an und stieg mit den übrigen Kindern der Luft auf die rosenrote Wolke hinauf, die den Äther durchschiffte.

Der Schneemann

"Es knackt und prasselt in mir, so schön kalt ist es!", sagte der Schneemann. "Der eisige Wind bringt einem fürwahr Leben in die Glieder. Und sieh nur, wie die große Lampe da oben verglüht!" Er meinte die untergehende Sonne. "Sie soll mich nicht zum Blinzeln bringen, ich halte meine Bruchstücke schon noch zusammen."
Es waren zwei große dreieckige Dachziegelstücke, die ihm als Augen dienten. Ein Stück von einem alten Rechen war sein Mund, er hatte also auch Zähne.
Er war unter Hurrarufen der Knaben geboren, begrüßt von dem Schellengeläute und dem Peitschenknall der Schlitten.
Die Sonne ging unter und der Vollmond ging auf, rund und groß, klar und schön in der blauen Luft.
"Nun haben wir sie wieder von einer anderen Seite", sagte der Schneemann. Er glaubte, es wäre die Sonne, die sich abermals zeigte. "Ich habe es ihr abgewöhnt, mich anzuglühen und anzuglotzen! Nun kann sie dort oben hängen und so viel Licht verbreiten, dass ich mich selbst sehen kann. Wüsste ich nur, wie man es anzustellen hat, um vom Flecke zu kommen. Könnte ich es, so würde ich jetzt auf das Eis hinuntergehen, um zu schlittern, wie ich es die Knaben tun sah. Aber ich verstehe nicht zu laufen."
"Weg, weg!" bellte der Kettenhund, der etwas heiser geworden, seit': dem er nicht mehr Stubenhund war, "die Sonne wird dich schon laufen lehren, das habe ich an deinen Vorgängern gesehen. Weg, weg!' und weg sind sie alle."
"Ich verstehe dich nicht, Kamerad!" sagte der Schneemann. "Soll mich etwa die da oben laufen lehren?" Er meinte den Mond. "Sie lief freilich vorher, als ich sie starr ansah, und jetzt schleicht sie sich wieder von einer anderen Seite heran.“
„Du weißt nichts“, sagte der Kettenhund, „aber du bist ja auch erst vor kurzem zusammengeklatscht worden! Das, was du siehst, he9ßt Mond, und das, was unterging, war die Sonne. Sie kommt morgen wieder und wird dich dann schon lehren, in den Wallgraben hinunterzulaufen.“

„Ich verstehe nicht“, sprach der Schneemann bei sich selbst, „aber ich habe eine Empfindung davon, dass es etwas Unangenehmes ist, was er mir andeutet. Sie, die er die Sonne nennt, ist meine Feindin.“

„Weg, weg!“, bellte der Kettenhund, ging dreimal im Kreis um sich selbst und legte sich in seine Hütte, um zu schlafen.
Es trat eine Veränderung im Wetter ein. Ein dicker und feuchter Nebel legte sich am Morgen über die ganze Gegend. Kurz vor Aufgang der Sonne fing es ein wenig an zu wehen. Der Wind war eisig und der Frost durchschüttelte jeden; aber welch ein herrliche4r Anblick bot sich dar, als sich nun die Sonne erhob! Alle Bäume und Sträucher waren mit Reif bedeckt. Die Gegend glich einem ganzen Walde weißer Korallen. Es sah aus, als ob alle Zweige von blendend weißen Blüten bedeckt wären. Es war eine Pracht. Als dann die Sonne schien, funkelte alles, als wäre es mit Diamantenstaub überschüttet.
"Ach, wie herrlich das ist!" sagte ein junges Mädchen, das mit einem jungen Mann in den Garten hinaustrat und gerade neben dem Schneemann haltmachte, von wo sie sich die schimmernden Bäume anblickten. "Einen schöneren Anblick hat man selbst im Sommer nicht!" sagte sie, und ihre Augen strahlten.
"Und so ein Kerl, wie dieser hier, hat man erst gar nicht", entgegnete der junge Mann und zeigte auf den Schneemann hin. "Er ist ausgezeichnet!"
Das Mädchen lächelte, nickte dem Schneemann zu und tänzelte dann mit dem Freund über den knirschenden Schnee.
"Wer waren die beiden?" fragte der Schneemann den Kettenhund.
"Du bist älter auf dem Hof als ich, kennst du sie?"
"Versteht sich!" sagte der Kettenhund. "Sie hat mich ja gestreichelt und er mir öfters einen Knochen gegeben. Die beiße ich nicht."
"Aber was stellen sie hier vor?" fragte der Schneemann.
"Brautleute!" erwiderte der Kettenhund. "Sie gehören zur Herrschaft.
Man ist doch noch recht dumm, wenn man kaum erst geboren ist, das merke ich an dir! Ich bin alt und besitze Kenntnisse, ich kenne alle auf dem Hof. Und ich habe eine Zeit gekannt, wo ich hier nicht in der Kälte und an der Kette stand. Weg, weg!"
"Die Kälte ist prächtig", sagte der Schneemann. "Erzähle, erzähle!
Aber du musst mit deiner Kette nicht so rasseln, denn dabei knackt es gleich in mir."
"Weg, weg!" bellte der Kettenhund. "Ich bin ein Hündchen gewesen, klein und niedlich, sagten sie. Damals lag ich drinnen im Schoß auf einem Samtstuhl, lag auf dem Schoße der Herrin. Ich hieß der ,Hübscheste', der ,Schönfuß'. Dann wurde ich der Herrschaft zu groß und sie gaben mich deshalb der Haushälterin. Ich kam in die Kellerwohnung. Von dort, wo du stehst, kannst du gerade in die Kammer hineinsehen, in der ich ,die Herrschaft' gewesen bin, denn das war ich bei der Haushälterin. Es war wohl ein geringerer Platz als oben, aber hier war es behaglicher. Ich wurde nicht, wie oben, von den Kindern gedrückt und mit umhergeschleppt. Ich hatte ebenso gutes Futter wie zuvor und weit mehr. Ich hatte mein eigenes Kissen, und ferner gab es dort einen Ofen, der doch namentlich in der jetzigen Zeit das Schönste in der Welt ist! Ich kroch völlig unter ihn, so dass ich ganz verschwand. Oh, von diesem Kachelofen träume ich noch jetzt! Weg, weg!"
"Sieht ein Kachelofen denn so schön aus?" fragte der Schneemann.
"Ähnelt er mir?"
"Er ist der gerade Gegensatz von dir! Kohlschwarz ist er und hat einen langen Hals mit einer Messingtrommel. Er frisst Brennholz, so dass ihm das Feuer aus dem Munde sprüht."
Der Schneemann sah durch das Fenster und bemerkte wirklich einen schwarzen, blankpolierten Gegenstand mit einer Messingtrommel. Das Feuer strahlte nach vorn auf den Fußboden. Aber dem Schneemann wurde ganz sonderbar zumute; er hatte eine Empfindung, von der er sich selber keine Rechenschaft ablegen konnte. Es überschlich ihn etwas, das er nicht kannte, was aber alle Menschen kennen, wenn sie nicht Schneemänner sind.
"Und weshalb verließest du sie?" fragte der Schneemann. "Wie konntest du überhaupt eine solche Stelle verlassen?"
"Ich war dazu gezwungen", sagte der Kettenhund. "Sie warfen mich hinaus und legten mich an die Kette. Ich hatte den kleinsten Junker in das Bein gebissen, weil er mir den Knochen, an welchem ich nagte, fort stieß. Bein für Bein, heißt es bei mir! Aber das nahmen mir des Knaben Eltern übel, und seit der Zeit habe ich hier an der Kette liegen müssen und meine helle Stimme verloren. Höre nur, wie heiser ich bin. Weg, weg! Das ist das Ende vom Liede gewesen!"
Der Schneemann hörte nicht mehr darauf; er blickte beständig nach der Kellerwohnung der Haushälterin, blickte in ihre Stube hinein, wo der Kachelofen auf seinen vier eisernen Füßen stand und sich in seiner ganzen Größe zeigte, die der des Schneemanns in nichts nachgab. "Es knackt so eigentümlich in mir!" sagte er. "Soll ich dort nie hineinkommen? Es ist mein höchster Wunsch, mein einziger Wunsch, und es würde fast ungerecht sein, wenn er nicht erfüllt würde. Ich muss hinein, ich muss mich an ihn lehnen, und sollte ich auch das Fenster zerschlagen!"
"Dort kommst du nie hinein!" sagte der Kettenhund, "und kämest du wirklich zum Kachelofen, dann wärst du weg, weg!'"
"Ich bin jetzt schon so gut wie weg", sagte der Schneemann, "ich zerbreche, glaube ich."
Den ganzen Tag stand der Schneemann da und sah zum Fenster hinein. In der Dämmerung wurde die Stube noch traulicher. Aus dem Kachelofen leuchtete es so mild, wie weder Mond noch Sonne leuchten können, nein, wie nur der Kachelofen zu leuchten vermag, wenn etwas in ihm steckt. Ging die Türe auf, so schlug die Flamme heraus, es war so ihre Gewohnheit. Des Schneemanns weißes Antlitz wurde dann von einer flammenden Röte übergossen, und auch seine Brust leuchtete in rötlichem Glanze.
"Ich halte es nicht aus", sagte er. "Wie schön es ihn kleidet, die Zunge so herauszustrecken."
Die Nacht war sehr lang, aber dem Schneemann kam es nicht so vor.
Er stand in Gedanken versunken, die froren, dass sie knackten.
Frühmorgens waren die Kellerfenster zugefroren! Sie trugen die schönsten Eisblumen, die ein Schneemann nur verlangen kann, allein sie verbargen den Kachelofen. Die Scheiben wollten nicht auftauen, er konnte die Flamme nicht mehr sehen. Es knackte, es war eben im herrlichsten Frostwetter, über das sich ein jeder Schneemann freuen muss, aber er freute sich nicht darüber. Er hätte sich glücklich fühlen können und dürfen, aber er war nicht glücklich.
Er litt eben gar zu sehr am ,Kachelofenweh'.
"Das ist eine schlimme Krankheit für einen Schneemann", sagte der Kettenhund. "Ich habe auch einmal an derselben Krankheit gelitten, habe sie aber überstanden. Weg, weg! - Jetzt bekommen wir Witterungswechsel."
Und Witterungswechsel trat ein, es schlug in Tauwetter um. Das Tauwetter nahm zu, der Schneemann nahm ab. Er sagte nichts, er klagte nicht, und das ist das echte Zeichen.
Eines Morgens stürzte er zusammen. Es ragte etwas einem Besenstiel ähnliches dort in die Höhe, wo er gestanden hatte. Um diesen Gegenstand, der ihm Halt verleihen sollte, hatten ihn die Knaben aufgerichtet.
"Nun kann ich seine Sehnsucht verstehen!" sagte der Kettenhund. "Der Schneemann hat eine Ofenkratze im Leibe gehabt. Sie war es, die sich in ihm bewegt hat. Nun hat er es überstanden. Weg, weg!"
Und bald war auch der lange, böse Winter überstanden.
" Weg, weg!" bellte der Kettenhund; aber die kleinen Mädchen sangen
auf dem Hofe:
"Schießt auf, ihr Blümlein, frisch und hold, Zeig', Weide, deine Woll' wie Gold!
Ihr Vöglein kommt, singt hell und klar,
schon ist der letzte Februar.
Komm, Sonne, komm, wenn ich dich bitt'!"
Und nun denkt niemand mehr weder an den Winter, noch an den Schneemann und sein ,Kachelofenweh', selbst nicht einmal der heisere Kettenhund.

Fliedermütterchen

Bebend vor Fieberfrost lag ein kleiner Knabe im Bett, weil er sich erkältet hatte. Er war mit nassen Füßen nach Hause gekommen, doch niemand konnte begreifen, wie das geschehen war, da es nicht geregnet hatte. Seine Mutter ließ die Teemaschine hereinbringen, um ihm eine gute Tasse Fliedertee zu kochen, denn der wärmt. Zu gleicher Zeit trat auch ein alter, munterer Mann zur Türe herein, der ganz oben im Hause wohnte und völlig für sich allein lebte. Er hatte weder Weib noch Kind, hatte aber die Kinder gar lieb und wusste so viele Märchen und Geschichten zu erzählen, dass es eine Lust war, ihm zuzuhören.
"Jetzt trinke deinen Tee!" sagte die Mutter, "dann erzählt dir der Onkel vielleicht auch ein Märchen."
"Ja, wenn man nur immer gleich ein neues wüsste!" versetzte der alte Mann und nickte gutmütig. "Aber wo hat denn der Kleine die nassen Füße herbekommen?" fragte er dann.
"Ja, woher er sie hat", entgegnete die Mutter, "ist eben das Unbegreifliche!"
»Erzählen Sie, erzählen Sie!" bat der Knabe.
»Ja, wenn du mir genau angeben kannst, denn das muss ich zuerst wissen, wie tief der Rinnstein da drüben in der Gasse ist, in der deine Schule liegt?"
Gerade bis mitten an die Schäfte", sagte der Knabe, "aber dann muss ich schon in das tiefe Loch treten!"
"Sieh, sieh, also da stammen die nassen Füße her!" sagte der alte Mann. "Nun müsste ich freilich ein Märchen erzählen, aber ich weiß keines mehr." Die Mutter warf Fliedertee in die Kanne und goss siedendes Wasser darüber.
»Erzählen Sie, erzählen Sie!" bat der Knabe.
"Ja, wenn ein Märchen von selbst kommen wollte, aber solch echtes ist gar vornehm, das kommt nur, wenn es Lust dazu hat! - - Doch halt!" sagte er plötzlich. "Da haben wir eins! Gib acht, jetzt ist eins dort in der Teekanne!"
Der kleine Knabe blickte nach der Teekanne hinüber, der Deckel hob sich mehr und mehr, und die Fliederblumen kamen frisch und weiß heraus, trieben große, lange Zweige, sogar aus der Tülle breiteten sie sich nach allen Seiten aus und wurden größer und größer. Es war der prächtigste Fliederbusch, ein ganzer Baum, der bis in das Bett hineinragte und die Vorhänge zur Seite schob. Wie das blühte und duftete! Mitten im Baume saß eine alte, freundliche Frau in einem seltsamen Gewande, das grün wie die Blätter des Fliederbaumes war und einen Besatz von großen weißen Fliederblüten hatte. Man konnte nicht sogleich unterscheiden, ob es Zeug oder lebendiges Grün und Blumen waren.
"Wie heißt die Frau?" fragte der Knabe.
"Die Römer und Griechen", entgegnete der alte Mann, nannten sie eine Dryade, aber das verstehen wir nicht. Draußen in den neuen Anlagen haben wir einen besseren Namen für sie, dort heißt sie ,Fliedermütterchen'. Von ihr will ich dir nun erzählen. Höre zu:
Ein ebenso großer, blühender Baum stand draußen in den neuen Anlagen, und zwar in der Ecke eines kleinen Hofes, der zu einem kleinen Häuschen gehörte. Unter diesem Baume saßen eines Nachmittags im herrlichsten Sonnenschein zwei alte Leute. Er war ein alter, alter Seemann und sie seine alte, alte Frau. Sie waren Urgroßeltern und sollten bald ihre goldene Hochzeit feiern, konnten sich aber nicht genau des Datums erinnern. Fliedermütterchen saß in dem Baum und sah ebenso vergnügt aus wie hier. ,Ich weiß wohl, wann eure goldene Hochzeit ist', sagte sie, doch hörten jene es nicht, sie sprachen von alten Tagen.
,Erinnerst du dich dessen wohl noch', sagte der alte Seemann, ,wie wir ganz klein waren und umherliefen und spielten? Es war gerade in diesem Hofe, wo wir jetzt sitzen. Wir pflanzten kleine Stöckchen in die Erde und machten uns einen Garten.'
,Ja', erwiderte die alte Frau, ,dessen erinnere ich mich sehr wohl, und wir begossen die Stöckchen, und ein Fliederzweig schlug Wurzeln, trieb grüne Schösslinge und ist nun zu dem großen Baume herangewachsen, unter dem wir alten Leute jetzt hier sitzen.'
,So ist's!' sagte er, ,und dort in jener Ecke stand eine Wasserkufe, dort schwamm mein Kahn, ich hatte ihn mir selbst geschnitzt. Wie er segeln konnte! Ich sollte freilich das Segeln bald in anderer Weise erlernen!'
,Ja, aber erst gingen wir in die Schule und lernten etwas!', sagte sie, ,und dann wurden wir eingesegnet. Wir weinten alle beide. Des Nachmittags erstiegen wir Hand in Hand den runden Turm und schauten über Kopenhagen und den Meeresspiegel hin. Dann gingen wir nach Friedrichsburg hinaus, wo der König und die Königin in ihrer prächtigen Gondel auf den Kanälen umherfuhren.'
Aber mir war es freilich bald beschieden, in anderer Weise umherzusegeln, und das so manches Jahr hindurch, weit hinaus, auf langen, beschwerlichen Reisen.'
,Ja, ich weinte oft deinetwegen!' unterbrach sie ihn, ,denn ich glaubte, du lägest tot in der Tiefe des Wassers! Manche, manche Nacht stand ich auf und sah nach, ob die Wetterfahne sich drehte. Sie drehte sich wohl, doch du kamst nicht. Ich entsinne mich noch deutlich, wie eines Tages ein heftiger Platzregen hernieder rauschte, der Kehrichtkutscher machte vor der Tür meiner Dienstherrschaft Halt, ich ging mit dem Kehrrichtfass hinunter und blieb an der Türe stehen. Gerade wie ich so dastand, kam plötzlich der Postbote auf mich zu und gab mir einen Brief. Er war von dir. Oh, wie der umhergereist war! Ich brach ihn in Hast auf und las ihn. Ich lachte und weinte, ich war so froh! Da stand, dass du in den warmen Ländern wärest, wo die Kaffeebohnen wachsen. Was für ein glückliches, gesegnetes Land muss das sein! Du erzähltest so viel und ich sah alles im Geiste, während der Regen fort und fort hernieder plätscherte und ich noch immer mit dem Kehrichtfass stand.
Plötzlich tauchte jemand neben mir auf, der mich um den Leib fasste.'
,Und dem du zur Belohnung eine klatschende Ohrfeige versetztest!'
,Wusste ich doch nicht, dass du es warst! Du warst mit deinem Brief zugleich angekommen, und du warst so schön -, doch das bist du noch .. Du machtest mit einem langen, gelbseidenen Taschentuch Staat und trugst einen weißen, funkelnagelneuen Hut. Du warst so fein. Gott, was war es doch für ein Wetter, und wie sah die Straße aus!'
,Dann heirateten wir uns', fuhr er fort.
,Ja, und wie unsere Kinder nun sämtlich herangewachsen und brave Menschen geworden sind', sagte sie.
,Und auch ihre Kinder haben schon wieder Kinder ,das sind Kindeskinder', fiel der Matrose ein. ,Wie mich dünkt, haben wir gerade in dieser Zeit unsere Hochzeit gefeiert', setzte er hinzu.
,Ja, just heute ist der goldene Hochzeitstag!' sagte Fliedermütterchen und steckte den Kopf gerade zwischen die beiden Alten. Diese aber hielten sie für die Nachbarin, die ihnen zunickte. Sie schauten sich an und hielten die Hände verschlungen. Bald darauf erschienen die Kinder und Kindeskinder, die sehr wohl wussten, dass es der goldene Hochzeitstag war, und auch schon am Morgen gratuliert hatten. Aber während sich die Alten der Ereignisse aus längst vergangenen Jahren so gut erinnerten, war ihnen dies wieder entfallen. Der Fliederbaum duftete stark, und die Sonne, die sich ihrem Untergang zuneigte, schien dem greisen Ehepaar gerade ins Antlitz. Beide sahen rotwangig aus, und das kleinste der Kindeskinder tanzte um sie herum und rief voller Glückseligkeit, dass es heute Abend hoch hergehen sollte, sie würden warme Kartoffel bekommen. Fliedermütterchen nickte in ihren Baum und rief mit allen andern, hurra!'."
"Aber das war ja gar kein Märchen!" unterbrach der kleine Knabe den Erzähler.
"Ja, das musst du freilich verstehen!" entgegnete der Alte. "Aber laaa uns das Fliedermütterchen danach fragen!"
"Es war kein Märchen!" sagte Fliedermütterchen, "nun aber kommt es. Aus der Wirklichkeit wächst gerade das seltsame Märchen heraus, sonst könnte ja mein prächtiger Fliederstrauch auch nicht aus der Teekanne empor gesprosst sein."
Darauf nahm es den Knaben aus seinem Bett, umschlang ihn mit den Armen, und die Blüten bedeckten Zweige schlugen um sie zusammen, so dass sie wie in der dichtesten Laube saßen. Diese flog mit ihnen durch die Luft, es war unvergleichlich schön. Fliedermütterchen hatte sich plötzlich in ein kleines, niedliches Mädchen verwandelt, doch war der Rock auch von demselben grünen, weißgeblümten Stoffe, welchen Fliedermütterchen getragen hatte. An der Brust hatte es eine wirkliche Fliederblüte, und um sein aschblondes, lockiges Haar einen ganzen Kranz von Fliederblüten. Seine Augen waren groß und blau, oh, es war eine Freude, es anzusehen!
Hand in Hand gingen sie aus der Laube und standen nun in dem schönen Blumengarten der Heimat. Bei dem frischen Rasenplatz lag der Stock des Vaters, an einem Pflock angebunden. Für die Kleinen war Leben in dem Stocke. Sobald sie sich quer über ihn setzten, verwandelte sich der blanke Knopf in einen stolz wiehernden Kopf, die lange schwarze Mähne flatterte, vier schlanke, kräftige Beine wuchsen hervor: das Tier war stark und feurig. Im Galopp ritten sie um den Rasenplatz herum, und fortwährend rief das kleine Mädchen, das wie wir wissen, niemand anders als Fliedermütterchen war: "Nun sind wir auf dem Lande! Siehst du das Bauernhaus mit dem großen Backofen, der wie ein riesengroßes, in der Mauer befindliches Ei auf den Weg herausguckt? Der Fliederbaum lässt seine Zweige über ihn herabhängen, und der Hahn schreitet stolz einher und scharrt nach Futter für seine Hühner. Doch nun vorwärts nach dem prächtigen Rittergut!"
Und alles, was das kleine Mädchen, das hinten auf dem Stock saß, sagte, das flog auch an ihnen vorüber; der Knabe sah es, und doch kamen sie nur um den Rasenplatz herum. Dann spielten sie in dem Seitengang und steckten auf dem Boden einen kleinen Garten ab. Das Mädchen nahm die Fliederblüte aus seinem Haare, pflanzte sie in die Erde, und sie wuchs ganz ebenso wie bei jenen Alten in die Höhe, als diese noch als Kinder, wie früher erzählt ist, in den neuen Anlagen miteinander spielten. \Vie jene wandelten sie Hand in Hand. Doch erstiegen sie nicht den roten Turm, ergingen sich nicht im Friedrichsburger Park, nein, das kleine Mädchen fasste den Knaben um den Leib und dann flogen sie weit umher. Und es ward Frühling und wurde Sommer, es ward Herbst und wurde Winter, und tausend Bilder spiegelten sich in den Augen und in dem Herzen des Knaben ab, und immer sang das kleine Mädchen ihm vor: "Das darfst du nie vergessen!" Während des ganzen Sommers duftete der Fliederbaum gar süß und herrlich. Der Knabe nahm wohl die Rosen und die Blumen wahr, aber der Fliederbaum duftete noch balsamischer, denn seine Blüten hingen an dem Herzen des kleinen Mädchens, und an dieses lehnte das kranke Knäblein während des Fluges oft das müde Haupt.
"Hier ist es herrlich im Frühling!" sagte das kleine Mädchen. Und sie standen in einem knospenden Buchenwald, wo grüner Waldmeister zu ihren Füßen duftete und blassrote Anemonen aus dem jungen Grase schauten. "Oh, wäre es immer Frühling!"
"Hier ist es herrlich im Sommer!" sagte sie. Und sie flogen an alten Burgen aus der Ritterzeit vorüber, deren rote Mauern und zackige Giebel sich in den Gräben spiegelten, in denen Schwäne schwammen und in die alten kühlen Baumgänge hinaufschauten. Auf dem Felde wogte das Korn gleich der bewegten See, rote und gelbe Blumen wiegten sich in den Gräben, an den Gehegen rankten sich wilder Hopfen und blühende Winden empor, und des Abends ging der Mond groß und voll auf, und die Heuschober auf den Wiesen dufteten süß. "Das vergisst sich nie!"
"Hier ist es herrlich im Herbst!" sagte das kleine Mädchen. Und die Luft wurde doppelt so hoch und blau, der Wald nahm die schönsten Farben von Rot, Gelb und Grün an, die Jagdhunde stürmten vorwärts, ganze Scharen wilder Vögel flogen kreischend über die Hünengräber hin, auf denen sich Brombeerranken über die alten Steine hinzogen. Auf dem tiefblauen Meer zeigten sich überall weiße Segler, und in der Tenne saßen alte Frauen, Mädchen und Kinder pflückten Hopfen in ein großes Gefäß. Die Jungen sangen Lieder, aber die Alten erzählten Märchen von Kobolden und Zauberern. Besseres ließ sich nicht leicht denken!
"Hier ist es herrlich im Winter!" sagte das kleine Mädchen. Und alle Bäume standen mit Reif bedeckt da, als wären sie in weiße Korallen verwandelt. Der Schnee knirschte unter den Füßen, als ob man immer neue Stiefel anhätte, und vom Himmel fiel eine Sternschnuppe nach der anderen. Im Zimmer wurde der Weihnachtsbaum angezündet, da gab es Geschenke und fröhliche Laune. In der Bauernstube auf dem Lande ertönte lustiger Fiedelklang, unter jauchzen und Lachen haschte man nach Apfelschnitten, und selbst das ärmste Kind bekannte: "Es ist doch herrlich im Winter!"
ja, es war auch herrlich! Das kleine Mädchen zeigte dem Knaben alles, und der Fliederbaum duftete, und die rote Flagge mit dem weißen Kreuz flatterte, die Flagge, unter der der alte Seemann aus den neuen Anlagen gesegelt war. Und aus dem Knaben wurde ein Jüngling, und er sollte hinaus in die weite Welt, weit fort nach den warmen Ländern, wo der Kaffee wächst. Aber beim Abschied nahm das kleine Mädchen eine Fliederblüte von der Brust und gab sie ihm zum Aufbewahren. Er legte sie in sein Gesangbuch, und so oft er es in fremdem Land öffnete, fiel sein Blick zuerst auf die Stelle, wo die Blüte der Erinnerung lag. Je länger er sie anblickte, desto frischer wurde sie; er fühlte gleichsam einen Duft aus den heimischen Wäldern, und deutlich sah er zwischen den Blütenblättern das kleine Mädchen mit seinen klaren Augen hervorlugen und hörte, wie es ihm zuflüsterte: "Hier ist es herrlich im Frühling, Sommer, Herbst und Winter!" Und Hunderte von Bildern glitten dann durch seine Gedanken.
So verstrichen viele Jahre, und er war nun ein alter Mann und saß mit seiner alten Frau unter einem blühenden Baume. Sie hielten einander an den Händen, genau so wie es der Urgroßvater und die Urgroßmutter draußen in den neuen Anlagen getan hatten, und sie sprachen gleichfalls von den alten Tagen und von der goldenen Hochzeit.
Das kleine Mädchen mit den blauen Augen und den Fliederblüten im Haare saß oben im Baume, nickte ihnen bei den zu und sagte: "Heute ist der goldene Hochzeitstag!" Darauf nahm es zwei Blumen aus seinem Kranze, küsste diese und nun leuchteten sie zuerst wie Silber, dann wie Gold, und als es diese auf die Häupter der Alten legte, verwandelte sich jede Blüte in eine goldene Krone. Da saßen sie beide wie ein König und eine Königin unter dem duftenden Baume, der völlig wie ein Fliederbaum aussah, und der alte Mann erzählte seiner alten Frau die Geschichte vom Fliedermütterchen, so wie sie ihm als Knaben erzählt worden war. Und es schien beiden, als ob vieles darin vorkäme, was ihrer eigenen Geschichte ähnelte.
"J a, so ist es", sagte das kleine Mädchen im Baume, "einige nennen mich Fliedermütterchen, andere Dryade, aber mein wahrer Name ist Erinnerung. Ich habe meinen Platz in dem grünen Baume, der wächst und wächst. Ich schaue weit zurück und kann erzählen. Hast du auch deine Blüte noch?"
Und der alte Mann öffnete sein Gesangbuch, da lag die Fliederblüte, so frisch, als wäre sie erst vor kurzem hineingelegt worden, und Fliedermütterchen, oder vielmehr die Erinnerung, nickte freundlich und die bei den Alten mit den goldenen Kronen saßen in der glühenden Abendsonne. Sie schlossen die Augen, und - da - ja, da war das Märchen aus.
Der kleine Knabe lag in seinem Bettchen, er wusste nicht, ob er alles geträumt oder ein Märchen gehört hatte. Die Teekanne stand auf dem Tisch, aber es sprosste kein Fliederbaum aus ihr hervor, und der alte Mann, der erzählt hatte, ging eben zur Tür hinaus.
"Wie schön war das!" sagte der kleine Knabe. "Mutter, bin ich in den warmen Ländern gewesen?"
"Ja, das glaube ich wohl!" sagte die Mutter, "wenn man zwei bis an den Rand gefüllte Tassen Fliedertee trinkt, dann kommt man schon nach den fremden Ländern!" Und sie deckte ihn gut zu, damit er sich nicht von neuem erkälte. "Du hast wohl geschlafen, während ich saß und mit unserem alten Freunde darüber stritt, ob es eine Geschichte oder ein Märchen wäre."
"Und wo ist Fliedermütterchen?", fragte der Knabe.
"Das steckt in der Teekanne!" sagte die Mutter, "und da kann es bleiben!"

Der kleine Klaus und der große Klaus

In einem Dorfe wohnten zwei Leute, die beide denselben Namen hatten. Beide hießen Klaus, aber der eine besaß vier Pferde und der andere nur ein einziges. Um sie nun voneinander unterscheiden zu können, nannte man den, der vier Pferde besaß, den großen Klaus, und den, der nur ein einziges hatte, den kleinen Klaus.
Nun wollen wir hören, wie es den beiden erging, denn es ist eine wahre Geschichte.
Die ganze Woche hindurch musste der kleine Klaus für den großen Klaus pflügen und ihm sein einziges Pferd leihen, dann half der große Klaus ihm wieder mit allen seinen vieren, aber nur einmal wöchentlich, und das war des Sonntags. Hussa, wie klatschte der kleine Klaus mit seiner Peitsche über alle fünf Pferde! Sie waren ja nun so gut wie sein an dem einen Tage. Die Sonne schien herrlich, und alle Glocken im Kirchturm läuteten zur Kirche, die Leute waren alle geputzt und gingen mit dem Gesangbuche unter dem Arme, den Prediger zu hören, und sie sahen den kleinen Klaus, der mit fünf Pferden pflügte, und er war so vergnügt, dass er wieder mit der Peitsche klatschte und rief: "Hü, alle meine Pferde!"
"So musst du nicht sprechen", sagte der große Klaus, "das eine Pferd ist ja nur dein!"
Aber als wieder jemand vorbeiging, vergaß der kleine Klaus, dass er es nicht sagen sollte, und da rief er: "Hü, alle meine Pferde!"
"Nun ersuche ich dich amtlich, dies zu unterlassen", sagte der große Klaus; "denn sagst du es noch einmal, so schlage ich dein Pferd vor den Kopf, dass es auf der Stelle tot ist."
„Ich will es wahrlich nicht mehr sagen!“, sagte der kleine Klaus. Aber als da Leute vorbei kamen und ihm guten Tag zunickten, wurde er sehr erfreut und dachte, es sehe doch recht gut aus, dass er fünf Pferde habe, sein Feld zu pflügen, und da klatschte er mit der Peitsche und rief: „Hü, alle meine Pferdchen!“
„Ich werde deine Pferde hüten!“, sagte der große Klaus, nahm einen Hammer und schlug des kleinen Klaus einziges Pferd vor den Kopf, dass es umfiel und tot war.
„Ach, nun habe ich gar kein Pferd mehr!“, sagte der kleine Klaus und fing an zu weinen. Später zog er dem Pferde die Haut ab und ließ es gut im Winde trocknen, steckte sie dann in einen Sack, den er auf der Schulter trug, und machte sich nach der Stadt auf den Weg, um seine Pferdehaut zu verkaufen.
Er hatte einen sehr weiten Weg zu gehen, musste durch einen großen, dunklen Wald, und nun wurde es gewaltig schlechtes Wetter. Er verirrte sich gänzlich, und ehe er wieder auf den rechten Weg kam, war es Abend und allzu
weit, um zur Stadt oder wieder nach Hause zu gelangen, bevor es Nacht wurde.
Dicht am Wege lag ein großer Bauernhof; die Fensterladen waren draußen vor den Fenstern geschlossen, aber das Licht konnte doch darüber hinaus scheinen. ,Da werde ich wohl Erlaubnis erhalten können, die Nacht über zu bleiben', dachte der kleine Klaus und klopfte an.
Die Bauersfrau machte auf; als sie aber hörte, was er wollte, sagte sie, er solle weitergehen, ihr Mann sei nicht zu Hause, und sie nehme keine Fremden herein.
"Nun, so muss ich draußen liegenbleiben", sagte der kleine Klaus, und die Bauersfrau schlug ihm die Tür vor der Nase zu.
Dicht daneben stand ein großer Heuschober, und zwischen diesem und dem Hause war ein kleiner Geräteschuppen mit einem flachen Strohdache gebaut.
"Da oben kann ich liegen", sagte der kleine Klaus, als er das Dach erblickte; "das ist ja ein herrliches Bett. Der Storch fliegt wohl nicht herunter und beißt mich in die Beine." Denn ein Storch hatte sein Nest auf dem Dache.
Nun kroch der kleine Klaus auf den Schuppen hinauf, streckte sich hin und drehte sich, um recht zu liegen. Die hölzernen Laden vor den Fenstern schlossen oben nicht zu, und so konnte er gerade in die Stube hineinblicken.
Da war ein großer Tisch gedeckt, mit Wein und Braten und einem herrlichen Fisch darauf; die Bauersfrau und der Küster saßen bei Tische und sonst niemand anders, sie schenkte ihm ein, und er gabelte in den Fisch, denn das war sein Leibgericht.
,Wenn ich doch etwas davon abbekommen könnte!' dachte der kleine Klaus und streckte den Kopf gerade gegen das Fenster.
Einen herrlichen Kuchen sah er auch im Zimmer stehen! Ja, das war ein Fest!
Nun hörte er jemand von der Landstraße her gegen das Haus reiten; das war der Mann der Bauersfrau, der nach Hause kam.
Das war ein ganz guter Mann, aber er hatte die wunderliche Eigenheit, dass er es nie ertragen konnte, einen Küster zu sehen; kam ihm ein Küster vor die Augen, so wurde er ganz rasend. Deshalb war es auch, dass der Küster zu seiner Frau hineingegangen war, um ihr guten Tag zu sagen, weil er wusste, dass der Mann nicht zu Hause sei, und die gute Frau setzte ihm dafür das herrlichste Essen vor. Als sie nun den Mann kommen hörten erschraken sie sehr, und die Frau bat den Küster, in eine große, leere Kiste hineinzukriechen, denn er wusste ja, dass der arme Mann es nicht ertragen konnte, einen Küster zu sehen.
Die Frau versteckte geschwind all das herrliche Essen und den Wein in ihrem Backofen, denn hätte der Mann das zu sehen bekommen, so hätte er sicher gefragt, was es zu bedeuten habe.
"Ach ja!" seufzte der kleine Klaus oben auf seinem Schuppen, als er all das Essen verschwinden sah.
"Ist jemand dort oben?" fragte der Bauer und sah nach dem kleinen Klaus hinauf. "Warum liegst du dort? Komm lieber mit in die Stube."
Nun erzählte der kleine Klaus, wie er sich verirrt habe, und bat, dass er die Nacht über bleiben dürfe.
"Ja freilich", sagte der Bauer, "aber wir müssen zuerst etwas zu laben haben!"
Die Frau empfing beide sehr freundlich, deckte einen langen Tisch und gab ihnen eine große Schüssel voll Grütze. Der Bauer war hungrig und aß mit rechtem Appetit, aber der kleine Klaus konnte nicht unterlassen, an den herrlichen Braten, Fisch und Kuchen, die er im Ofen wusste, zu denken.
Unter den Tisch zu seinen Füßen hatte er den Sack mit der Pferdehaut gelegt, die er in der Stadt hatte verkaufen wollen. Die Grütze wollte ihm nicht schmecken, da trat er auf seinen Sack und die trockene Haut im Sacke knarrte laut.
"St!" sagte der kleine Klaus zu seinem Sacke, trat aber zu gleicher Zeit wieder darauf; da knarrte es weit lauter als zuvor.
"Ei, was hast du in deinem Sacke?" fragte der Bauer darauf.
"Oh, es ist ein Zauberer", sagte der kleine Klaus; "er sagt, wir sollen doch keine Grütze essen, er habe den ganzen Ofen voll Braten, Fische und Kuchen gehext."
"Ei der tausend!" sagte der Bauer und machte schnell den Ofen auf, wo er all die prächtigen, leckeren Speisen erblickte, die nach seiner Meinung der Zauberer im Sack für sie gehext hatte. Die Frau durfte nichts sagen, sondern setzte sogleich die Speisen auf den Tisch, und so aßen beide vom Fische, vom Braten und von dem Kuchen. Nun trat der kleine Klaus wieder auf seinen Sack, dass die Haut knarrte.
"Was sagt er jetzt?" fragte der Bauer.
"Er sagt", erwiderte der kleine Klaus, "das er auch drei Flaschen Wein für uns gehext hat; sie stehen dort in der Ecke beim Ofen!" Nun musste die Frau den Wein hervorholen, den sie verborgen hatte, und der Bauer trank und wurde lustig. Einen solchen Zauberer, wie der kleine Klaus im Sacke hatte, hätte er gar zu gern gehabt.
"Kann er auch den Teufel hervorhexen?" fragte der Bauer. "Ich möchte ihn wohl sehen, denn nun bin ich lustig!"
"Ja", sagte der kleine Klaus, "mein Zauberer kann alles, was ich verlange. Nicht wahr, du?" fragte er und trat auf den Sack, dass es knarrte. Hörst du? Er sagt ja! Aber der Teufel sieht hässlich aus!"
"Oh, mir ist gar nicht bange; wie mag er wohl aussehen?" "Ja, er wird sich ganz leibhaftig als ein Küster zeigen!"
"Hu!" sagte der Bauer, "das ist hässlich! Ihr müsst wissen, ich kann nicht ertragen, einen Küster zu sehen! Aber es macht nichts, ich weiß ja, dass es der Teufel ist, so werde ich mich wohl leichter darein finden! Nun habe ich Mut, aber er darf mir nicht zu nahe kommen."
"Ich werde meinen Zauberer fragen", sagte der kleine Klaus, trat auf den Sack und hielt sein Ohr hin.
"Was sagt er?"
"Er sagt, Ihr könnt hineingehen und die Kiste aufmachen, die dort in der Ecke steht, so werdet Ihr den Teufel sehen, wie er darin kauert; aber Ihr müsst den Deckel halten, dass er nicht entwischt."
"Wollt Ihr mir helfen, ihn zu halten?", bat der Bauer und ging zu der Kiste hin, wo die Frau den Küster verborgen hatte, der darin saß und sich sehr fürchtete.
Der Bauer öffnete den Deckel ein wenig und sah unter ihn hinein.
"Hu!" schrie er und sprang zurück. "Ja, nun habe ich ihn gesehen, er sah ganz aus wie unser Küster! Das war schrecklich!"
Darauf musste getrunken werden, und so tranken sie denn noch lange in die Nacht hinein.
"Den Zauberer musst du mir verkaufen", sagte der Bauer; "verlange dafür, was du willst! Ja, ich gebe dir gleich einen ganzen Scheffel Geld!"
"Nein, das kann ich nicht!" sagte der kleine Klaus. "Bedenke doch, wievie1 Nutzen ich von diesem Zauberer haben kann."
"Ach, ich möchte ihn sehr gern haben", sagte der Bauer und fuhr fort zu bitten.
"Ja", sagte der kleine Klaus zuletzt, "da du so gut gewesen bist, mir diese Nacht Obdach zu gewähren, so mag es sein. Du sollst den Zauberer für einen Scheffel Geld haben, aber ich will den Scheffel gehäuft voll haben."
"Das sollst du bekommen", sagte der Bauer, "aber die Kiste dort musst du mit dir nehmen; ich will sie nicht eine Stunde länger im Hause behalten; man kann nicht wissen, vielleicht sitzt er noch darin."
Der kleine Klaus gab dem Bauer seinen Sack mit der trocknen Haut darin und bekam einen ganzen Scheffel Geld, gehäuft gemessen, dafür. Der Bauer schenkte ihm sogar einen großen Karren, um das Geld und die Kiste darauf fortzufahren.
"Lebe wohl!" sagte der kleine Klaus.
Dann fuhr er mit seinem Gelde und der großen Kiste, worin noch der Küster saß, davon. Auf der andern Seite des Waldes war ein großer tiefer Fluss; das Wasser floss so reißend darin, dass man kaum gegen den Strom anschwimmen konnte; man hatte eine große, neue Brücke darüber geschlagen; der kleine Klaus hielt mitten auf ihr an und sagte ganz laut, damit der Küster in der Kiste es hören könne:
"Was soll ich mit der dummen Kiste machen? Sie ist so schwer, als ob Steine drin wären! Ich werde nur müde davon, sie weiterzufahren; ich will sie in den Fluss werfen; schwimmt sie zu mir nach Hause, so ist es gut, wenn nicht, so hat es auch nichts zu sagen."
Darauf fasste er die Kiste mit der einen Hand an und hob sie ein wenig auf, gerade als ob er sie in das Wasser werfen wollte.
"Nein, lass das sein!" rief der Küster innerhalb der Kiste. "Lass mich erst heraus!"
"Hu!" sagte der kleine Klaus und tat, als fürchte er sich. "Er sitzt noch darin! Da muss ich ihn geschwind In den Fluss werfen, damit er ertrinkt!"
,,0 nein, o nein!" sagte der Küster; "ich will dir einen ganzen Scheffel Geld geben, wenn du mich gehen lässt!"
"Ja, das ist etwas anderes!", sagte der kleine Klaus und machte die Kiste auf.
Der Küster kroch schnell heraus, stieß die leere Kiste in das Wasser hinaus und ging nach seinem Hause, wo der kleine Klaus einen ganzen Scheffel Geld bekam; einen hatte er von dem Bauer erhalten, nun hatte er also seinen ganzen Karren voll Geld.
"Sieh, das Pferd erhielt ich ganz gut bezahlt!", sagte er zu sich selbst, als er zu Hause in seiner eigenen Stube war und alles Geld auf einen Berg mitten in der Stube ausschüttete. "Das wird den großen Klaus ärgern, wenn er erfährt, wie reich ich durch ein einziges Pferd geworden bin; aber ich will es ihm doch nicht geradeheraus sagen!"
Nun sandte er einen Knaben zum großen Klaus hin, um sich ein Scheffelmaß zu leihen.
,Was mag er wohl damit machen wollen?' dachte der große Klaus und schmierte Teer auf den Boden, damit von dem, was gemessen wurde, etwas daran hängen bleiben könnte. Und so kam es auch; denn als er das Scheffelmaß zurückerhielt, hingen drei Taler daran.
"Was ist das?" sagte der große Klaus und lief sogleich zu dem Kleinen.
"Woher hast du all das Geld bekommen?"
"Oh, das ist für meine Pferdehaut! Ich verkaufte sie gestern Abend."
"Das war wahrlich gut bezahlt!" sagte der große Klaus, lief geschwind nach Hause, nahm eine Axt und schlug alle seine vier Pferde vor den Kopf, zog ihnen die Haut ab und fuhr mit diesen Häuten zur Stadt.
"Häute! Häute! Wer will Häute kaufen?", rief er durch die Straßen. Alle Schuhmacher und Gerber kamen gelaufen und fragten, was er dafür haben wolle.
"Einen Scheffel Geld für jede", sagte der große Klaus.
"Bist du tol1?" riefen alle. "Glaubst du, wir haben das Geld scheffelweise?"
"Häute! Häute! Wer will Häute kaufen?" rief er wieder, aber allen denen, die ihn fragten, was die Häute kosten sollten erwiderte er: "Einen Scheffel Geld."
"Er will uns foppen", sagten alle, und da nahmen die Schuhmacher ihre Spannriemen und die Gerber ihre Schurzfelle und fingen an, auf den großen Klaus loszuprügeln.
"Häute! Häute!" riefen sie ihm nach; "Ja, wir wollen dir die Haut gerben! Hinaus aus der Stadt mit ihm!" riefen sie, und der große Klaus musste laufen, was er nur konnte.
So war er noch nie durchgeprügelt worden.
"Na", sagte er, als er nach Hause kam, "dafür soll der kleine Klaus bestraft werden! Ich will ihn totschlagen!"
Zu Hause beim kleinen Klaus war die alte Großmutter gestorben; sie war freilich recht böse und schlimm gegen ihn gewesen, aber er war doch betrübt, nahm die tote Frau und legte sie in ein warmes Bett, um zu sehen, ob sie nicht zum Leben zurückkehren werde. Da sollte sie die ganze Nacht liegen, er selbst wollte im Winkel sitzen und auf einem Stuhle schlafen; das hatte er schon früher getan. Als er nun da in der Nacht saß, ging die Tür auf, und der große Klaus kam mit einer Axt herein; er wusste wohl, wo des kleinen Klaus Bett stand, ging gerade darauf los und schlug nun die alte Großmutter vor den Kopf, denn er glaubte, dass der kleine Klaus dort in seinem Bett liege.
"Sieh", sagte er, "nun sollst du mich nicht mehr zum besten haben!"
Und dann ging er wieder nach Hause.
"Das ist doch ein recht böser Mann!" sagte der kleine Klaus; "da wollte er mich totschlagen! Es war doch gut für die alte Mutter, dass sie schon tot war, sonst hätte er ihr das Leben genommen!"
Nun legte er der alten Großmutter Sonntagskleider an, lieh sich von dem Nachbar ein Pferd, spannte es vor den Wagen und setzte die alte Großmutter auf den hintersten Sitz, so dass sie nicht hinausfallen konnte, wenn er fuhr, und so rollten sie von dannen durch den Wald. Als die Sonne aufging, waren sie vor einem großen Wirtshause, da hielt der kleine Klaus an und ging hinein, um etwas zu genießen.
Der Wirt hatte sehr viel Geld, er war auch ein recht guter, aber hitziger Mann, als wäre Pfeffer und Tabak in ihm.
"Guten Morgen!" sagte er zum kleinen Klaus. "Du bist heute früh ins Zeug gekommen! «
"Ja", sagte der kleine Klaus, "ich will mit meiner Großmutter zur Stadt; sie sitzt draußen auf dem Wagen, ich kann sie nicht in die Stube hereinbringen. Wollt Ihr der Alten nicht ein Glas Kümmel geben? Aber Ihr müsst recht laut sprechen, denn sie hört nicht gut."
"Ja, das will ich tun!" sagte der Wirt und schenkte ein großes Glas Kümmel ein, mit dem er zur toten Großmutter hinausging, die in dem Wagen aufrecht gesetzt war.
"Hier ist ein Glas Kümmel von Ihrem Sohne!" sagte der Wirt, aber die tote Frau erwiderte kein Wort, sondern saß ganz still und teilnahmslos, als ob sie alles nichts anginge.
"Hört Ihr nicht?" rief der Wirt, so laut er konnte. "Hier ist ein Glas Kümmel von Ihrem Sohne!"
Noch einmal rief er und dann noch einmal, aber da sie sich durchaus nicht rührte, wurde er ärgerlich und warf ihr das Glas in das Gesicht, so dass ihr der Kümmel gerade über die Nase lief und sie hintenüber fiel, denn sie war -nur aufgesetzt und nicht festgebunden.
"Heda!" rief der kleine Klaus, sprang zur Tür heraus und packte den Wirt an der Brust, "da hast du meine Großmutter erschlagen! Siehst du, da ist ein großes Loch in ihrer Stirn!"
"Oh, das ist ein Unglück!", rief der Wirt und schlug die Hände über dem Kopfe zusammen; "das kommt alles von meiner Heftigkeit! Lieber, kleiner Klaus, ich will dir einen Scheffel Geld geben und deine Großmutter begraben lassen, als wäre es meine eigene, aber schweige nur still, sonst wird mir der Kopf abgeschlagen, und das wäre mir unangenehm."
So bekam der kleine Klaus einen ganzen Scheffel Geld, und der Wirt begrub die alte Großmutter so, als ob es seine eigene gewesen wäre.
Als nun der kleine Klaus wieder mit dem vielen Gelde nach Hause kam, schickte er gleich seinen Knaben hinüber zum großen Klaus, um ihn bitten zu lassen, ihm ein Scheffelmaß zu leihen.
"Was ist das?" sagte der große Klaus. "Habe ich ihn nicht totgeschlagen? Da muss ich selbst nachsehen!" Und so ging er selbst mit dem Scheffelmaß zum kleinen Klaus.
"Wo hast du doch all das Geld bekommen?" fragte er und riss die Augen auf, als er alles das erblickte, was noch hinzugekommen war.
"Du hast meine Großmutter, aber nicht mich erschlagen!" sagte der kleine Klaus. "Die habe ich nun verkauft und einen Scheffel Geld dafür bekommen!"
"Das ist wahrlich gut bezahlt!" sagte der große Klaus, eilte nach Hause, nahm eine Axt und schlug seine alte Großmutter tot, legte sie auf den Wagen, fuhr mit ihr zur Stadt, wo der Apotheker wohnte, und fragte, ob er einen toten Menschen kaufen wollte.
"Wer ist es, und woher habt Ihr ihn?" fragte der Apotheker.
"Es ist meine Großmutter!" sagte der große Klaus. "Ich habe sie totgeschlagen, um einen Scheffel Geld dafür zu bekommen!"
"Gott bewahre uns!" sagte der Apotheker. "Ihr redet irre! Sagt doch nicht dergleichen sonst könnt Ihr den Kopf verlieren!" Und nun sagte er ihm gehörig, was das für eine böse Tat sei, die er begangen habe und was für ein schlechter Mensch er sei und dass er bestraft werden müsse. Da erschrak der große Klaus so sehr, dass er von der Apotheke gerade in den Wagen sprang und auf die Pferde schlug und nach Hause fuhr; aber der Apotheker und alle Leute glaubten, er sei verrückt, und deshalb ließen sie ihn fahren, wohin er wollte.
"Das sollst du mir bezahlen!" sagte der große Klaus, als er draußen auf der Landstraße war, ja, ich will dich bestrafen, kleiner Klaus!" Sobald er nach Hause kam, nahm er den größten Sack, den er finden konnte, ging hinüber zum kleinen Klaus und sagte: "Nun hast du mich wieder gefoppt; erst schlug ich meine Pferde tot, dann meine alte Großmutter; das ist alles deine Schuld; aber du sollst mich nie mehr foppen!"
Da packte er den kleinen Klaus um den Leib und steckte ihn in seinen Sack, nahm ihn so auf seinen Rücken und rief ihm zu: "Nun gebe ich und ertränke dich!"
Es war ein weiter Weg, den er zu gehen hatte, bevor er zu dem Flusse kam, und der kleine Klaus war nicht leicht zu tragen. Der Weg ging dicht bei der Kirche vorbei; die Orgel ertönte, und die Leute sangen schön darinnen. Da setzte der große Klaus seinen Sack mit dem kleinen Klaus darin dicht bei der Kirchtür nieder und dachte, es könne wohl ganz gut sein, hineinzugehen und einen Psalm zu hören, ehe er weitergehe; der kleine Klaus konnte ja nicht herauskommen, und alle Leute waren in der Kirche. So ging er denn hinein.
"Ach Gott, ach Gott!", seufzte der kleine Klaus im Sack und drehte und wandte sich, aber es war ihm nicht möglich, das Band aufzulösen. Da kam ein alter, alter Viehtreiber daher, mit schneeweißem Haar und einem großen Stab in der Hand; er trieb eine ganze Herde Kühe und Stiere vor sich her, die liefen an den Sack, in dem der kleine Klaus saß, so dass er umgeworfen wurde.
"Ach Gott!", seufzte der kleine Klaus, "ich bin noch so jung und soll schon ins Himmelreich!"
"Und ich Armer", sagte der Viehtreiber, "ich bin schon so alt und kann noch immer nicht dahin kommen!"
"Mache den Sack auf!", rief der kleine Klaus. "Krieche statt meiner hinein, so kommst du sogleich ins Himmelreich!"
"Ja, das will ich herzlich gern", sagte der Viehtreiber und band den Sack auf, aus dem der kleine Klaus sogleich hervorsprang.
"Willst du nun auf das Vieh achtgeben?" fragte der alte Mann. Dann kroch er in den Sack hinein, der kleine Klaus band den Sack wieder zu und zog dann mit allen Kühen und Stieren seines Weges.
Bald darauf kam der große Klaus aus der Kirche. Er nahm seinen Sack wieder auf den Rücken, obgleich es ihm schien, als sei der leichter geworden, denn der alte Viehtreiber war nur halb so schwer wie der kleine Klaus. "Wie leicht ist er doch zu tragen geworden! Ja, das kommt daher, dass ich einen Psalm gehört habe!" So ging er nach dem Flusse, der tief und groß war, warf den Sack mit dem alten Viehtreiber ins Wasser und hinterdrein, denn er glaubte ja, dass es der kleine Klaus sei: "Sieh, nun sollst du mich nicht mehr foppen!"
Darauf ging er nach Hause; aber als er an die Stelle kam, wo die Wege sich kreuzten, begegnete er ganz unerwartet dem kleinen Klaus, der all sein Vieh daher trieb.
"Was ist das?" fragte der große Klaus. "Habe ich dich nicht vor kurzer Zeit ertränkt?''
„Ja, sagte der kleine Klaus, „du warfst mich ja vor einer halben Stunde in den Fluss hinunter!“
"Aber wo hast du all da herrliche Vieh bekommen?", fragte er große Klaus.
"Das ist Seevieh!", sagte der kleine Klaus. "Ich will dir die Geschichte erzählen und dir Dank sagen, dass du mich ertränktest, denn nun bin ich reich! Mir war bange, als ich im Sack steckte, und der Wind pfiff mir um die Ohren, als du mich von der Brücke hinunter in das kalte Wasser warfst. Ich sank sogleich zu Boden, aber ich stieß mich nicht, denn da unten wächst das schönste, weiche Gras. Darauf fiel ich, und sogleich wurde der Sack geöffnet, und das lieblichste Mädchen, in schneeweißen Kleidern und mit einem grünen Kranz um das Haar, nahm mich bei der Hand und sagte: ,Bist du da, kleiner Klaus? Da hast du zuerst einiges Vieh; eine Meile weiter auf dem Wege steht noch eine ganze Herde, die ich dir schenken will!' Nun sah ich, dass der Fluss eine große Landstraße für das Meervolk bildete. Unten auf dem Grunde gingen und fuhren sie gerade von der See her und ganz hinein in das Land, bis wo der Fluss endet. Da waren die schönsten Blumen und das frische Gras; die Fische schossen mir an den Ohren vorüber, geradeso wie hier die Vögel in der Luft. Was gab es da für hübsche Leute, und was war da für Vieh, das an den Gräben und Wällen weidete!"
"Aber warum bist du gleich wieder zu uns heraufgekommen?" fragte der große Klaus. "Das hätte ich nicht getan, wenn es so schön dort unten ist. "
"Ja", sagte der kleine Klaus, "das ist gerade klug von mir gehandelt.
Du hörst ja wohl, dass ich dir erzähle: Die Seejungfrau sagte mir, eine Meile weiter auf dem Wege - und mit dem Wege meinte sie ja den Fluss, denn sie kann nirgends anders hinkommen - stehe noch eine ganze Herde Vieh für mich. Aber ich weiß, was der Fluss für Krümmungen macht, bald hier, bald dort, das ist ein weiter Umweg. Nein, so macht man es kürzer ab, wenn man hier auf das Land kommt und treibt querüber wieder zum Flusse; dabei spare ich eine halbe Meile und komme schneller zu meinem Vieh!"
"Oh, du bist ein glücklicher Mann!" sagte der große Klaus. "Glaubst du, dass ich auch Seevieh erhielte, wenn ich einmal tief bis auf den Grund des Flusses käme?"
"J a, das denke ich wohl", sagte der kleine Klaus, "aber ich kann dich nicht im Sacke zum Flusse tragen, du bist mir zu schwer! Willst du selbst dahingehen und dann in den Sack kriechen, so werde ich dich mit dem größten Vergnügen hineinwerfen."
"Ich danke dir", sagte der große Klaus. "Aber erhalte ich kein Seevieh, wenn ich hinunter komme, so glaube mir, werde ich dich so prügeln, wie du noch nie geprügelt worden bist."
"Oh nein, mache es nicht so schlimm!" Und da gingen sie zum Flusse hin. Als das Vieh Wasser erblickte, lief es, so schnell es nur konnte, durstig hinunter zum Trinken.
"Sieh, wie es sich sputet!" sagte der kleine Klaus. "Es verlangt danach, wieder auf den Grund zu kommen!"
„Ja, hilf mir nur erst", sagte der große Klaus, "sonst bekommst du Prügel!" Und so kroch er in den großen Sack, der quer über dem Rücken eines der Stiere gelegen hatte. "Lege einen Stein hinein, ich fürchte, dass ich sonst nicht untersinke", sagte der große Klaus.
"Es geht schon!", sagte der kleine Klaus, legte aber doch einen großen Stein in den Sack, knüpfte das Band fest zu, und dann stieß er daran. Plumps! Da lag der große Klaus in dem Flusse und sank sogleich hinunter auf den Grund.
"Ich fürchte, er wird das Vieh nicht finden! Aber er zwang mich ja dazu!", sagte der kleine Klaus und trieb dann heim mit dem was er hatte.

Der Garten des Paradieses

Da war einmal ein Königssohn; niemand hatte so viele schöne Bücher wie er; alles, was in dieser Welt geschehen war, konnte er darin lesen und die Abbildungen in prächtigen Kupferstichen erblicken. Von jedem Volke und jedem Lande konnte er Auskunft erhalten; aber wo der Garten des Paradieses zu finden sei, davon stand kein Wort darin; und der, gerade der war es, an den er am meisten dachte.
Seine Großmutter hatte ihm erzählt, als er noch ganz klein war, aber anfangen sollte, in die Schule zu gehen, dass jede Blume im Garten dieses Paradieses der süßeste Kuchen und die Staubfäden die feinsten Weine wären; auf der einen Blume stände Geschichte, auf der andern Geographie oder Zahlen; man brauche nur Kuchen zu essen, so könne man seine Aufgabe; je mehr man speise, um so mehr Geschichte, Geographie und Rechnen lerne man.
Das glaubte er damals. Aber schon als er ein größerer Knabe wurde, mehr lernte und klüger geworden war, begriff er wohl, dass eine ganz andere Herrlichkeit im Garten des Paradieses vorhanden sein müsse.
"Oh, weshalb pflückte doch Eva den Apfel vom Baume der Erkenntnis? Weshalb aß Adam von der verbotenen Frucht? Das sollte ich gewesen sein, so wäre es nicht geschehen. Nie würde die Sünde in die Welt gekommen sein!"
Das sagte er damals, und das sagte er noch, als er siebzehn Jahre alt war. Der Garten des Paradieses erfüllte alle seine Sinne.
Eines Tages ging er im Walde, und zwar allein, denn das war sein größtes Vergnügen.
Der Abend brach an, die Wolken zogen sich zusammen; es regnete, als ob der ganze Himmel eine einzige Schleuse sei, aus der Wasser stürze; es war so dunkel, wie es sonst des Nachts nur im tiefsten Brunnen ist. Bald glitt er im nassen Grase aus, bald fiel er über die Steine, die aus dem nassen Felsengrunde hervorragten. Alles triefte von Wasser; es war nicht ein trockener Faden an dem armen Prinzen. Er musste über große Steinblöcke klettern, wo das Wasser aus dem hohen Moose quoll. Er war nahe daran, ohnmächtig zu werden. Da hörte er ein sonderbares Sausen, und vor sich sah er eine große erleuchtete Höhle. Mitten in derselben brannte ein solches Feuer, dass man einen Hirsch daran braten konnte. Und das geschah auch. Der prächtigste Hirsch mit seinem hohen Geweihe war auf einen Spieß gesteckt und wurde langsam zwischen zwei abgehauenen Fichtenstämmen herumgedreht. Eine ältliche Frau, groß und stark, als wäre sie eine verkleidete Mannsperson, saß am Feuer und warf ein Stück Holz nach dem andern hinein.
"Komm nur näher“, sagte sie. "Setze dich an das Feuer, damit deine Kleider trocknen.“
"Hier zieht es sehr", sagte der Prinz und setzte sich auf den Fußboden nieder.
Das wird noch ärger werden, wenn meine Söhne nach Hause kommen!", erwiderte die Frau. "Du bist hier in der Höhle der Winde: meine Söhne sind die vier Winde der Welt; kannst du das verstehen?
"Wo sind deine Söhne“, fragte der Prinz.
"Ja, es ist schwer zu antworten, wenn man dumm fragt", sagte die Frau. "Meine Söhne treiben es auf eigene Hand; sie spielen Federball mit den Wolken dort oben im Königssaal.“ Und dabei zeigte sie in die Höhe.
,,Ach so!", sagte der Prinz. "Ihr sprecht übrigens ziemlich barsch und seid nicht so mild wie die Frauen, die ich sonst um mich habe!"
"Ja, die haben wohl nichts anderes zu tun. Ich muss hart sein, wenn ich meine Knaben in Respekt erhalten will; aber das kann ich, obgleich sie Trotzköpfe sind. Siehst du die vier Säcke an der Wand hängen? Vor denen fürchten sie sich ebenso, wie du dich früher vor der Rute hinterm Spiegel. Ich kann die Knaben zusammen biegen, sag ich dir, und dann stecke ich sie in den Sack; da machen wir keine Umstände! Da sitzen sie und dürfen nicht eher wieder umherstreifen, bis ich es für gut erachte. Aber da haben wir den einen.“
Es war der Nordwind, der mit einer eisigen Kälte herein trat; große Hagelkörner hüpften auf dem Fußboden hin, und Schneeflocken stöberten umher. Er war in Bärenfellbeinkleidern und Jacke; eine Mütze von Seehundsfell ging bis über die Ohren herab, lange Eiszapfen hingen ihm am Barte, und ein Hagelkorn nach dem andern glitt ihm vom Jackenkragen herunter.
"Gehen Sie nicht gleich an das Feuer", sagte der Prinz.
"Es könnten sonst leicht Gesicht und Hände erfrieren."
"Erfrieren?", sagte der Nordwind und lachte laut auf. "Kälte, das ist gerade mein größtes Vergnügen. Was bist du übrigens für ein Schneiderlein? Wie kommst du in die Höhle der Winde?“
"Er ist mein Gast“, sagte die Alte, "und bist du mit dieser Erklärung nicht zufrieden, so kannst du in den Sack kommen. - Verstehst du mich?“
Sieh, das half; und der Nordwind erzählte, von wannen er kam und wo er fast einen ganzen Monat gewesen.
"Vom Polarmeere komme ich", sagte er, "ich bin auf dem Bäreneilande mit den russischen Walrossjägern gewesen. Ich saß und schlief auf dem Steuer, als sie vom Nordkap wegsegelten; wenn ich mitunter erwachte, flog mir der Sturmvogel um die Beine. Das ist ein komischer Vogel! Der macht einen raschen Schlag mit den Flügeln, hält sie darauf unbeweglich ausgestreckt und hat dann genug Fahrt."
"Mache es nur nicht so weitschweifig!", sagte die Mutter der Winde. "Du kamst also dann nach dem Bäreneilande?"
"Dort ist es schön! Da ist ein Fußboden zum Tanzen, flach wie ein Teller! Halbaufgetauter Schnee mit ein wenig Moos, scharfe Steine und Gerippe von Walrossen und Eisbären lagen umher, bedeckt mit verschimmeltem Grün. Man möchte glauben, dass die Sonne nie darauf geschienen hätte. Ich blies ein wenig in den Nebel, damit man den Schuppen sehen konnte: das war ein Haus, von Wrackholz erbaut und mit Walrosshäuten überzogen; die Fleischseite war nach außen gekehrt; auf dem Dache saß ein Eisbär und brummte. Ich ging nach dem Strande, sah nach den Vogelnestern, erblickte die nackten Jungen, die schrien und den Schnabel aufsperrten; da blies ich in die tausend Kehlen hinab, und sie lernten den Schnabel schließen. Weiterhin wälzten sich die Walrosse wie lebendige Eingeweide oder Riesenmaden mit Schweineköpfen und ellenlangen Zähnen!" -
"Du erzählst gut, mein Sohn!", sagte die Mutter. "Das Wasser läuft mir im Munde zusammen, wenn ich dich anhöre.“
"Dann ging das Jagen an! Die Harpune wurde in die Brust des Walrosses geworfen, so dass der warme Blutstrahl, einem Springbrunnen gleich, über das Eis spritzte. Da gedachte ich auch meines Spieles! Ich blies auf und ließ meine Segler, die turmhohen Eisberge, die Boote einklemmen. Hui! wie man pfiff und wie man schrie; aber ich pfiff lauter! Die toten Walrosskörper, Kisten und Tauwerk mussten sie auf das Eis auswerfen; ich schüttelte die Schneeflocken über sie und ließ sie in den eingeklemmten Fahrzeugen mit ihrem Fang nach Süden treiben, um dort Salzwasser zu kosten. Sie kommen nie mehr nach dem Bäreneilande."
"So hast du ja Böses getan!", sagte die Mutter der Winde. "Was ich Gutes getan habe, mögen die andern erzählen", sagte er. "Aber da haben wir meinen Bruder aus Westen; ihn mag ich von allen am besten leiden; er schmeckt nach der See und führt eine herrliche Kälte mit sich!"
"Ist das der kleine Zephir?", fragte der Prinz. "Jawohl ist das Zephir", sagte die Alte. "Aber er ist doch nicht so klein. Vor Jahren war er ein hübscher Knabe, aber das ist nun vorbei!"
Er sah aus wie ein wilder Mann, aber er hatte einen Schlapphut auf, um nicht zu Schaden zu kommen. In der Hand hielt er eine Mahagonikeule, in den amerikanischen Mahagoniwäldern gehauen. Das war nichts Geringes!
„Wo kommst du her?", fragte die Mutter.
"Aus den Waldwüsten", sagte er, "wo die Lianen eine Hecke zwischen den Bäumen bilden, wo die Wasserschlange im nassen Grase liegt und die Menschen unnötig zu sein scheinen!"
"Was triebst du dort?"
"Ich sah in den tiefen Fluss, sah, wie er von den Felsen herabstürzte, Staub wurde und gegen die Wolken flog, um den Regenbogen zu tragen. Ich sah den wilden Büffel im Flusse schwimmen, aber der Strom riss ihn mit sich fort. Er trieb mit dem Schwarm der wilden Enten, die in die Höhe flogen, wo das Wasser stürzte. Der Büffel musste hinunter; das gefiel mir, und ich blies einen Sturm, dass uralte Bäume splitterten und zu Spänen wurden."
"Und weiter hast du nichts getan?", fragte die Alte.
"Ich habe in den Savannen Purzelbäume geschossen; ich habe die wilden Pferde gestreichelt und Kokosnüsse geschüttelt. Ja, ja, ich habe Geschichten zu erzählen! Aber man muss nicht alles sagen, was man weiß. Das weißt du wohl, Alte!" Und er küsste seine Mutter so, dass sie fast hintenübergefallen wäre. Es war ein schrecklich wilder Bube!
Nun kam der Südwind mit einem Turban und einem fliegenden Beduinenmantel.
"Hier ist es recht kalt, hier draußen!“, sagte er und warf noch Holz ins Feuer. "Man merkt, dass der Nordwind zuerst gekommen ist!"
"Es ist hier so heiß, dass man einen Eisbären braten kann!", sagte der Nordwind.
"Du bist selbst ein Eisbär!", antwortete der Südwind.
"Wollt ihr in den Sack gesteckt werden?", fragte die Alte. - "Setze dich auf den Stein dort und erzähle, wo du gewesen bist."
"In Afrika, Mutter!", erwiderte er. "Ich war mit den Hottentotten auf der Löwenjagd im Lande der Kaffern. Da wächst Gras in den Ebenen, grün wie eine Olive! Da lief der Strauß mit mir um die Wette; aber ich bin doch noch schneller. Ich kam nach der Wüste mit dem gelben Sande; aber da sieht es aus wie auf dem Grunde des Meeres. Ich traf eine Karawane; man schlachtete das letzte Kamel, um Trinkwasser zu erhalten; aber es war nur wenig, was man bekam. Die Sonne brannte von oben und der Sand von unten. Die ausgedehnte Wüste hatte keine Grenze. Da wälzte ich mich in den feinen losen Sand und wirbelte ihn in großen Säulen auf. Das war ein Tanz! Du hättest sehen sollen, wie mutlos das Dromedar dastand, und der Kaufmann zog den Kaftan über den Kopf. Er warf sich vor mir nieder wie vor Allah, seinem Gotte. Nun sind sie begraben; es steht eine Pyramide von Sand über ihnen allen. Wenn ich die einmal fort blase, dann wird die Sonne die weißen Knochen bleichen; da können die Reisenden sehen, dass dort früher Menschen gewesen sind. Sonst wird man das in der Wüste nicht glauben.“
"Du hast also nur Böses getan!“, sagte die Mutter. "Marsch in den Sack!" Und ehe er es sich versah, hatte sie den Südwind um den Leib gefasst und in den Sack gesteckt. Er wälzte sich umher auf dem Fußboden, aber sie setzte sich darauf, und da musste er stille liegen.
"Das sind muntere Knaben, die du hast!“, sagte der Prinz. "Jawohl“, antwortete sie, "und ich weiß sie zu züchtigen!
Da haben wir den vierten!“
Das war der Ostwind, der war wie ein Chinese gekleidet. "Ach, kommst du von jener Gegend?", sagte die Mutter.
"Ich glaubte, du wärest im Garten des Paradieses gewesen.“
"Dahin fliege ich erst morgen!", sagte der Ostwind. "Morgen sind es hundert Jahre, seitdem ich dort war! Ich komme jetzt aus China, wo ich um den Porzellanturm tanzte, dass alle Glocken klingelten. Auf der Straße bekamen die Beamten Prügel; das Bambusrohr wurde auf ihren Schultern zerschlagen, und das waren Leute vom ersten bis zum neunten Grade. Sie schrien: ,Vielen Dank, mein väterlicher Wohltäter!' Aber es kam ihnen nicht vom Herzen, und ich klingelte mit den Glocken und sang: ,Tsing, tsang, tsu'!"
"Du bist mutwillig 111 sagte die Alte. "Es ist gut, dass du morgen in den Garten des Paradieses kommst; das trägt immer zu deiner Bildung bei. Trinke dann tüchtig aus der Weisheitsquelle und bringe eine Flasche voll für mich mit nach Hause!"
"Das werde ich tun!", sagte der Ostwind. "Aber weshalb hast du meinen Bruder vom Süden in den Sack gesteckt? Heraus mit ihm! Er soll mir vom Vogel Phönix erzählen; von ihm will die Prinzessin im Garten des Paradieses stets hören, wenn ich jedes hundertste Jahr meinen Besuch abstatte. Mache den Sack auf, dann bist du meine süßeste Mutter, und ich schenke dir zwei Taschen voll Tee, so grün und frisch, wie ich ihn an Ort und Stelle gepflückt habe!"
"Nun, des Tees wegen und weil du mein Herzensjunge bist, will ich den Sack öffnen!" Das tat sie, und der Südwind kroch heraus; aber er sah ganz niedergeschlagen aus, weil der fremde Prinz es gesehen hatte.
"Da hast du ein Palmblatt für die Prinzessin!", sagte der Südwind. "Dieses Blatt hat der Vogel Phönix, der einzige, der in der Welt war, mir gegeben. Er hat mit seinem Schnabel seine ganze Lebensbeschreibung, die hundert Jahre, die er lebte, hinein geritzt. Nun kann sie es selbst lesen, wie der Vogel Phönix sein Nest in Brand steckte und darin saß und verbrannte, gleich der Frau eines Hindu. Wie knisterten die trockenen Zweige! Es war ein Rauch und ein Dampf! Zuletzt ging alles in Flammen auf; der alte Vogel Phönix wurde zu Asche; aber sein Ei lag glühend rot im Feuer; es barst mit einem großen Knall, und das Junge flog heraus; nun herrscht dieses über alle Vögel und ist der einzige Vogel Phönix in der Welt. Er hat in das Palmblatt, das ich dir gab, ein Loch gebissen, das ist sein Gruß an die Prinzessin!"
"Lasst uns etwas essen", sagte die Mutter der Winde. Und nun setzten sie sich alle heran, um von dem gebratenen Hirsch zu speisen; der junge Prinz saß zur Seite des Ostwindes, deshalb wurden sie bald gute Freunde.
"Höre, sage mir einmal", sagte der Prinz, "was ist das für eine Prinzessin, von der hier soviel die Rede ist, und wo liegt der Garten des Paradieses?"
"Hoho!", sagte der Ostwind, "willst du dahin? Ja, dann fliege morgen mit mir! Aber das muss ich dir übrigens sagen: dort ist kein Mensch seit Adams und Evas Zeiten gewesen. Die kennst du ja wohl aus deiner biblischen Geschichte?"
„Jawohl!", sagte der Prinz.
"Damals, als sie verjagt wurden, versank der Garten des Paradieses in die Erde; aber er behielt seinen warmen Sonnenschein, seine milde Luft und all seine Herrlichkeit. Die Feenkönigin wohnt darin; da liegt die Insel der Glückseligkeit, wohin der Tod nie kommt, wo es herrlich ist! Setze dich morgen auf meinen Rücken, dann werde ich dich mitnehmen, ich denke, es wird sich wohl tun lassen. Aber nun musst du aufhören zu sprechen, denn ich will schlafen!"
Und dann schliefen sie allesamt.
In früher Morgenstunde erwachte der Prinz und war nicht wenig erstaunt, sich schon hoch über den Wolken zu befinden. Er saß auf dem Rücken des Ostwindes; sie waren so hoch in der Luft, dass Wälder und Felder, Flüsse und Seen sich wie auf einer Landkarte ausnahmen.
„Guten Morgen", sagte der Ostwind. "Du könntest übrigens füglich noch ein bisschen schlafen, denn es ist nicht viel auf dem flachen Lande unter uns zu sehen, ausgenommen du hättest Lust, die Kirchen zu zählen. Die stehen gleich Kreidepunkten auf dem grünen Brette." Das waren Felder und Wiesen, was er das grüne Brett nannte.
„Es war unartig, dass ich deiner Mutter und deinen Brüdern nicht Lebewohl gesagt habe", meinte der Prinz.
"Wenn man schläft, ist man entschuldigt!", sagte der Ostwind. Und darauf flogen sie noch rascher von dannen. Man konnte es in den Gipfeln der Bäume hören, denn wenn sie darüber hinfuhren, rauschten alle Zweige und Blätter; man konnte es auf dem Meer und auf den Seen sehen, denn wo sie flogen, stiegen die Wogen höher, und die großen Schiffe neigten sich tief in das Wasser, gleich schwimmenden Schwänen.
Gegen Abend, als es dunkel wurde, sahen die großen Städte ergötzlich aus; die Lichter brannten dort unten bald hier, bald da; es war als wenn man ein Stück Papier angebrannt hat und alle die kleinen Feuerfunken sieht, wie einer nach dem andern verschwindet. Und der Prinz klatschte in die Hände; aber der Ostwind bat ihn, das zu unterlassen und sich lieber festzuhalten, sonst könnte er leicht hinunterfal1en und an einer Kirchturmspitze hängen bleiben.
Der Adler über den dunklen Wäldern flog zwar leicht, doch der Ostwind flog noch leichter. Der Kosak auf seinem kleinen Pferde jagte schnell über die Ebene dahin, doch der Prinz jagte noch schneller.
"Nun kannst du den Himalaja sehen“, sagte der Ostwind.
„Das ist der höchste Berg in Asien; nun werden wir bald nach dem Garten des Paradieses gelangen!“ Dann wendeten sie sich mehr südlich, und bald duftete es dort von Gewürzen und Blumen; Feigen und Granatäpfel wuchsen wild, und die wilde Weinranke hatte blaue und rote Trauben. Hier ließen sich beide nieder und streckten sich in das weiche Gras, wo die Blumen dem Winde zunickten, als wollten sie sagen:
"Willkommen!"
"Sind wir nun im Garten des Paradieses?", fragte der Prinz.
"Nein, bewahre!", erwiderte der Ostwind. "Aber wir werden bald dorthin kommen. Siehst du die
Felsenmauer dort und die weite Höhle, wo die Weinranken gleich einer großen grünen Gardine hängen? Da hindurch werden wir hineingelangen! Wickle dich in deinen Mantel; hier brennt die Sonne, aber einen Schritt weiter, und es ist eisig kalt. Der Vogel, der an der Höhle vorbeistreift, hat den einen Flügel draußen im warmen Sommer und den andern drinnen im kalten Winter!"
"So! Das ist also der Weg zum Garten des Paradieses?", fragte der Prinz.
Nun gingen sie in die Höhle hinein. Hu! wie war es dort eisig kalt! Aber es währte doch nicht lange. Der Ostwind breitete seine Flügel aus, und sie leuchteten gleich dem hellsten Feuer. Nein, welch eine Höhle! Die großen Steinblöcke, von denen das Wasser herabträufelte, hingen über ihnen in den wunderbarsten Gestalten; bald war es da so enge, dass sie auf Händen und Füßen kriechen mussten, bald so hoch und ausgedehnt wie in der freien Luft. Es sah aus wie Grabkapellen mit stummen Orgelpfeifen und versteinerten Orgeln.
"Wir gehen wohl den Weg des Todes zum Garten des Paradieses?", fragte der Prinz. Aber der Ostwind antwortete keine Silbe, zeigte nur vorwärts, und das schönste blaue Licht strahlte ihnen entgegen. Die Steinblöcke über ihnen wurden mehr und mehr ein Nebel, der zuletzt wie eine weiße Wolke im Mondschein aussah. Nun waren sie in der herrlichsten milden Luft; so frisch wie auf den Bergen, so duftend wie bei den Rosen des Tales. Da strömte ein Fluss, so klar wie die Luft selbst; und die Fische waren wie Silber und Gold; purpurrote Aale, die bei jeder Bewegung blaue Feuerfunken sprühten, spielten unten im Wasser; und die breiten Nixenblumenblätter hatten des Regenbogens Farben; die Blume selbst war eine rotgelbe brennende Flamme, der das Wasser Nahrung gab, gleichwie das Öl die Lampe beständig im Brennen erhält; eine feste Brücke von Marmor, aber so künstlich und fein ausgeschnitten, als wäre sie von Spitzen und Glasperlen gemacht, führte über das Wasser zur Insel der Glückseligkeit,. wo der Garten des Paradieses blühte.
Der Ostwind nahm den Prinzen auf seine Arme und trug ihn hinüber. Da sangen die Blumen und Blätter die schönsten Lieder aus seiner Kindheit, aber so lieblich schwellend, wie keine menschliche Stimme hier singen kann.
Waren es Palmbäume oder riesengroße Wasserpflanzen, die hier wuchsen? So saftige, große Bäume hatte der Prinz früher nie gesehen; in langen Girlanden hingen da die wunderbarsten Schlingpflanzen, wie man sie nur mit Farben und Gold auf dem Rande alter Heiligenbücher, oder durch die Anfangsbuchstaben geschlungen, abgebildet findet. Das waren die seltsamsten Zusammensetzungen von Vögeln, Blumen und Ranken. Dicht daneben im Grase stand ein Schwarm Pfauen mit entfalteten strahlenden Schweifen. Ja, das war wirklich so! Als aber der Prinz daran rührte, merkte er, dass es keine Tiere, sondern Pflanzen waren; es waren die großen Kletten, die hier wie des Pfaues herrlicher Schweif strahlten. Der Löwe und der Tiger sprangen wie geschmeidige Katzen zwischen den grünen Hecken hin, die wie die Blumen des Olivenbaumes dufteten; und der Löwe und der Tiger waren zahm. Die wilde Waldtaube glänzte wie die schönste Perle und schlug mit ihren Flügeln den Löwen an die Mähne; und die Antilope, die sonst so scheu ist, stand daneben und nickte mit dem Kopfe, als ob sie auch mitspielen wollte.
Nun kam die Fee des Paradieses; ihre Kleider strahlten wie die Sonne, und ihr Antlitz war heiter wie das einer frohen Mutter, wenn sie recht glücklich über ihr Kind ist. Sie war so jung und schön, und die hübschesten Mädchen, jede mit einem leuchtenden Sterne im Haare, folgten ihr. Der Ostwind gab ihr das beschriebene Blatt vom Vogel Phönix, und ihre Augen funkelten vor Freude. Sie nahm den Prinzen bei der Hand und führte ihn in ihr Schloss hinein, wo die Wände Farben hatten wie das prächtigste Tulpenblatt, wenn es gegen die Sonne gehalten wird. Die Decke selbst war eine große strahlende Blume, und je mehr man zu derselben hinaufsah, desto tiefer erschien ihr Kelch. Der Prinz trat an das Fenster und blickte durch eine der Scheiben; da sah er den Baum der Erkenntnis mit der Schlange, und Adam und Eva standen dicht dabei. "Sind die nicht verjagt?", fragte er. Und die Fee lächelte und erklärte ihm, dass die Zeit auf jeder Scheibe ihr Bild eingebrannt habe; aber nicht, wie man es zu sehen gewohnt, nein, es war Leben darin; die Blätter der Bäume bewegten sich; die Menschen kamen und gingen wie in einem Spiegelbilde. Und er sah durch eine andere Scheibe, da war Jakobs Traum, wo die Leiter bis in den Himmel ging, und die Engel mit großen Schwingen schwebten auf und nieder. Ja, alles, was in dieser Welt geschehen war, lebte und bewegte sich in den Glasscheiben; so künstliche Gemälde konnte nur die Zeit einbrennen.
Die Fee lächelte und führte ihn in einen großen, hohen Saal, dessen Wände transparent erschienen. Hier waren Porträts, das eine Gesicht immer schöner als das andere. Man sah Millionen Glückliche, die lächelten und sangen, so dass es in eine Melodie zusammen floss; die allerobersten waren so klein, dass sie kleiner erschienen wie die kleinste Rosenknospe, wenn sie wie ein Punkt auf das Papier gezeichnet wird. Mitten im Saale stand ein großer Baum mit hängenden üppigen Zweigen; große und kleine goldene Äpfel hingen wie Apfelsinen zwischen den grünen Blättern. Das war der Baum der Erkenntnis, von dessen Frucht Adam und Eva gegessen hatten. Von jedem Blatte tröpfelte ein glänzender roter Tautropfen: es war, als ob der Baum blutige Tränen weinte.
"Lass uns in das Boot steigen", sagte die Fee, "da wollen wir Erfrischungen auf dem schwellenden Wasser genießen! Das Boot schaukelt und kommt nicht von der Stelle, aber alle Länder der Welt gleiten an unsern Augen vorüber: Und es war wunderbar anzusehen, wie sich die ganze Küste bewegte. Da kamen die hohen schneebedeckten Alpen mit Wolken und schwarzen Tannen; das Horn erklang tief und wehmütig, und der Hirt jodelte im Tale. Dann bogen die Bananenbäume ihre langen hängenden Zweige über das Boot nieder; schwarze Schwäne schwammen auf dem Wasser, und die seltsamsten Tiere und Blumen zeigten sich am Ufer; das war Australien, der fünfte Erdteil, der, mit einer Aussicht auf die blauen Berge, vorbei glitt. Man hörte den Gesang der Priester und sah den Tanz der Wilden zu dem Schalle der Trommeln und der knöchernen Trompeten. Ägyptens Pyramiden, die bis in die Wolken ragten, umgestürzte Säulen und Sphinxe, halb im Sande begraben, segelten ebenfalls vorbei. Die Nordlichter leuchteten über ausgebrannten Vulkanen des Nordens: das war ein Feuerwerk, das auch der beste Feuerwerker nicht nachmachen konnte. Der Prinz war sehr glückselig; ja, er sah noch hundertmal mehr, als was wir hier erzählen können.
"Und ich kann immer hier bleiben?", fragte er.
"Das kommt auf dich selbst an!", erwiderte die Fee. "Wenn du nicht wie Adam dich gelüsten lässest, das Verbotene zu tun, so kannst du immer hierbleiben."
"Ich werde die Apfel auf dem Erkenntnisbaume nicht anrühren!", sagte der Prinz. "Hier sind ja Tausende von Früchten, ebenso schön wie die."
"Prüfe dich selbst, und bist du nicht stark genug, so gehe mit dem Ostwinde, der dich herbrachte. Er fliegt nun zurück und lässt sich in hundert Jahren hier nicht wieder blicken; die Zeit wird an diesem Orte für dich vergehen, als wären es hundert Stunden, aber es ist eine lange Zeit für die Versuchung. Jeden Abend, wenn ich von dir gehe, muss ich dir zurufen: ,Komm mit!' Ich muss dir mit der Hand winken, - aber bleibe zurück! Gehe nicht mit, denn sonst wird mit jedem Schritte deine Sehnsucht größer werden. Du kommst dann in den Saal, wo der Baum der Erkenntnis wächst; ich schlafe unter seinen duftenden hängenden Zweigen; du wirst dich über mich beugen, und ich muss lächeln; drückst du aber einen Kuss auf meinen Mund, so sinkt das Paradies tief in die Erde und es ist für dich verloren. Der Wüste scharfer Wind wird dich umsausen, der kalte Regen von deinem Haupte träufeln. Kummer und Drangsal wird dein Erbteil."
"Ich bleibe hier!", sagte der Prinz. Und der Ostwind küsste ihn auf die Stirn und sagte: "Sei stark, dann treffen wir uns nach hundert Jahren wieder! Lebe wohl! Lebe wohl!" Und der Ostwind breitete seine großen Flügel aus; sie glänzten wie das Wetterleuchten in der Erntezeit oder wie das Nordlicht im Winter.
"Lebe wohl! Lebe wohl!", ertönte es von Blumen und Bäumen.
Störche und Pelikane flogen wie flatternde Bänder in Reihen und geleiteten ihn bis zur Grenze des Gartens.
"Nun beginnen wir unsere Tänze!", sagte die Fee. "Zum Schlusse, wo ich mit dir tanze, wirst du, indem die Sonne sinkt, sehen, dass ich dir winke; du wirst mich dir zurufen hören: ,Komm mit!' Aber tue es nicht! Hundert Jahre lang muss ich es jeden Abend wiederholen; jedes Mal, wenn die Zeit vorbei ist, gewinnst du mehr Kraft; zuletzt denkst du gar nicht mehr daran. Heute Abend ist es zum ersten Mal; nun habe ich dich gewarnt!"
Und die Fee führte ihn in einen großen Saal von weißen durchsichtigen Lilien; die gelben Staubfäden in jeder Blume bildeten eine kleine Goldharfe, die mit Saitenlaut und Flötenton erklang. Die schönsten Mädchen, schwebend und schlank, in wallenden Flor gekleidet, so dass man die reizenden Glieder sah, schwebten im Tanze und sangen, wie herrlich es sei zu leben, und dass sie nie sterben würden, und dass der Garten des Paradieses ewig blühen würde.
Und die Sonne ging unter; der ganze Himmel wurde ein Gold, welches den Lilien den Schein der herrlichsten Rosen gab; und der Prinz trank von dem schäumenden Weine, welchen die Mädchen ihm reichten, und fühlte eine Glückseligkeit wie nie zuvor. Er sah, wie der Hintergrund des Saales sich öffnete, und der Baum der Erkenntnis stand in einem Glanze, der seine Augen blendete; der Gesang dort war weich und lieblich wie seiner Mutter Stimme, und es war, als ob sie sänge: "Mein Kind, mein geliebtes Kind!"
Da winkte die Fee und rief so liebevoll: "Komm mit! Komm mit!" Und er stürzte ihr entgegen, vergaß sein Versprechen, vergaß es schon den ersten Abend, und sie winkte und lächelte. Der Duft, der gewürzige Duft ringsumher wurde stärker; die Harfen ertönten weit lieblicher, und es war, als ob die Millionen Köpfe im Saale, wo der Baum wuchs, nickten und sängen: "Alles muss man kennen! Der Mensch ist der Herr der Erde." Und es waren keine blutigen Tränen mehr, die von den Blättern des Erkenntnisbaumes fielen: es waren rote funkelnde Sterne, die er zu erblicken glaubte. "Komm mit, komm mit!", lauteten die bebenden Töne, und bei jedem Schritte brannten des Prinzen Wangen heißer, bewegte sein Blut sich rascher. "Ich muss“, sagte er. "Es ist ja keine Sünde, kann keine sein! Weshalb nicht der Schönheit und der Freude folgen? Ich will sie schlafen sehen; es ist ja nichts verloren, wenn ich es nur unterlasse, sie zu küssen; und küssen werde ich sie nicht: ich bin stark, ich habe einen festen Willen!“
Und die Fee warf ihren strahlenden Anzug ab, bog die Zweige zurück und nach einem Augenblicke war sie darin verschwunden.
"Noch habe ich nicht gesündigt!“, sagte der Prinz, "und ich will es auch nicht!“ Und dann bog er die Zweige zur Seite: da schlief sie bereits, schön, wie nur die Fee im Garten des Paradieses sein kann. Sie lächelte im Traume, er bog sich über sie nieder und sah zwischen ihren Augenlidern Tränen stehen.
"Weinst du über mich?“, flüsterte er. "Weine nicht, du herrliches Weib! Nun begreife ich erst des Paradieses Glück! Es durchströmt mein Blut, meine Gedanken; die Kraft des Cherubs und des ewigen Lebens fühle ich in meinem irdischen Körper! Möge es ewig Nacht für mich werden: eine Minute wie diese ist Reichtum genug!“ Und er küsste die Tränen aus ihren Augen; sein Mund berührte den ihrigen. -
Da krachte ein Donnerschlag, so tief und schrecklich, wie niemand ihn je gehört. Und alles stürzte zusammen; die schöne Fee, das blühende Paradies sank, sank tiefer und tiefer. Der Prinz sah es in die schwarze Nacht versinken; wie ein kleiner leuchtender Stern strahlte es aus weiter Ferne; Todeskälte durchschauerte seinen Körper; er schloss seine Augen und lag lange wie tot.
Der kalte Regen fiel ihm in das Gesicht, der scharfe Wind blies um sein Haupt; da kehrten seine Sinne zurück. "Was habe ich getan!“, seufzte er. "Ich habe gesündigt, wie Adam - gesündigt, so dass das Paradies tief versunken ist.“ Und er öffnete seine Augen; den Stern in der Ferne, den Stern, der wie das gesunkene Paradies funkelte, sah er noch - es war der Morgenstern am Himmel.
Er erhob sich und war in dem großen Walde dicht bei der Höhle der Winde, und die Mutter der Winde saß an seiner Seite, sie sah böse aus und erhob ihren Arm in die Luft.
"Schon den ersten Abend!“, sagte sie. „Das dachte ich wohl! Ja, wärest du mein Sohn, so müsstest du in den Sack!"
"Da soll er hinein!", sagte der Tod. Das war ein starker alter Mann mit einer Sense in der Hand und mit großen schwarzen Schwingen. "In den Sarg soll er gelegt werden; aber jetzt noch nicht; ich zeichne ihn nur auf, lasse ihn dann noch eine Weile in der Welt umherwandern, seine Sünde sühnen, gut und besser werden. Ich komme aber einmal. Wenn er es gerade am wenigsten erwartet, stecke ich ihn in den schwarzen Sarg, setze ihn auf meinen Kopf und fliege gegen den Stern empor. Auch dort blüht des Paradieses Garten, und ist er gut und fromm, so wird er hineintreten; sind aber seine Gedanken böse und ist das Herz noch voller Sünde, so sinkt er mit dem Sarge tiefer, als das Paradies gesunken, und nur jedes tausendste Jahr hole ich ihn wieder, damit er noch tiefer sinke oder auf den Stern gelange, den funkelnden Stern dort oben!“

Der fliegende Koffer

Es war einmal ein Kaufmann, der so reich war, dass er die ganze Straße und beinahe noch ein Seitengässchen mit lauter harten Talern pflastern konnte. Allein das tat er nicht, er wusste sein Geld anders anzuwenden. Gab er einen Dreier aus, bekam er einen Taler wieder. Ja, ein tüchtiger Kaufmann war er, aber er musste doch sterben.
Der Sohn bekam nun all dies Geld - und er lebte lustig, ging jede Nacht auf Maskenbälle, machte Papierdrachen aus Talerscheinen und warf auf dem See Butterstollen mit Goldstücken, anstatt mit Steinen. So konnte das Geld schon abnehmen und tat es auch. Zuletzt besaß er nicht mehr als wenige Groschen, und hatte keine anderen Kleider als ein Paar Pantoffeln und einen alten Schlafrock. Nun bekümmerten sich seine Freunde nicht länger um ihn, da sie sich ja mit ihm zusammen nicht auf der Straße sehen lassen konnten; allein einer von ihnen, ein gutmütiger Mensch, sandte ihm einen alten Koffer und ließ ihm sagen: "Pack ein!" Ja, das war nun wohl recht gut, aber er hatte nichts einzupacken, und deshalb setzte er sich selbst in den Koffer.
Das war ein absonderlicher Koffer. Sobald man an das Schloss drückte, konnte er fliegen. Er tat es und - husch! flog er mit ihm durch den Schornstein hoch hinauf über die Wolken, weiter und immer weiter fort. Mitunter knackte der Boden bedenklich, und er hatte dann große Furcht, dass der Koffer in Stücke gehen würde, denn das hätte einen ganz artigen Luftsprung abgegeben! Gott bewahre uns! Endlich kam er nach dem Lande der Türken. Den Koffer verbarg er im Walde unter dürren Blättern und ging dann in die Stadt hinein. Das konnte er recht wohl tun, denn bei den Türken ging ja alles wie er in Schlafrock und Pantoffeln. Da begegnete er einer Amme mit einem kleinen Kinde. "Höre, du Türkenamme", sagte er, "was ist das für ein großes Schloss hier unmittelbar bei der Stadt, dessen Fenster so hoch sitzen?"
"Dort wohnt die Tochter des Königs", sagte sie. "Es ist ihr geweissagt worden, dass sie über einen Geliebten sehr unglücklich werden würde, und deshalb darf niemand zu ihr kommen, wenn nicht der König und die Königin zugegen sind!"
"Ich danke!" sagte der Kaufmannssohn, und dann ging er in den Wald hinaus, setzte sich in seinen Koffer, flog auf das Dach des Schlosses und kroch durch das Fenster zur Prinzessin hinein.
Sie lag auf dem Sofa und schlief; sie war so lieblich, dass er sie küssen musste. Sie erwachte und erschrak heftig, er aber sagte, er wäre der Türkengott, der durch die Lüfte zu ihr gekommen wäre, und das schmeichelte ihr.
Da saßen sie nun Seite an Seite, und er erzählte ihr Geschichten von ihren Augen; das wären die herrlichsten dunklen Seen, und die Gedanken schwämmen darin gleich Meerweibchen. Er erzählte von ihrer Stirne, die wäre ein Schneeberg mit den prächtigsten Sälen und Bildern. Auch erzählte er vom Storche, der die niedlichen Kinderchen bringt.
Ja, das waren herrliche Geschichten! Dann freite er um die Prinzessin, und sie sagte sogleich "ja".
"Aber Sie müssen am Sonnabend herkommen, da ist der König und die Königin bei mir zum Tee. Sie werden sehr stolz darauf sein, dass ich den Türkengott bekomme. Aber sorgen Sie dafür, dass Sie ein recht schönes Märchen erzählen können, denn das gewährt meinen Eltern die angenehmste Unterhaltung. Meine Mutter hört gern moralische und vornehme, und mein Vater lustige, über die man lachen kann."
"Ja, ich bringe keine andere Brautgabe als ein Märchen!", und dann trennten sie sich; aber die Prinzessin gab ihm einen mit Goldstücken besetzten Säbel, und die Goldstücke konnte er besonders gebrauchen.
Nun flog er fort, kaufte sich einen neuen Schlafrock und saß dann draußen im Walde und dichtete ein Märchen. Das sollte bis zum Sonnabend fertig sein, und das war nicht so leicht.
Als es nun fertig war, siehe, da war es gerade Sonnabend. Der König, die Königin und der ganze Hot warteten bei der Prinzessin mit dem Tee. Er wurde sehr freundlich empfangen.
"Wollen Sie nun ein Märchen erzählen!" sagte die Königin.
"Eins, welches tiefsinnig und belehrend ist!"
"Aber worüber man auch lachen kann!", sagte der König.
"Jawohl!" sagte er und erzählte. Da muss man nun gut aufmerken.
"Es war einmal ein Bund Schwefelhölzer, die auf ihre hohe Abkunft sehr stolz waren. Ihr Stammbaum, das heißt die große Fichte, von der jedes ein kleines. kleines Stückchen war, war ein großer, alter Baum im Walde gewesen. Die Schwefelhölzer lagen nun auf dem Gesimse zwischen einem Feuerzeug und einem alten eisernen Topf, und diesen erzählten sie von ihrer Jugend. ,Ja, als wir auf dem grünen Zweige waren', sagten sie, ,da waren wir wahrlich auf einem grünen Zweige. Jeden Abend und Morgen gab es Diamanttee, das war der Tau, den ganzen Tag hatten wir Sonnenschein, wenn nämlich die Sonne schien, und alle die kleinen Vögel mussten uns Geschichten erzählen. Wir konnten recht gut merken, dass wir auch reich waren, denn die Laubbäume waren nur im Sommer bekleidet, aber unsere Familie hatte die Mittel, für Sommer und Winter grüne Kleider anzuschaffen. Nun aber kamen Holzhauer, und es entstand eine große Umwälzung; unsere ganze Familie zersplitterte sich. Der Stammherr erhielt als Hauptmast Platz auf einem prächtigen Schiffe, das die Welt umsegeln konnte, wenn es wollte. Den anderen Zweigen wurden andere Stellen eingeräumt, und wir haben nun die Aufgabe, der niederen Menge das Licht anzuzünden.'
,Ich weiß ein anderes Lied zu singen!', sagte der Eisentopf, an dessen Seite die Schwefelhölzer lagen. ,Seit ich das Licht der Welt erblickte, bin ich vielmals gescheuert und gekocht worden. Ich sorge für das Dauerhafte und bin, eigentlich gesprochen, der Erste hier im Hause. Meine einzige Freude ist, nach Tische rein und fein auf dem Gesimse zu liegen und mit den Kameraden vernünftig zu plaudern. Nehme ich aber den Wassereimer aus, der doch bisweilen auf den Hof hinunter kommt, so leben wir hier immer hinter zugemachten Türen. Unser einziger Neuigkeitsbote ist der Marktkorb, aber der redet zu aufrührerisch über die Regierung und das Volk. Fiel doch neulich ein alter Topf aus Schreck darüber auf den Boden und zerschlug sich in Stücke. Der war gutgesinnt, kann ich euch versichern!'
,Nun sprichst du zuviel!' sagte das Feuerzeug, und der Stahl schlug gegen den Feuerstein, dass Funken sprühten. ,Wollen wir uns nicht einen lustigen Abend machen?'
,Ja, lasset uns davon sprechen, wer der Vornehmste ist!', sagten die Schwefelhölzer.
,Nein, ich spreche nicht gern von mir selber!', versetzte der Tontopf. ,Ich schlage eine Abendunterhaltung vor. Ich will den Anfang machen und etwas erzählen; jeder teilt mit, was er erlebt hat. Da kann man sich so trefflich hineinfinden und es ist sehr lustig.
Also hört: An der Ostsee bei den dänischen Buchten - -!'
,Ein herrlicher Anfang', riefen alle Teller. ,Das wird gewiss eine Geschichte, die allen gefällt!'
,Ja, dort brachte ich meine Jugend bei einer stillen Familie zu; die Möbel wurden poliert, der Fußboden aufgewischt, und alle vierzehn Tage wurden neue Vorhänge aufgesteckt!' ,Wie anschaulich Sie doch erzählen!' sagte der Haarbesen. ,Man kann gleich hören, dass ein Frauenzimmer erzählt; es zieht sich etwas Reinliches hindurch!'
,Ja, das fühlt man!', sagte der Wassereimer und machte vor Freude einen Satz, dass es auf dem Boden nur so klatschtet Der Topf fuhr fort zu erzählen, und das Ende entsprach dem Anfange.
Alle Teller klirrten vor Freude, und der Haarbesen zog grüne Petersilie aus dem Sandloche und bekränzte den Topf, weil er wusste, er würde die andern dadurch ärgern, und ,bekränze ich ihn heute', dachte er, ,so bekränzt er mich morgen!'
,Nun will ich tanzen!', sagte die Feuerzange und tanzte.
Ja, Gott bewahre uns, wie konnte sie das eine Bein in die Höhe schwenken! Der Bezug des alten Stuhles dort in der Ecke platzte bei dem Anblick. ,Werde ich nun auch bekränzt?', fragte die Feuerzange, und sie wurde es.
,Das ist doch nur Pöbel', dachten die Schwefelhölzer.
Nun sollte die Teemaschine singen, aber sie entschuldigte sich mit Erkältung; auch könnte sie nur in kochendem Zustande singen, aber es geschah eigentlich aus lauter Vornehmtuerei; sie wollte nur auf dem Tisch drinnen bei der Herrschaft singen.
Im Fenster saß eine alte Feder, mit der die Magd zu schreiben pflegte. Es war nichts Bemerkenswertes an ihr, ausgenommen, dass sie zu tief in das Tintenfass getaucht war, aber gerade darauf tat sie sich etwas zugute. ,Will die Teemaschine nicht singen', sagte sie, ,so mag sie es bleiben lassen. Draußen sitzt im Bauer eine Nachtigall, die singen kann; sie hat zwar nichts gelernt, aber gleichwohl wollen wir ihr das heute Abend nicht übel auslegen!'
,Ich finde es im höchsten Grade unpassend', äußerte der Teekessel, der das Amt eines Küchensängers bekleidete und ein Halbbruder der Teemaschine war, ,dass ein fremder Vogel angehört werden soll. Ist das patriotisch? Ich fordere den Marktkorb auf, darüber sein Urteil abzugeben ['
,Ich ärgere mich nur!', sagte der Marktkorb. ,Ich ärgere mich so sehr, wie es sich niemand vorstellen kann! Ist das eine Art und Weise, den Abend zu verleben? Würde es nicht weit vernünftiger sein, das ganze Haus einmal auf den rechten Fleck zu setzen? Jeder sollte dann schon den ihm gebührenden Platz erhalten, und ich würde die ganzen Anordnungen treffen.
,Ja, lasst uns Lärm machen’, riefen sie sämtlich. Plötzlich ging die Türe auf. Es war das Dienstmädchen, und nun standen sie still und wagten nicht ,muck' zu sagen. Aber da war kein Topf, der nicht ein Gefühl seiner Macht und Würde gehabt hätte. ,Ja, wenn ich nur gewollt hätte', dachte ein jeder, ,dann würde es sicher einen lustigen Abend gegeben haben!'
Das Dienstmädchen nahm die Schwefelhölzer und machte Feuer mit ihnen an. - Gott bewahre uns, wie sie sprühten und aufflammten!
,Nun kann ein jeder sehen, dass wir die Ersten sind!' dachten sie. ,Welchen Glanz, welches Licht wir haben!' - und nun waren sie ausgebrannt!"
"Das war ein herrliches Märchen!", sagte die Königin. "Ich fühle mich im Geiste ganz zu den Schwefelhölzern in die Küche versetzt. Ja, nun sollst du unsere Tochter haben."
"Jawohl“, sagte der König, "du sollst unsere Tochter am Montag bekommen", denn nun sagte er zu ihm, als zu einem künftigen Familiengliede, ,du'.
Die Hochzeit war also festgesetzt, und am Abend vorher wurde die ganze Stadt erleuchtet. Wecken und Brezeln wurden verteilt, die Straßenjungen drängten sich auf den Gassen, riefen "hurra!“ und pfiffen auf den Fingern; es war außerordentlich prachtvoll.
"Ich muss wohl auch daran denken, mein Scherflein zu den Feierlichkeiten beizutragen“, dachte der Kaufmannssohn, und nun kaufte er Raketen, Knallerbsen und alles erdenkliche Feuerwerk, legte es in seinen Koffer und flog damit in die Luft empor.
Rutsch! ging es in die Höhe und verpuffte unter vielem Lärm. Alle Türken hüpften dabei in die Höhe, dass ihnen die Pantoffeln um die Ohren fuhren. Dergleichen Lufterscheinungen hatten sie niemals gesehen. Nun sahen sie ein, dass es der Türkengott selber war, der die Prinzessin bekommen sollte.
Sobald sich der Kaufmannssohn wieder mit seinem Koffer in den Wald hinabgelassen hatte, dachte er: "Ich will doch in die Stadt gehen, um mir berichten zu lassen, wie es sich ausgenommen hat. Man kann sich wohl zusammenreimen, dass er Lust dazu hatte.
Nein, was ihm die Leute doch alles erzählten! Ein jeder, bei dem er sich erkundigte, hatte es in seiner Weise gesehen, aber einen prächtigen Eindruck hatte es auf alle gemacht.
"Ich sah den Türkengott selbst!“, erzählte der eine. "Er hatte Augen wie blitzende Sterne, und einen Bart wie schäumendes Wasser.“
"Er flog in einem feurigen Mantel“,, berichtete ein anderer.
"Die lieblichsten Engelsköpfchen schauten unter den Falten hervor.“
Ja, das waren vortreffliche Sachen, die er zu hören bekam, und den Tag darauf sollte er Hochzeit haben.
Nun ging er nach dem Walde zurück, um sich in seinen Koffer zu setzen, aber wo war der? Der Koffer war verbrannt. Ein Funke war von dem Feuerwerk zurückgeblieben, der Feuer gefangen und den Koffer in Asche gelegt hatte. Er konnte nicht mehr fliegen, nicht mehr zu seiner Braut gelangen.
Sie aber stand den ganzen Tag auf dem Dache und harrte seiner. Sie wartet noch; er aber durchzieht die Welt und erzählt Märchen, die jedoch nicht mehr so lustig sind als das von den Schwefelhölzchen.

Die Blumen der kleinen Ida

"Tausend noch einmal, sind meine armen Blumen welk!", rief bestürzt die kleine Ida. "Gestern Abend waren sie noch so schön und nun hängen sie alle vertrocknet die Köpfchen. Warum tun sie das?", fragte sie den Studenten, den sie sehr gern hatte, weil er schöne Geschichten wusste und drollige Bilder ausschnitt: Herzen mit kleinen Mädchen darin, die tanzten, und große Schlösser, deren Türen sich öffnen ließen.
"Ja, weißt du, was deinen Blumen fehlt?" sagte der Student, "sie sind heute Nacht auf dem Balle gewesen und deshalb lassen sie die Köpfe hängen."
"Aber die Blumen können ja nicht tanzen!", sagte die kleine Ida.
,,0 ja!", sagte der Student, "sobald es dunkel wird und wir anderen schlafen, dann springen sie lustig umher; fast jede Nacht haben sie Ball."
"Wo tanzen die schönen Blumen?", fragte die kleine Ida.
"Bist du nicht öfters vor dem Tore bei dem großen Schlosse gewesen, wo der König im Sommer wohnt und der schöne Garten mit den vielen Blumen ist? Du hast ja die Schwäne gesehen, die auf dich zuschwimmen, wenn du ihnen Brotkrümchen geben willst. Dort findet wirklich Ball statt, das kannst du mir glauben!"
"Erst gestern ging ich mit meiner Mutter draußen im Garten!", sagte Ida, "aber an allen Bäumen fehlten die Blätter und es waren gar keine Blumen mehr da! Wo sind sie? Im Sommer sah ich so viele!"
"Die sind drinnen im Schloss!" sagte der Student. "Du musst wissen, sobald der König und alle Hofleute wieder in die Stadt ziehen, dann laufen die Blumen sofort aus dem Garten auf das Schloss und sind lustig.
Das solltest du einmal sehen. Die bei en reizendsten Rosen setzen sich auf den Thron und sind dann König und Königin. Die großen Hahnenkämme stellen sich alle an der Seite auf und stehen und verneigen sich. Das sind die Kammerjunker. Nun kommen die niedlichen Blumen, und dann ist da großer Ball. Die blauen Veilchen stellen kleine Seekadetten vor, sie tanzen mit Hyazinthen und Krokus, die sie mit ,Fräulein' anreden. Tulpen und Feuerlilien passen auf, dass recht schön getanzt wird und alles fein ordentlich hergeht."
"Aber", fragte die kleine Ida, "ist denn niemand da, der die Blumen dafür bestraft, dass sie in des Königs Schlosse tanzen?"
"Es ist niemand da, der darüber etwas Genaues wüsste!", sagte der Student. "Mitunter kommt des Nachts freilich der alte Schlossverwalter, der da draußen die Aufsicht zu führen hat. Sobald aber die Blumen sein großes Schlüsselbund rasseln hören, verhalten sie sich ganz still, verstecken sich hinter den langen Vorhängen und stecken die Köpfe hervor. ‚Mein Geruch sagt es mir, es sind hier Blumen im Saale!', sagte der alte Schlossverwalter, aber sehen kann er sie nicht.
"Das ist drollig", sagte die kleine Ida und klatschte in die Hände.
"Aber könnte ich denn die Blumen nicht auch sehen?"
,,0 ja!" sagte der Student, "vergiss nur nicht, sobald du wieder hinaus kommst, durch das Fenster zu schauen, dann siehst du sie sicher. Das tat ich heute, da lag eine lange Narzisse auf dem Sofa und dehnte sich; das war eine Hofdame."
„Kommen auch die Blumen aus dem botanischen Garten da hinaus?
Können sie den weiten Weg machen?"
" Jawohl! " sagte der Student, "denn sobald sie wollen, können sie fliegen. Hast du nicht schon die herrlichen Schmetterlinge gesehen, die roten, gelben und weißen? Sie sehen fast wie Blumen aus und sind es auch gewesen. Sie sind vom Stängel hoch hinauf in die Luft gesprungen und haben dann mit ihren Blättern wie mit kleinen Flügeln geschlagen, und nun flogen sie. Da sie sich gut aufführten, durften sie auch am Tage fliegen, brauchten nicht wieder nach Hause zu kommen und still auf dem Stängel zu sitzen, und so wurden diese Blätter schließlich wirkliche Flügel. Das hast du ja selbst gesehen."
"Ach, wie drollig!", sagte die kleine Ida und lachte.
"Wie kann man einem Kinde dergleichen vorreden!", sagte der mürrische Kanzleirat, der zu Besuch gekommen war und auf dem Sofa saß. Er konnte den Studenten gar nicht leiden und brummte stets, wenn er ihn die komischen Bilder ausschneiden sah.
Aber der kleinen Ida kam es doch ganz lustig vor, was ihr der Student von ihren Blumen erzählte, und sie dachte viel daran.
Die Blumen ließen also die Köpfe hängen, weil sie vom nächtlichen Tanze müde waren; sie waren gewiss krank. Im Puppenbett lag ihre Puppe Sophie und schlief, aber die kleine Ida sagte zu ihr: "Du musst leider aufstehen, Sophie, und damit fürlieb nehmen, heute Nacht im Schubfach zu schlafen; die armen Blumen sind krank und da müssen sie in deinem Bette liegen, vielleicht werden sie dann wieder frisch und wohl!" Damit nahm sie die Puppe heraus, die sehr ärgerlich aussah und kein einziges Wort sagte, denn es verdross sie, dass sie nicht ihr Bett behalten durfte.
Dann legte Ida die Blumen in das Puppenbett, zog die kleine Decke ganz über sie und sagte, sie sollten nun hübsch still liegen, sie würde ihnen dann Tee kochen, damit sie wieder wohl und frisch würden und morgen wieder aufstehen könnten. Die Vorhänge zog sie dicht um das kleine Bett, damit die Sonne ihnen nicht in die Augen scheinen sollte.
Auch den ganzen Abend hindurch konnte sie sich nicht enthalten, an das zu denken, was ihr der Student erzählt hatte. Als sie nun selbst zu Bett sollte, huschte sie erst hinter die Gardinen von den Fenstern, wo die prächtigen Blumen ihrer Mutter, Hyazinthen und Tulpen, standen, und flüsterte ihnen ganz leise zu: "Ich weiß es nun, ihr sollt heute Nacht auf den Ball!" Aber die Blumen taten, als verständen sie nichts und rührten kein Blatt, allein die kleine Ida wusste, was sie wusste.
Als sie nun zu Bett gegangen war, lag sie noch lange und dachte, wie hübsch es doch sein müsste, die herrlichen Blumen draußen in dem Schlosse des Königs tanzen zu sehen. "Ob meine Blumen wohl wirklich auch dabei gewesen sind?" Dann fiel sie aber in den Schlaf. In der Nacht erwachte sie wieder. Sie hatte von den Blumen und dem Studenten geträumt, den der Kanzleirat ausgezankt hatte, weil er ihr etwas weismachen wolle. In der Schlafkammer, wo Ida lag, war es ganz still, die Nachtlampe brannte auf dem Tisch, und ihr Vater und ihre Mutter schliefen.
"Ob meine Blumen jetzt wohl in Sophies Bett liegen?" sagte sie bei sich selbst; "ich möchte es doch gar zu gern wissen!" Sie richtete sich ein wenig auf und blickte nach der Tür. Diese war nur angelehnt, und in der anderen Stube lagen die Blumen und all ihr Spielzeug. Sie lauschte, und da war es ihr, als hörte sie drüben auf dem Klavier spielen, aber ganz leise und so hübsch, wie sie nie zuvor gehört hatte.
Jetzt tanzen gewiss alle Blumen!" sagte sie, "ach, wie gern möchte ich es doch sehen!" Aber sie durfte nicht aufstehen, weil sie sonst Vater und Mutter geweckt hätte. "Wenn sie doch nur hereinkommen wollten!" sagte sie; aber die Blumen kamen nicht. Als nun die hübsche Musik immer weiter spielte, konnte sie es nicht länger mehr aushalten, denn es war zu herrlich. Geräuschlos kletterte sie aus ihrem kleinen Bettchen, ging ganz leise nach der Tür und sah in die Stube hinein. Nein, war das drollig, was sie nun zu sehen bekam!
Eine Nachtlampe brannte nicht darin, aber der Mond schien durch das Fenster mitten auf den Fußboden, so dass es fast taghell war. Alle Hyazinthen und Tulpen standen in zwei langen Reihen auf dem Boden, am Fenster waren keine mehr zu sehen, da standen die leeren Töpfe. Auf dem Boden tanzten die Blumen ganz niedlich umeinander, bildeten ordentliche Ketten und hielten einander an den langen, grünen Blättern, wenn sie sich herumschwenkten. Am Klavier saß eine große Feuerlilie, die die kleine Ida bestimmt im Sommer gesehen hatte, denn sie erinnerte sich noch ganz gut, dass der Student gesagt hatte: "Seht nur, wie sie der Fräulein Lina ähnelt!" Damals hatte Ida gelacht, aber jetzt sah sie, dass die lange, gelbe Blume dem Fräulein wirklich glich.
Niemand bemerkte die kleine Lauscherin. Nun sah sie einen großen blauen Krokus mitten auf den Tisch springen, auf dem das Spielzeug stand, direkt auf das Puppenbett zugehen und die Vorhänge auf die Seite schieben. Da lagen die kranken Blumen, aber sie richteten sich sofort empor und nickten den anderen auf dem Fußboden zu, dass sie auch mittanzen wollten. Der alte Herr auf dem Räucherkästchen, dem die Unterlippe abgebrochen war, stand auf und verneigte sich vor den hübschen Blumen. Sie sahen gar nicht mehr krank aus, hüpften unter die anderen hinunter und waren recht vergnügt.
Horch! War es nicht, als ob etwas vom Tische herunterfiele? Ida schaute hin. Es war die Fastnachtsrute, die herunter sprang. Sie schien ebenfalls mit zu den Blumen zu gehören. Sie war auch sehr niedlich. Oben in ihrer Spitze saß eine kleine Wachspuppe, die einen ebenso breiten Hut auf dem Kopfe hatte, wie ihn der Kanzleirat trug. Die Fastnachtsrute hüpfte auf ihren drei roten Stelzfüßchen mitten unter die Blumen und stampfte, weil sie Mazurka tanzte, laut auf den Boden. Den Tanz verstanden die anderen Blumen nicht, denn sie waren gar leicht und konnten nicht aufstampfen.
Die Wachspuppe auf der Fastnachtsrute wurde plötzlich groß und lang, schwang sich hoch über die Blumen empor und rief ganz laut: "Wie kann man einem Kinde dergleichen vorreden! Das ist dummes Zeug!" Und da ähnelte die Wachspuppe, dem Kanzleirat mit seinem breiten Hut täuschend; sie sah ebenso gelb und brummig aus. Aber die Blumen schlugen ihn in die dünnen Beine, da schrumpfte er wieder zusammen und wurde eine winzige Wachspuppe. Das war ein komischer Anblick. Die kleine Ida konnte sich des Lachens nicht enthalten. In demselben Augenblick klopfte es ganz laut inwendig in dem Schubfachs, wo Idas Puppe, Sophie, bei vielem anderen Spielzeug lag. Das Männchen auf dem Raucherkästchen lief bis an die Kante des Tisches, legte sich der Länge nach auf den Bauch und fing an, den Schubkasten ein wenig herauszuziehen. Da richtete sich Sophie empor und sah sich ganz verwundert um. "Hier ist ja Ball!" sagte sie, "warum hat es mir denn niemand gesagt?"
"Willst du mit mir tanzen?" fragte das Räuchermännchen.
"Fürwahr, das stände mir gerade an, mit dir zu tanzen!" sagte sie und wandte ihm den Rücken zu. Hierauf setzte sie sich auf das Schubfach und dachte, es würde schon eine oder die andere Blume kommen und sie zum Tanz auffordern; aber es kam keine. Das Räuchermännchen tanzte ganz allein und gar nicht so übel.
Da nun keine der Blumen Sophie zu sehen schien, ließ sie sich vom Schubfach gerade auf den Boden herab gleiten, so dass ein großer Lärm entstand. Alle Blumen umringten sie auch gleich und fragten, ob sie sich keinen Schaden getan hätte, und sie benahmen sich alle sehr zuvorkommend gegen sie, besonders die Blumen, die in ihrem Bette gelegen hatten. Aber sie hatte keinen Schaden genommen, und alle Blumen Idas dankten ihr für das prächtige Bett und bewiesen ihr große Zuneigung. Sie zogen sie mit sich bis mitten auf den Boden, wo der Mond schien, tanzten mit ihr, und alle anderen Blumen schlossen einen Kreis um sie. Nun war Sophie fröhlich und sagte, sie möchten getrost ihr Bett behalten, sie läge ebenso gern im Schubfach.
Aber die Blumen sagten: "Empfange unseren besten Dank, allein wir können nicht mehr lange leben, morgen sind wir tot. Sage aber der kleinen Ida, sie möchte uns draußen im Garten, dort, wo der Kanarienvogel liegt, begraben. Dann würden wir im Sommer noch schöner aufblühen!"
"Nein, ihr dürft nicht sterben!", sagte Sophie und küsste darauf die Blumen. In dem Augenblick ging die Saaltüre auf und eine große Menge prachtvoller Blumen tanzte herein. Ida konnte sich gar nicht denken, woher sie gekommen waren; es waren gewiss die Blumen draußen vom Schlosse des Königs. An der Spitze gingen zwei herrliche Rosen, die kleine Goldkronen trugen, das waren König und Königin. Darauf folgten die niedlichsten Levkojen und Nelken, die nach allen Seiten hin grüßten. Sie hatten Musik bei sich, große Mohnblüten und Päonien bliesen auf Erbsenschoten, so dass sie ganz rot im Gesichte waren. Die blauen Glockenblumen und die kleinen weißen Schneeglöckchen klingelten, als ob sie Schellen trügen. Es war eine komische Musik. Dann kamen gar viele andere Blumen und tanzten allesamt, die blauen Veilchen und die roten Tausendschön, die Gänseblümchen und Maiblümchen. Und alle Blumen küssten einander, was sehr niedlich anzusehen war.
Schließlich sagten die Blumen einander "Gute Nacht". Da schlich sich denn auch die kleine Ida in ihr Bett, wo sie von allem, was sie gesehen hatte, träumte.
Als sie am nächsten Morgen aufstand, ging sie sogleich zu dem kleinen Tisch, um zu sehen, ob die Blumen noch dort wären. Sie zog den Vorhang vor dem kleinen Bett zur Seite, ja, da lagen sie sämtlich, aber sie waren ganz welk, weit mehr als gestern. Sophie lag im Schubfach, wohin Ida sie gelegt hatte, und sah sehr schläfrig aus.
"Kannst du dich auf das besinnen, was du mir sagen solltest?", fragte die kleine Ida, allein Sophie machte ein dummes Gesicht und sagte auch nicht ein einziges Wort.
"Du bist gar nicht artig", sagte Ida, "und doch tanzten sie alle mit dir." Dann nahm sie ein Papierschächtelchen, das mit niedlichen Vögeln bemalt war, öffnete es und legte die toten Blumen hinein. "Das soll euer hübscher Sarg sein", sagte sie, "und wenn später Jonas und Adolf kommen, da sollen sie bei dem Begräbnis draußen im Garten mit dabei sein, damit ihr im Sommer wieder wachsen könnt und noch weit schöner werdet!"
Jonas und Adolf waren zwei frische Knaben und Spielgenossen von Ida. Ihr Vater hatte jedem von ihnen eine neue Armbrust geschenkt, die sie bei sich hatten, um sie Ida zu zeigen. Sie erzählte ihnen von den armen Blumen, die gestorben waren, und dann durften sie diese mit begraben. Beide gingen mit Ihrer Armbrust auf den Schultern voran, und die kleine Ida folgte ihnen mit den toten Blumen in der niedlichen Schachtel. Draußen im Garten gruben die Kinder ein kleines Grab, und Ida setzte die Blumen, nachdem sie diese noch einmal geküsst hatte, mit der Schachtel in die Erde. Adolf und Jonas schossen mit der Armbrust über das Grab, denn sie hatten weder Flinten noch Kanonen.

Die glückliche Familie

Das größte grüne Blatt hierzulande ist doch jedenfalls das Klettenblatt; hält man eins vor seinen kleinen Leib, da ist es wie eine Schürze, und legt man es auf seinen Kopf, so ist es bei Regenwetter beinahe ebensogut wie ein Regenschirm, denn es ist ganz außerordentlich groß! Niemals wächst eine Klette allein, wo eine wächst, wachsen auch mehrere; es ist eine wahre Pracht! Und alle diese Pracht ist Schneckenkost. Die großen weißen Schnecken, aus denen vornehme Leute Frikassee bereiten und, wenn sie es gegessen haben, sagen: „Hm! wie das schmeckte!" - denn sie glauben nun einmal, dass es vorzüglich gut schmecke, leben von Klettenblättern. Und darum wurden Kletten gesät.
Nun gab es ein altes Rittergut, wo man keine Schnecken mehr aß. Die waren ganz ausgestorben, aber die Kletten waren nicht ausgestorben. Diese wuchsen und wuchsen in allen Gängen, auf allen Beeten; man konnte ihnen nicht mehr Einhalt tun; es war ein förmlicher Klettenwald. Hier und da stand ein Apfel- oder Pflaumenbaum, sonst hätte man wohl nie und nimmer gedacht, dass dies ein Garten sei. Alles Kletten, und darin wohnten die beiden letzten uralten Schnecken.
Sie wussten selbst nicht, wie alt sie waren; aber sie konnten sich sehr gut erinnern, dass ihrer weit mehr gewesen, dass sie von einer Familie aus fremden Landen abstammten, und dass für sie und die Ihrigen der Wald gepflanzt worden war. Sie waren niemals draußen gewesen, aber sie wussten, dass es noch etwas in der Welt gab, das das herrschaftliche Schloss hieß; und da oben ward man gekocht und auf eine silberne Schüssel gelegt; - was aber nachher dann noch geschah, das wussten sie nicht. Wie das übrigens ist, wenn man gekocht und auf eine silberne Schüssel gelegt wird, konnten sie sich nicht denken; aber schön sollte es sein und besonders vornehm! Weder der Maikäfer, noch die Kröte, noch der Regenwurm, die sie darum befragten, konnten ihnen darüber Bescheid geben; denn keiner ihrer Art war jemals gekocht oder auf eine silberne Schüssel gelegt worden.
Die alten weißen Schnecken waren die vornehmsten in der Welt; das wussten sie! Der Wald war ihretwegen da, und das herrschaftliche Schloss auch, damit sie gekocht und auf eine silberne Schüssel gelegt werden könnten.
Sie lebten nun sehr eingezogen und glücklich, und da sie selbst keine Kinder hatten, so hatten sie eine kleine gemeine Schnecke zu sich genommen, die sie als ihr eigenes Kind erzogen. Allein der Kleine wollte nicht wachsen, denn es war nur eine gemeine Schnecke; aber die Alten, namentlich die Schneckenmutter meinte, sie merke wohl, wie sie zunehme. Und sie bat den Vater, wenn er dies nicht sehen könne, doch nur das kleine Schneckenhaus anfühlen zu wollen; nun betastete er es und fand, dass die Mutter recht hatte.
Eines Tages regnete es sehr stark.
"Hör, wie es auf den Klettenblättern trommelt; rumdumdum, rumdumdum !", sagte der Schneckenvater.
"Das sind Tropfen!", sagte die Schneckenmutter. "Es läuft ja ordentlich am Stängel nieder! Du sollst sehen, es wird hier nass werden. Ich freue mich nur, dass wir unsere guten Häuser haben, und dass der Kleine auch das seinige hat! Es ist doch wirklich mehr für uns geschehen, als für alle anderen Geschöpfe; man sieht es doch recht deutlich, dass wir die Herrschaften in der Welt sind! Wir haben Häuser von unserer Geburt an, und der Klettenwald ist unsertwegen gesät! Ich möchte wissen, wie weit sich der erstreckt und was draußen vor demselben liegt."
„Da ist nichts", sagte der Schneckenvater, "was besser wäre als bei uns: ich habe gar nichts zu wünschen:'
,,Ja!", sagte die Mutter. "Ich möchte wohl nach dem herrschaftlichen Schlosse gebracht, gekocht und auf eine silberne Schüssel gelegt werden; das ist mit allen unsern Vorfahren geschehen, und du kannst glauben, dabei ist etwas Besonderes!"
"Das herrschaftliche Schloss ist vielleicht eingestürzt", sagte der Schneckenvater, "oder der Klettenwald ist darüber hingewachsen, so dass die Menschen nicht herauskommen können. Das hat denn doch auch gar keine Eile. Aber du eilst immer so schrecklich, und der Kleine fängt das nun auch schon an. Kriecht er nicht bereits seit drei Tagen an dem Stängel hinauf! Ich bekomme wirklich Kopfweh, wenn ich zu ihm emporblicke."
"Du musst nicht auf ihn schelten", sagte die Schneckenmutter. "Er kriecht ja ganz besonnen: wir werden gewiss viel Freude an ihm erleben und wir Alten haben ja nichts anderes, wofür wir leben. Aber hast du denn auch schon darüber nachgedacht, wo wir eine Frau für ihn herkriegen? Glaubst du nicht, dass sich dort weiter hinein im Klettenwalde noch solche von unserer Art aufhalten?"
"Schwarze Schnecken werden wohl da sein, denke ich", sagte der Alte, "schwarze Schnecken ohne Haus! Aber das ist zu ordinär, und doch bilden sie sich etwas ein. Doch wir könnten den Ameisen den Auftrag geben; die laufen hin und her, als ob sie Geschäfte hätten; die wissen gewiss eine Frau für unsern Kleinen!"
"Ich wüsste allerdings die Allerschönste", sagte eine der Ameisen, "aber ich fürchte, dass es nicht angeht, denn sie ist Königin!"
"Das schadet nichts!" sagten die Alten. "Hat sie ein Haus?" "Sie hat ein Schloss!", antwortete die Ameise, "das schönste Ameisenschloss mit siebenhundert Gängen!"
"Schönen Dank!" sagte die Schneckenmutter. "Unser Sohn soll nicht in einen Ameisenhügel. Wisst ihr nichts Besseres, so geben wir den weißen Mücken den Auftrag; die fliegen weit herum in Regen und Sonnenschein; die kennen den Klettenwaid von innen und außen."
"Wir haben eine Frau für ihn!", sagten die Mücken. "Hundert Menschenschritte von hier sitzt auf einem Stachelbeerbusche eine kleine Schnecke mit Haus; die ist ganz allein und alt genug, sich zu verheiraten. Es ist nur hundert Menschenschritte von hier!"
,,Ja, lass sie zu ihm kommen!", sagten die Alten. "Er hat einen Klettenwald, sie hat nur einen Busch."
Und nun holten sie das kleine Schneckenfräulein. Es dauerte acht Tage, bis es kam; aber das war ja eben das Richtige dabei, denn daran sah man, dass es von der rechten Art war.
Sie hielten dann Hochzeit. Sechs Johanniswürmchen leuchteten, so gut sie es vermochten; sonst ging es ganz still zu, denn die alten Schneckenleute konnten Schwärmen und Lustbarkeiten nicht vertragen. Aber eine herrliche Rede wurde gehalten von der Schneckenmutter. Der Vater konnte nicht reden: er war zu sehr gerührt. Dann gaben sie ihnen als Erbschaft den ganzen Klettenwald und sagten, was sie stets gesagt hatten: dass er das Beste in der Welt sei, und dass sie, wenn sie rechtschaffen und ehrbar lebten und sich vermehrten, dereinst nebst ihren Kindern nach dem herrschaftlichen Schlosse kämen, gekocht und auf eine silberne Schüssel gelegt würden. Und nachdem die Rede gehalten war, krochen die Alten in ihr Haus hinein und kamen nie wieder heraus; sie schliefen. Das junge Schneckenpaar regierte nun im Walde und bekam eine starke Nachkommenschaft. Da es aber niemals gekocht ward und auf die silberne Schüssel kam, so schloss es daraus, dass das herrschaftliche Schloss eingestürzt und dass alle Menschen in der Welt ausgestorben seien. Und da niemand ihnen widersprach, so musste es ja wahr sein. Der Regen fiel auf die Klettenblätter nieder, um ihretwegen Trommelmusik zu machen, die Sonne schien, um den Klettenwaid ihretwegen zu färben; und sie waren sehr glücklich, und die ganze Familie war glücklich, ganz unendlich glücklich.

Oie Luk-Oie

Es gibt niemand in der Welt, der so viele Geschichten weiß als Oie Luk-Oie. - Der kann gehörig erzählen! - So gegen Abend hin, wenn die Kinder noch nett am Tische oder auf ihrem Schemel sitzen, kommt Oie Luk-Oie. Er kommt leise die Treppe herauf, denn er geht auf Socken; er macht leise die Tür auf und - husch! da spritzt er den Kindern süße Milch in die Augen hinein, und das so fein, so fein, aber doch immer genug, dass sie die Augen nicht aufhalten und ihn deshalb auch nicht sehen können. Er schleicht sich hinter sie, bläst ihnen sanft in den Nacken, und davon wird ihnen schwer in dem Kopfe. 0 ja, aber es tut nicht weh, denn Oie Luk-Oie meint es gut mit den Kindern; er will nur, dass sie ruhig sein sollen, und das sind sie am ersten, wenn man sie zu Bette gebracht hat; sie sollen still sein, damit er ihnen Geschichten erzählen kann. -
Wenn die Kinder dann schlafen, setzt sich Oie Luk-Oie auf ihr Bett. Er ist gut gekleidet; sein Rock ist von Seide, aber es ist unmöglich, zu sagen, von welcher Farbe, denn er glänzt grün, rot und blau, je nachdem er sich wendet. Unter jedem Arme hält er einen Regenschirm; den einen mit Bildern darauf, spannt er über die guten Kinder aus, und dann träumen sie die ganze Nacht die herrlichsten Geschichten; aber den anderen Schirm, auf dem durchaus nichts ist, stellt er über die unartigen Kinder, dann schlafen sie wie dumm und haben am Morgen, wenn sie erwachen, nicht das Geringste geträumt.
Nun werden wir hören, wie Oie Luk-Oie an jedem Abend in einer Woche zu einem kleinen Knaben kam, der Hjalmar hieß, und was er ihm erzählte. Es sind sieben Geschichten; denn es sind sieben Tage in der Woche.

Montag.
"Höre mal", sagte Oie Luk-Oie am Abend, als er Hjalmar zu Bette gebracht hatte, "nun werde ich aufputzen." Und da wurden alle Blumen in den Blumentöpfen zu großen Bäumen, welche ihre langen Zweige unter der Zimmerdecke und längs den Wänden ausstreckten, so dass die Stube wie ein prächtiges Lusthaus aussah; und alle Zweige waren voll Blumen, und jede Blume war schöner als eine Rose, duftete lieblich, und wollte man sie essen, so war sie noch süßer als Eingemachtes! Die Früchte glänzten wie Gold, und Kuchen war da, der vor lauter Rosinen platzte. Er war unvergleichlich schön! Aber zu gleicher Zeit ertönte ein schreckliches Jammern aus dem Tischkasten her, wo Hjalmars Schulbücher lagen.
"Was ist nur das?", sagte Oie Luk-Oie und ging nach dem Tische und zog den Kasten auf. Es war die Schiefertafel, auf der es riss und wühlte, denn es war eine falsche Zahl in das Rechenexempel gekommen, so dass es nahe dran war, auseinanderzufallen; der Griffel hüpfte und sprang an seinem Bande, als ob er ein kleiner Hund wäre, der dem Rechenexempel helfen möchte; aber er konnte es nicht. - Und dann jammerte es auch in Hjalmars Schreibebuch; oh, es war hässlich anzuhören! Auf jedem Blatte standen der Länge nach herunter die großen Buchstaben, einem jeden ein kleiner zur Seite: das war eine Vorschrift; und neben diesen standen wieder einige Buchstaben, welche ebenso auszusehen glaubten, und diese hatte Hjalmar geschrieben; sie lagen aber fast so, als ob sie über die Bleistiftlinien gefallen wären, auf denen sie stehen sollten.
"Seht, so sollt ihr euch halten!", sagte die Vorschrift. "Seht, so schräg geneigt, mit einem kräftigen Schwunge!"
"Oh, wir möchten gern", sagten Hjalmars Buchstaben, "aber wir können nicht; wir sind zu schwächlich!"
"Dann müsst ihr einnehmen", sagte Oie Luk-Oie.
,,0 nein!", riefen sie, und da standen sie so schlank, dass es eine Lust war.
"Ja, nun können wir keine Geschichten erzählen". sagte Oie Luk-Oie, "nun muss ich sie exerzieren! Eins, zwei! Eins, zwei!" und so exerzierte er die Buchstaben; und sie standen ganz schlank und so schön, wie nur eine Vorschrift stehen kann. Aber als Oie Luk-Oie ging und Hjalmar sie am Morgen besah, da waren sie ebenso schwächlich und jämmerlich wie früher.

Dienstag.
Sobald Hjalmar zu Bette gegangen war, berührte Oie LukOie mit seiner kleinen Zauberspritze alle Möbel in der Stube und zugleich fingen sie an zu plaudern, und sprachen allesamt von sich selbst, mit Ausnahme des Spucknapfes, welcher stumm dastand und sich darüber ärgerte, dass sie so eitel sein könnten, nur von sich selbst zu sprechen, nur an sich selbst zu denken und durchaus keine Rücksicht auf den zu nehmen, der bescheiden in der Ecke stand und sich bespucken ließ.
Ober der Kommode hing ein großes Gemälde in einem vergoldeten Rahmen, das war eine Landschaft; man sah darauf große alte Bäume, Blumen im Grase und einen breiten Fluss, der um den Wald herum floss, an vielen Schlössern vorbei und weit hinaus in das wilde Meer.
Oie Luk-Oie berührte mit seiner Zauberspritze das Gemälde, und da begannen die Vögel darauf zu singen, die Baumzweige bewegten sich und die Wolken zogen weiters man konnte ihren Schatten über die Landschaft hingleiten sehen.

Nun hob Oie Luk-Oie den kleinen Hjalmar zu dem Rahmen empor und stellte seine Füße in das Gemälde, gerade in dos hohe Gras; da stand er. Die Sonne beschien ihn durch die Zweige der Bäume. Er lief hin zum Wasser und setzte sich in ein kleines Boot, das dort lag; es war rot und weiß angestrichen, die Segel glänzten wie Silber und sechs Schwäne, mit Goldketten um den Hals und einem strahlenden blauen Stern auf dem Kopfe, zogen das Boot an dem grünen Walde vorüber, wo die Bäume von Räubern und Hexen, und die Blumen von den niedlichen kleinen Elfen und von dem, was die Schmetterlinge ihnen gesagt haben, erzählen.
Die herrlichsten Fische, mit Schuppen wie Silber und Gold, schwammen dem Boote nach; mitunter machten sie einen Sprung, dass es im Wasser plätscherte, und Vögel, rot und blau, klein und groß, flogen in zwei langen Reihen hinterher; die Mücken tanzten und die Maikäfer sagten: "Bum! Bum!" Sie wollten Hjalmar alle folgen, und jeder hatte eine Geschichte zu erzählen.
Das war eine Lustfahrt! Bald waren die Wälder dicht und dunkel, bald waren sie wie der herrlichste Garten voll Sonne und Blumen; da lagen große Schlösser von Glas und von Marmor: auf den Altanen standen Prinzessinnen, und diese waren alle kleine Mädchen, die Hjalmar gut kannte; er hatte früher mit ihnen gespielt. Jede streckte die Hände aus und hielt das niedlichste Zuckerherz hin, welches je eine Kuchenfrau verkaufen konnte; und Hjalmar fasste die eine Seite des Zuckerherzens an, indem er vorüber fuhr, und die Prinzessin hielt recht fest, und so bekam jeder ein Stück: sie das kleinste, Hjalmar das größte. Bei jedem Schlosse standen kleine Prinzen Schildwache, sie schulterten Goldsäbel und ließen Rosinen und Zinnsoldaten regnen; man sah es ihnen an, dass es echte Prinzen waren.
Bald segelte Hjalmar durch Wälder, bald durch große Säle oder mitten durch eine Stadt, er kam auch durch die, in der sein Kindermädchen wohnte, das ihn getragen hatte, als er noch ein kleiner Knabe war, und das ihm immer so gut gewesen; es nickte und winkte und sang den niedlichen kleinen Vers, den es selbst gedichtet und Hjalmar gesendet hatte:
"Ich denke deiner so manches Mal,
mein teurer Hjalmar, du Lieber
Ich gab dir Küsse ohne Zahl
auf Stirne, Mund und Augenlider.
Ich hörte dich lallen das erste Wort,
doch musst Lebewohl ich dir sagen;
es segne der Herr dich an jedem Ort,
du Engel, den ich getragen."
Und alle Vögel tanzten mit, die Blumen tanzten auf den Stielen und die alten Bäume nickten, als ob Oie Luk-Oie ihnen auch Geschichten erzähle.

Mittwoch.
Nein, wie strömte der Regen draußen hernieder! Hjalmar konnte es im Schlafe hören; und als Oie Luk-Oie ein Fenster öffnete, stand das Wasser herauf bis an das Fensterbrett; es war ein ganzer See da draußen, aber das prächtigste Schiff lag dicht am Hause.
„Willst du mitsegeln, kleiner Hjalmar", sagte Oie Luk-Oie, "so kannst du diese Nacht nach fremden Ländern gelangen und morgen wieder hier sein."
Da stand Hjalmar plötzlich in seinen Sonntagskleidern mitten auf dem prächtigen Schiffe; sogleich wurde das Wetter schön, und sie segelten durch die Straßen, fuhren um die Kirche, und nun war alles eine große wilde See. Sie segelten so lange, bis kein Land mehr zu erblicken war, und sie sahen einen Flug Störche, die kamen auch aus der Heimat und wollten nach den warmen Ländern; ein Storch flog immer hinter dem andern, und sie waren schon so weit, so weit geflogen! Einer von ihnen war so ermüdet, dass seine Flügel ihn kaum noch zu tragen vermochten; es war der letzte in der Reihe, und bald blieb er ein großes Stück zurück; zuletzt sank er mit ausgebreiteten Flügeln tiefer und tiefer; er machte noch wenige Schläge mit den Schwingen, aber es half nichts; nun berührte er mit seinen Füßen das Tauwerk des Schiffe, dann glitt er vom Segel herab, und bums! da stand er auf dem Verdeck.
Jetzt nahm ihn der Schiffsjunge und setzte ihn in das Hühnerhaus zu den Hühnern, Enten und Truthähnen; der arme Storch stand befangen mitten unter ihnen.
"Sieh den Kerl an!", sagten alle Hühner.
Und der Truthahn blies sich so dick auf, wie er konnte, und fragte, wer er wäre; die Enten gingen rückwärts und pufften einander: "Rappel dich! Rappel dich!" Und der Storch erzählte vom warmen Afrika, von den Pyramiden und vom Strauße, der, einem wilden Pferde gleich, die Wüste durchlaufe; aber die Enten verstanden nicht, was er sagte, und dann pufften sie einander: "Wir sind doch wohl alle derselben Meinung, nämlich dass er dumm ist!"
"Ja, sicher ist er dumm", sagte der Truthahn, und dann kollerte er. Da schwieg der Storch und dachte an sein Afrika.
"Das sind herrlich dünne Beine, die Ihr da habt!", sagte der Truthahn. "Was kostet die Elle davon?" - "Skrat, skrat, shot!", grinsten alle Enten; aber der Storch tat, als ob er es gar nicht höre.
"Ihr könnt immer mitlachen", sagte der Truthahn zu ihm, denn es war sehr witzig gesagt! "Oder war es Euch vielleicht zu hoch? Ach, ach, er ist nicht vielseitig! Wir wollen interessant unter uns selbst bleiben!" Und dann gluckte er, und die Enten schnatterten: "Gik, gak, gik, gak!" Es war schrecklich, wie sie sich selbst belustigten.
Aber Hjalmar ging nach dem Hühnerhause, öffnete die Türe, rief den Storch, und er hüpfte zu ihm heraus auf das Verdeck. Nun hatte er ja ausgeruht, und es war, als ob er Hjalmar zunickte, ihm zu danken. Darauf entfaltete er seine Schwingen und flog nach den warmen Ländern; aber die Hühner gluckten, die Enten schnatterten und der Truthahn wurde ganz feuerrot am Kopfe.
"Morgen werden wir Suppe von euch kochen!", sagte Hjalmar, und damit erwachte er und lag in seinem Bette. Es war doch eine sonderbare Reise, die Oie Luk-Oie ihn diese Nacht hatte machen lassen.

Donnerstag.
"Weißt du was", sagte OIe Luk-Oie, "werde nur nicht furchtsam! Hier wirst du eine kleine Maus sehen!" Und dann hielt er ihm seine Hand her mit dem leichten, niedlichen Tiere. "Sie ist gekommen, um dich zur Hochzeit einzuladen. Hier sind in dieser Nacht zwei kleine Mäuse, die in den Stand der Ehe treten wollen. Sie wohnen unter deiner Mutter Speisekammerfußboden; das soll eine schöne Wohnung sein!"
"Aber wie kann ich durch das kleine Mauseloch im Fußboden hindurch kommen?", fragte Hjalmar.
„Da lass mich nur sorgen! sagte Oie Luk-Oie. "Ich werde dich schon klein machen!" Und nun berührte er Hjalmar mit seinem Zauberstab, worauf dieser sogleich kleiner und kleiner wurde; zuletzt war er keinen Finger lang. "Nun kannst du dir die Kleider des Zinnsoldaten leihen; ich denke, sie werden dir passen, und es sieht gut aus, Uniform anzuhaben, wenn man in Gesellschaft ist!"
"Ja freilich!", sagte Hjalmar und war im Augenblick wie der niedlichste Zinnsoldat angekleidet.
"Wollen Sie nicht so gut sein, sich in Ihrer Mutter Fingerhut zu setzen", sagte die kleine Maus, "dann werde ich die Ehre hoben, Sie zu ziehen."
"Gott, wollen sich das Fräulein selbst bemühen", sagte Hjalmar; und so fuhren sie zur Mausehochzeit.
Zuerst kamen sie unter dem Fußboden in einen langen Gang, der aber nicht höher war, als dass sie gerade mit dem Fingerhut dort fahren konnten, und der ganze Gang war mit faulem Holze illuminiert.
"Riecht es hier nicht herrlich?", fragte die Maus, die ihn zog.
"Der Gang ist mit Speckschwarten geschmiert! Es kann nichts Schöneres geben!"
Nun kamen sie in den Brautsaal hinein. Hier standen zur Rechten alle kleinen Mäusedamen; die wisperten und pisperten, als ob sie einander zum besten hätten. Zur Linken standen alle Mäuseherren und strichen sich mit der Pfote den Schnauzbart; mitten in dem Saale aber sah man das Brautpaar; dies stand in einer ausgehöhlten Käserinde und küsste sich gar schrecklich viel vor aller Augen, denn es war Verlobung und es sollte dann auch gleich Hochzeit sein.
Es kamen immer mehr und mehr Fremde; die eine Maus war nahe daran, die andere totzutreten, und das Brautpaar hatte sich mitten in die Türe gestellt, so dass man weder hinaus noch hereingelangen konnte. Die Stube war ebenso wie der Gang mit Speckschwarten eingeschmiert, das war die ganze Bewirtung; aber zum Dessert wurde eine Erbse vorgezeigt, in die eine Maus aus der Familie den Namen des Brautpaares eingebissen hatte, das heißt, den ersten Buchstaben. Das war etwas ganz Außerordentliches!
Alle Mäuse sagten, dass es eine schöne Hochzeit, und dass die Unterhaltung sehr angenehm gewesen wäre.
Dann fuhr Hjalmar wieder nach Hause; er war wahrlich in vornehmer Gesellschaft gewesen, aber er hatte auch sehr zusammen kriechen, sich klein machen und Zinnsoldatenuniform anziehen müssen.

Freitag.
"Es ist unglaublich, wie viele ältere Leute es gibt, die mich gar zu gern haben möchten!", sagte Oie Luk-Oie. "Es sind besonders die, welche etwas Böses verübt haben! ‚Guter kleiner Oie', sagen sie zu mir, ,wir können die Augen nicht schließen, und so liegen wir die ganze Nacht und sehen alle unsere bösen Taten, die wie hässliche Kobolde auf der Bettstelle sitzen und uns mit heißem Wasser bespritzen; möchtest du doch kommen und sie fortjagen, damit wir einen guten Schlaf bekommen', dann seufzen sie so tief, ,wir möchten es wahrlich gern bezahlen, gute Nacht, Oie! Das Geld liegt im Fenster!' Aber ich tue es nicht für Geld!" sagte Oie Luk-Oie.
"Was wollen wir nun diese Nacht vornehmen?", fragte Hjalmar.
"Ja, ich weiß nicht, ob du diese Nacht wieder Lust hast, zur Hochzeit zu gehen; es ist eine andere Art, als die gestrige war. Deiner Schwester große Puppe, diejenige, die wie ein Mann aussieht und Hermann genannt wird, will sich mit der Puppe Berta verheiraten. Es ist obendrein der Puppe Geburtstag, und deshalb werden sie sehr viele Geschenke bekommen!"
"Ja, das kenne ich schon", sagte Hjalmar. "Immer, wenn die Puppen neue Kleider benötigen, lässt meine Schwester sie ihren Geburtstag feiern oder Hochzeit halten; das ist sicher schon hundertmal geschehen."
,,Ja, aber in dieser Nacht ist es die hundertunderste Hochzeit, und wenn hundertundeins aus ist, dann ist alles vorbei! Deshalb wird diese auch so beispiellos schön. Sieh nur einmal!"
Und Hjalmar sah nach dem Tische. Da stand das kleine Papphaus mit Licht in den Fenstern, und davor präsentierten olle Zinnsoldaten das Gewehr. Das Brautpaar saß ganz gedankenvoll, wozu es wohl Ursache hatte, auf dem Fußboden und lehnte sich gegen das Tischbein. Aber Oie Luk-Oie, in der Großmutter schwarzen Rock gekleidet, traute sie. Als die Trauung vorbei war, stimmten alle Möbel in der Stube folgenden schönen Gesang an, der von dem Bleistift geschrieben war; er ging nach der Melodie des Zapfenstreiches:
"Das Lied ertöne wie der Wind;
dem Brautpaar hoch das sich verbind't:
sie prangen beide steif und blind,
da sie von Handschuhleder sind!
Hurra, hurra! ob taub und blind,
wir singen es in Wetter und Wind!"
Und nun bekamen sie Geschenke, aber sie hatten sich alle Esswaren verbeten, denn sie hatten an ihrer Liebe genug.
"Wollen wir nun eine Sommerwohnung beziehen oder auf Reisen gehen?", fragte der Bräutigam. Und da wurde die Schwalbe, die viel gereist war, und die alte Hofhenne, die fünfmal Küchlein ausgebrütet hatte, zu Rate gezogen. Und die Schwalbe erzählte von den herrlichen warmen Ländern, wo die Weintrauben so groß und schwer hingen, wo die Luft so mild sei und die Berge Farben hätten, wie man sie hier gar nicht an ihnen kenne!
"Unsern Braunkohl haben sie aber doch nicht!", sagte die Henne. "Ich war einen Sommer lang mit allen meinen Küchlein auf dem Lande; da war eine Sandgrube, in der wir umhergehen und kratzen konnten; und dann hatten wir auch Zutritt zu einem Garten mit Braunkohl! Oh, war der herrlich. Ich kann mir nichts Schöneres denken."
"Aber der eine Kohlstrunk sieht ebenso aus wie der andere", sagte die Schwalbe, "und dann ist hier ja sehr oft schlechtes Wetter."
"Ja, daran ist man gewöhnt!", sagte die Henne. "Aber hier ist es so kalt und es friert!"
"Das ist gut für den Kohl!", sagte die Henne. "Übrigens können wir es auch warm haben! Hatten wir nicht vor vier Jahren einen Sommer, der fünf Wochen lang währte? Es war so heiß, man konnte nicht einmal atmen! Und dann haben wir nicht alle die giftigen Tiere, die sie dort haben! Und wir sind von Räubern frei: der ist ein Bösewicht, der nicht findet, dass unser Land das schönste ist, er verdient wahrlich nicht, hier zu sein!" Und dann weinte die Henne und fuhr fort: "Ich bin auch gereist! Ich bin in einer Bütte über zwölf Meilen gefahren! Es ist durchaus kein Vergnügen beim Reisen!"
"Ja, die Henne ist eine vernünftige Frau", sagte die Puppe Berta. "Ich halte auch nichts davon, Berge zu bereisen, denn das geht nur hinauf und dann wieder hinunter. Nein, wir wollen hinaus vors Tor in die Sandgrube ziehen und im Kohlgarten umherspazieren!"
Und dabei blieb es.

Sonnabend.
"Bekomme ich nun Geschichten zu hören?", fragte der kleine Hjalmar, sobald Oie Luk-Oie ihn in den Schlaf gebracht hatte.
"Heute Abend haben wir nicht Zeit dazu", sagte Oie LukOie und spannte seinen schönen Regenschirm über ihm auf. "Betrachte nun diese Chinesen!" Und der Regenschirm sah aus wie eine große chinesische Schale mit blauen Bäumen und spitzen Brücken und mit kleinen Chinesen darauf, die dastanden und mit dem Kopfe nickten. "Wir müssen die ganze Welt zu morgen schön aufgeputzt haben", sagte Oie Luk-Oie, "es ist da dann ein Feiertag, es ist Sonntag. Ich will nach den Kirchentürmen hin, um zu sehen, ob die kleinen Kirchenkobolde die Glocken polieren, damit sie hübsch klingen! Ich will hinaus auf das Feld und sehen, ob die Winde den Staub von Gras und Blättern blasen; und was die größte Arbeit ist, ich will alle Sterne herunterholen, um sie zu polieren. Ich nehme sie in meine Schürze; aber erst muss ein jeder nummeriert werden, und die Löcher, worin sie da oben sitzen, müssen auch nummeriert werden, damit sie wieder auf den rechten Fleck kommen, sonst würden sie nicht festsitzen, und wir bekämen zu viele Sternschnuppen, indem der eine nach dem andern herunterpurzeln würde!"
"Hören Sie, wissen Sie was, Herr Oie Luk Oie?", sagte ein altes Porträt, das an der Wand hing, wo Hjalmar schlief, "ich bin Hjalmars Urgroßvater, ich danke Ihnen, dass Sie dem Knaben Geschichten erzählen, aber Sie müssen seine Begriffe nicht verwirren. Die Sterne können nicht heruntergenommen werden! Die Sterne sind Weltkugeln ebenso wie unsere Erde, und grade das ist das Gute an ihnen!"
"Ich danke dir, du alter Großvater!", sagte Oie Luk-Oie, "ich danke dir! Du bist ja das Haupt der Familie; du bist das Urhaupt; aber ich bin doch älter als du! Ich bin ein alter Heide; Römer und Griechen nannten mich den Traumgott! Ich bin in die vornehmsten Häuser gekommen und komme noch dahin! Ich weiß sowohl mit Geringen wie mit Großen umzugehen! Nun kannst du erzählen." - Und dann ging Oie Luk-Oie und nahm seinen Regenschirm mit.
"Nun, nun! Man darf wohl gar seine Meinung nicht mehr sagen!", brummte das alte Porträt.
Und da erwachte Hjalmar.

Sonntag.
"Guten Abend!", sagte Oie Luk-Oie, und Hjalmar nickte und sprang dann hin und kehrte das Porträt des Urgroßvaters gegen die Wand um, damit es nicht wie gestern hineinsprechen möchte.
"Nun musst du mir Geschichten erzählen: von den fünf grünen Erbsen, die in einer Schote wohnten, und von dem Hahnenfuße, der dem Hühnerfuße den Hof machte, und von der Stopfnadel, die so vornehm tat, dass sie sich einbildete, eine Nähnadel zu sein!"
"Man kann auch des Guten zuviel bekommen!", sagte Ole Luk Oie. "Du weißt doch wohl, dass ich dir am liebsten etwas zeige! Ich will dir meinen Bruder zeigen. Er heißt auch Oie Luk-Oie, aber er kommt zu niemand öfter als einmal, und zu wem er kommt, den nimmt er mit auf seinem Pferde und erzählt ihm Geschichten. Er kennt nur zwei; die eine ist so außerordentlich schön, dass sie niemand in der Welt sich denken kann, und die andere ist so hässlich und gräulich, - es ist gar nicht zu beschreiben!" Dann hob Ole Luk Oie den kleinen Hjalmar zum Fenster hinauf und sagte: "Da wirst du meinen Bruder sehen, den andern Oie Luk-Oie! Sie nennen ihn den Tod! Siehst du, er sieht nicht so schlimm aus wie in den Bilderbüchern, wo er ein Knochengerippe ist! Nein, das ist Silberstickerei, die er auf dem Kleide hat, das ist die schönste Husarenuniform; ein Mantel von schwarzem Samt fliegt hinten über das Pferd! Sieh, wie er in Galopp reitet."
Und Hjalmar sah, wie dieser Oie Luk-Oie davon ritt und sowohl junge wie alte Leute auf sein Pferd nahm. Einige setzte er vorn, andere hinten auf, aber immer fragte er erst: "Wie steht es mit dem Zensurbuche?" - "Gut!", sagten sie allesamt. "Ja, lasst es mich selbst sehen!", sagte er; und dann musste ihm jeder das Buch zeigen, und alle die, welche "Sehr gut" und "Ausgezeichnet" hatten, kamen vorn auf das Pferd und bekamen die herrliche Geschichte, die aber, die "Ziemlich gut" und "Mittelmäßig" hatten, mussten hinten auf und bekamen die gräuliche Geschichte zu hören; sie zitterten und weinten, sie wollten vom Pferde springen, konnten es aber nicht, denn sie waren sogleich darauf festgewachsen.
"Aber der Tod ist ja der prächtigste Oie Luk-Oie!", sagte Hjalmar. "Vor ihm bin ich nicht bange!"
"Das sollst du auch nicht sein!", sagte Oie Luk-Oie, "sieh nur zu, dass du ein gutes Zensurbuch hast!"
"Ja, das ist lehrreich!", murmelte des Urgroßvaters Porträt.
"Es hilft doch, wenn man seine Meinung sagt!" Und nun gab er sich zufrieden.
Sieh, das ist die Geschichte von Oie Luk Oie; nun mag er dir selbst heute Abend mehr erzählen!

Däumelieschen

Hilfesuchend kam einmal eine Frau zu einer Hexe und fragte, ob sie ihr nicht ein kleines Mädchen verschaffen konnte.
,,0 ja, das soll nicht schwer halten!" sagte die Hexe. "Da hast du ein Gerstenkorn; das ist nicht etwa von der Art, wie es auf einem Bauernfeld wächst oder womit die Hühner gefüttert werden. Lege es in einen Blumentopf, dann wirst du etwas zu sehen bekommen!"
"Besten Dank!" sagte die Frau und gab der Hexe ein Geldstück, ging heim, pflanzte das Gerstenkorn, und sogleich wuchs eine große, herrliche Blume hervor, die vollkommen einer Tulpe glich, aber die Blätter schlossen sich fest zusammen, als ob sie noch in der Knospe wären.
"Das ist eine schöne Blume!" sagte die Frau und küsste sie auf die herrlichen roten und gelben Blätter, da gab es einen Knall und die Blume öffnete sich. Es war, wie man nun sehen konnte, eine wirkliche Tulpe; aber mitten in der Blüte, auf grünem Blumengriffel, saß ein winzig kleines, blondlockiges Mädchen, fein und lieblich. Sie war nicht größer als ein Daumen, und deswegen wurde sie Däumelieschen genannt.
Eine prächtig lackierte Walnussschale erhielt sie zur Wiege, blaue Veilchenblätter waren ihre Matratze und ein Rosenblatt ihr Deckbett. Darin schlief sie des Nachts, aber am Tage spielte sie auf dem Tische. Die Frau hatte einen Teller darauf gestellt, um den sie einen ganzen Kranz Blumen gelegt hatte, deren Stängel in das Wasser reichten. Hier schwamm ein großes Tulpenblatt und auf diesem durfte Däumelieschen sitzen und von der einen Seite des Tellers bis zur anderen schwimmen. Zum Rudern hatte sie zwei weiße Pferdehaare. Das sah niedlich aus. Sie konnte auch singen, so fein, wie man nie zuvor gehört hatte.
Eines Nachts, als sie in ihrem hübschen Bettchen lag, kam durch das offenstehende Fenster eine hässliche Kröte hereingehüpft. Sie setzte sich auf den Tisch, wo Däumelieschen unter dem roten Rosenblatt schlief.
„Das wäre eine schöne Frau für meinen Sohn!“, sagte die Kröte, ergriff die Walnussschale, in der Däumlieschen schlief, und hüpfte mit ihr durch das Fenster in den Garten hinunter.
Da floss ein großer, breiter Bach. Dicht am Ufer war es sumpfig und morastig; hier wohnte die Kröte mit ihrem Sohn. Hu, der war ebenso garstig und hässlich, das ganze Ebenbild seiner Mutter.
„Koax, koax, breckekekex“, war alles, was er sagen konnte, als er das hübsche, kleine Mädchen sah.
„Schwarz’ nicht so laut, sonst wacht sie auf!“, sagte die alte Kröte, sie könnte uns sonst noch entlaufen, denn sie ist so leicht wie ein Eiderflaum! Wir wollen sie in den Bach hinaus auf eines der breiten Wasserlilienblätter setzen, das ist für sie, die so leicht und klein ist, wie eine Insel. Da kann sie nicht entlaufen, während wir den Festsaal unten tief unter dem Sumpfe, wo ihr wohnen und leben sollt, instand setzen."
Die alte Kröte schwamm nun nach einem der großen, grünen Blätter, die inmitten des Baches auf dem Wasser lagen, und setzte die Nussschale mit Däume1ieschen vorsichtig darauf nieder.
Das arme kleine Mädchen erwachte beim ersten Morgengrauen, und da es wahrnahm, wo es war, fing es gar bitterlich zu weinen an.
Die alte Kröte saß unten im Sumpf und schmückte ihr Zimmer mit Schilf und gelben Wasserlilien, denn für die neue Schwiegertochter sollte alles auf das feinste hergerichtet werden. Darauf schwamm sie mit dem garstigen Sohne zu dem Blatte hinaus, wo Däumelieschen stand. Die alte Kröte verneigte sich vor ihr bis tief ins Wasser hinein und sagte: "Hier stell' ich dir meinen Sohn vor, der dein Mann werden soll. Ihr werdet unten im Sumpfe ganz prächtig wohnen. "
"Koax, koax, breckekekex!" sagte der Sohn hierzu. Darauf schwamm die alte Kröte mit ihm fort und nahm Däumelieschens Bettchen gleich mit.
Da saß nun das arme kleine Mädchen und weinte heiße Tränen, denn es wollte weder bei der hässlichen Kröte wohnen, noch ihren hässlichen Sohn zum Manne haben. Die kleinen Fische, die unten im Wasser schwammen, hatten die Kröte recht wohl gesehen und gehört, was sie sagte. Sie wollten Däumelieschen gern vor der Kröte und ihrem hässlichen Sohne retten und nagten den Stiel des Blattes ab. Nun schwamm das Blatt mit Däumelieschen hinab, weit, weit fort, wohin die Kröte nicht gelangen konnte.
Däumelieschen segelte an gar vielen Städten vorüber, und die kleinen Vögel, die in den Büschen saßen, sahen sie und sangen: "Welch niedliches kleines Mädchen!" Weiter und immer weiter schwamm das Blatt mit ihr. So reiste denn Däumelieschen ins Ausland.
Ein allerliebster kleiner Schmetterling wurde nicht müde, sie zu umflattern. Er schwebte endlich auf das Blatt hernieder, denn er konnte Däumelieschen gar wohl leiden. Diese war hoch erfreut, denn es war
köstlich, so zu segeln. Sie nahm ihren Gürtel, schlang das eine Ende um den Schmetterling und befestigte das andere am Blatte.
Plötzlich kam ein großer Maikäfer angeflogen, der sie bemerkt hatte, schlug seine Klauen um ihren schlanken Leib und flog mit ihr auf einen Baum. Aber das grüne Blatt schwamm den Bach hinab, und der Schmetterling flog mit, denn er war an das Blatt gebunden und konnte sich daher nicht befreien.
Gott, wie sehr erschrak das arme Däumelieschen, als der Maikäfer mit ihr auf den Baum hinauf flog! Am meisten betrübte sie jedoch der Gedanke an den schönen, weißen Schmetterling, den sie an das Blatt gebunden hatte. Konnte er nicht loskommen, musste er ja rettungslos verhungern.
Der Maikäfer setzte sich mit Däumelieschen auf das größte Blatt des Baumes, fütterte sie mit Blütenhonig und sagte ihr, sie wäre sehr schön, obgleich sie einem Maikäfer in keinem Stück ähnlich sähe. Später kamen noch viele Maikäfer zu Besuch. Sie beguckten Däumelieschen von allen Seiten, und die Maikäferfräulein rümpften die Fühlhörner und sagten:
"Sie hat ja nur zwei Füße, das sieht doch zu jämmerlich aus!"
"Wie hässlich sie ist!" sagten auch die alten Maikäferfrauen, trotzdem Däumelieschen so schön war. So kam sie auch dem Maikäfer vor, der sie entführt hatte. Da aber alle anderen darin übereinstimmten, sie wäre hässlich, so glaubte er es zuletzt ebenfalls und wollte sie nun gar nicht haben. Sie konnte gehen, wohin sie wollte. Sie flogen mit ihr vom Baume hinunter und setzten sie auf ein Gänseblümchen. Da weinte sie, weil sie so hässlich wäre, dass nicht einmal die Maikäfer sie dulden wollten .
Während des ganzen Sommers lebte Däumelieschen ganz allein in dem großen Walde. Sie flocht sich ein Bett aus Grashalmen und hing es unter einem großen Kleeblatt auf, so dass sie gegen Regen geschützt war. Blütenhonig war ihre Speise und ihren Durst stillte sie an dem Tau, der morgens auf den Blättern stand. So verstrich Sommer und Herbst, aber nun kam der Winter, der kalte, lange Winter. Alle Vögel, die ihr so schön gesungen hatten, flogen davon. Die Bäume und Blumen welkten dahin, das große Kleeblatt, unter dem sie gewohnt hatte, schrumpfte zusammen, und es blieb nur noch ein gelber, vertrockneter Stängel. Sie fror bitterlich, ihre Kleider waren zerrissen, und das arme Däumelieschen musste wohl erfrieren.
Es begann zu schneien, und jede Schneeflocke, die auf sie fiel, tat dieselbe Wirkung, als wenn man auf uns eine Schaufel Schnee wirft.
Hart am Saume des Waldes, wohin sie gelangt war, lag ein großes Kornfeld. Allein das Korn war längst eingeerntet, und nur die nackten, trockenen Stoppeln ragten aus der gefrorenen Erde hervor. Ihr kamen sie wie ein großer Wald vor, den sie zu durchwandern hatte. Sie zitterte vor Kälte. Da kam sie vor die Türe der Feldmaushöhle. Deren ganzes Reich bestand in einem kleinen Raum unter den Kornstoppeln. Dort wohnte sie geschützt und behaglich, hatte die ganze Stube voll Korn und eine prächtige Küche und Speisekammer. Das arme Däumelieschen stellte sich an die Türe, gerade wie jedes andere Bettelmädchen, und bat um ein kleines Stückchen Gerstenkorn, denn sie hatte seit zwei Tagen nicht das Geringste zu essen bekommen.
"Du arme Kleine!" sagte die Feldmaus, denn es war eine gute, alte Feldmaus, "komme in meine warme Stube herein und iss mit mir!"
Da sie nun Gefallen an Däumelieschen fand, sagte sie: "Du kannst getrost den Winter über bei mir bleiben, aber du musst mir die Stube hübsch sauber halten und mir Geschichten erzählen, denn das ist meine Freude!"
Däumelieschen tat, was die Feldmaus verlangte, und hatte es ganz vortrefflich bei ihr.
"Nun bekommen wir gewiss bald Besuch!" sagte die Feldmaus. "Mein Nachbar pflegt mich täglich zu besuchen. Der hat noch mehr erwischt als ich, hat große Säle und geht in einem herrlichen schwarzen Sammetpelz einher. Könntest du den zum Manne bekommen, dann wärst du gut versorgt. "
Doch Däumelieschen mochte den Nachbar gar nicht haben, denn er war ein Maulwurf. Er kam und machte in seinem schwarzen Sammetpelz seine Aufwartung. Er wäre sehr reich und sehr gelehrt, sagte die Feldmaus. Seine Wohnung war auch in der Tat zwanzigmal größer als die der Feldmaus. Und Gelehrsamkeit besaß er. Aber die Sonne und die herrlichen Blumen konnte er gar nicht leiden, über sie wusste er nur Schlimmes zu erzählen.
Er hatte sich vor kurzem einen langen Gang von seinem bis zu ihrem Hause durch die Erde gegraben, in dem die Feldmaus und Däumelieschen mit seiner Erlaubnis nach Herzenslust spazieren gehen durften. Er bat sie aber, nicht vor dem toten Vogel zu erschrecken, der im Gange läge. Es war ein Vogel, der erst kürzlich beim Beginn des Winters gestorben sein konnte und nun gerade da begraben war, wo der Nachbar seinen Gang angelegt hatte.
Der Maulwurf nahm ein faules Stück Holz in das Maul, weil es im Dunkeln hell schimmert, ging voran und leuchtete ihnen in dem langen finsteren Gang. Als sie an der Stelle anlangten, wo der Vogel lag, drückte der Maulwurf mit seiner breiten Nase gegen das Gewölbe und stieß die Erde auf, so dann ein großes Loch entstand, durch das Licht hereinfiel. Mitten auf dem Boden lag eine tote Schwalbe, die schönen Flügel fest an die Seite gedrückt, die Beine und den Kopf unter die Federn gezogen. Der arme Vogel war sicher vor Kälte gestorben. Däumelieschen hatte inniges Mitleid mit ihm, sie liebte alle die lieben Vögel, hatten sie ihr doch den ganzen Sommer hindurch so schön etwas vorgesungen und vorgezwitschert. Aber der Maulwurf stieß ihn mit seinen kurzen Beinen und sagte: "Nun pfeift er nicht mehr. Es muss doch jämmerlich sein, als Vogel geboren zu werden. Außer seinem Zwitschern hat ja ein solcher Vogel durchaus nichts und muss im Winter elendiglich verhungern!"
"Ja, das könnt Ihr als vernünftiger Mann wohl sagen!" entgegnete die Feldmaus. "Was hat ein Vogel für all sein Zwitschern, wenn der Winter kommt? Er muss elendiglich verhungern und erfrieren."
Däumelieschen sagte nichts, als aber die beiden anderen dem Vogel den Rücken wandten, neigte sie sich hinab, schob die Federn, die über seinem Kopfe lagen, zur Seite und küsste ihn auf die geschlossenen Augen. Vielleicht war er es, der mir im Sommer so schön etwas vorsang', dachte sie, ,wieviel Freude hat er mir verschafft, der liebe, schöne Vogel.'
Der Maulwurf stopfte nun das Loch, durch das Tageslicht herein schien, wieder zu und begleitete die Damen nach Hause. Aber in der Nacht konnte Däumelieschen nicht schlafen. Da erhob sie sich von ihrem Bett und flocht aus Heu einen großen schönen Teppich, trug ihn hinunter, breitete ihn über den toten Vogel aus und legte weiche Baumwolle, die sie im Zimmer der Feldmaus gefunden hatte, dem Vogel zur Seite, damit er warm liegen möge in der kalten Erde.
"Lebe wohl, du lieber, schöner Vogel!" sagte sie, "lebe wohl und Dank für deinen herrlichen Gesang im Sommer, als alle Bäume grün waren und die Sonne auf uns so warm hernieder schien!" Dabei legte sie ihr Köpfchen an des Vogels Brust, fuhr aber sogleich erschrocken zurück, denn es war fast, als ob etwas darin klopfte. Das war des Vogels Herz. Der Vogel war nicht tot, er lag nur in einer Betäubung, war jetzt erwärmt worden und bekam wieder Leben.
Im Herbst fliegen alle Schwalben nach den warmen Ländern, verspätet sich aber eine, so friert sie so, dass sie wie tot zur Erde fällt und liegen bleibt, und der kalte Schnee breitet dann seine Decke über sie.
Däumelieschen schauderte ordentlich, so war sie erschrocken, denn der Vogel war ihr gegenüber, die kaum Daumeslänge hatte, ja so schrecklich groß. Aber sie fasste doch wieder Mut, legte die Baumwolle dichter um die Schwalbe und holte ein Krauseminzeblatt, dessen sie sich selbst als Deckblatt bedient hatte und legte es über den Kopf des Vogels.
In der nächsten Nacht schlich sie sich wieder zu ihm hinunter, und nun war er lebendig, aber so matt, dass er nur einen kurzen Augenblick seine Augen öffnen und Däumelieschen anzusehen vermochte, die, weil sie kein anderes Lämpchen haben konnte, mit einem Stückchen faulen Holzes neben ihm stand.
"Herzlichen Dank, du niedliches kleines Kind!", sagte die kranke Schwalbe zu ihr. "Ich bin vortrefflich erwärmt! Bald erhalte ich meine Kräfte wieder und kann draußen im warmen Sonnenschein umherfliegen. "
"Ach!" sagte sie, "es ist draußen gar kalt, es schneit und friert! Bleib du in deinem warmen Bettchen, ich werde dich schon pflegen!"
Darauf brachte sie der Schwalbe Wasser in einem Blumenblatt, und diese trank und erzählte ihr, wie sie sich an einem Dornbusch einen Flügel verletzt hätte, weshalb sie nicht mehr so schnell wie die anderen Schwalben zu fliegen vermochte, als diese weit weg nach den warmen Ländern fortzogen. Endlich war sie auf die Erde gefallen, und was weiter mit ihr geschehen, wusste sie nicht.
Den ganzen Winter blieb sie nun da unten, und Däumelieschen nahm sich ihrer aufs beste an und hatte sie sehr lieb. Weder der Maulwurf noch die Feldmaus erfuhren das Geringste davon, weil sie die arme Schwalbe nicht leiden konnten.
Sobald der Frühling kam und die Sonne die Erde erwärmte, öffnete Däumelieschen das Loch, das der Maulwurf in die Decke gemacht hatte, und die Schwalbe sagte ihr Lebewohl. Die Sonne schien herrlich hernieder, und die Schwalbe fragte, ob sie mit ihr ziehen wolle, sie könnte sie ja auf ihrem Rücken tragen. Aber Däumelieschen wusste, dass es die alte Feldmaus betrüben würde, wenn sie diese auf solche Art verließ.
"Nein, ich kann nicht!" sagte Däumelieschen.
"Lebe wohl, lebe wohl! du gutes, liebes Mädchen!" sagte die Schwalbe und flog hinaus in den Sonnenschein. Däumelieschen sah ihr nach, und Tränen traten ihr in die Augen, denn sie hatte die Schwalbe gar lieb.
"Srüi, srüi!" sang der Vogel und flog hinaus in die schöne Welt. Däumelieschen war sehr betrübt. Sie erhielt nie Erlaubnis in den warmen Sonnenschein hinauszugehen. Das Korn, das auf dem Acker über dem Hause der Feldmaus ausgesät war, wuchs auch hoch in die Luft empor. Für das arme kleine Mädchen, das kaum Daumeslänge hatte, war es ein völlig undurchdringlicher Wald.
"Während des Sommers sollst du an deiner Aussteuer nähen!" sagte die Feldmaus zu ihr, denn der Nachbar, der langweilige Maulwurf in dem schwarzen Sammetpelz, hatte sich um sie beworben.
Däumelieschen musste nun die Spindel drehen, und die Feldmaus nahm vier Spinnen in Lohn, die Tag und Nacht spinnen und weben mussten. Jeden Abend kam der Maulwurf auf Besuch und sprach nur immer davon, dass, wenn der Sommer vergangen und die Sonne nicht mehr so warm scheinen würde, er mit Däumelieschen Hochzeit feiern wolle. Sie war aber gar nicht vergnügt, denn sie hatte den langweiligen Maulwurf keineswegs lieb. Jeden Morgen, wenn die Sonne aufging, und jeden Abend, wenn sie unterging, schlich sie sich zur Tür hinaus, und sobald der Wind die Kornähren auseinanderwehte, dass sie den blauen Himmel sehen konnte, dachte sie daran, wie hell und schön es hier draußen wäre. Und sie wünschte so sehr, die liebe Schwalbe wiederzusehen, aber die kam nie wieder, die war gewiss weit fort geflogen.
Als es nun Herbst wurde, hatte Däumelieschen ihre ganze Aussteuer fertig.
"In vier Wochen sollst du Hochzeit halten!" sagte die Feldmaus zu ihr. Aber Däumelieschen weinte und sagte, sie wolle den langweiligen Maulwurf nicht haben.
„Schnickschnack!" sagte die Feldmaus, "sei nur nicht widerspenstig, sonst muss ich dich mit meinen weißen Zähnen beißen."
Nun sollte Hochzeit sein. Der Maulwurf war schon gekommen, Däume1ieschen zu holen.
"Lebe wohl, du klarer Sonnenstrahl!" sagte sie und streckte die Ärmchen hoch empor und ging auch eine kurze Strecke vom Hause der Feldmaus fort, denn nun war das Korn geerntet und nur die dürren Stoppeln standen noch da. "Lebe wohl, lebe wohl!" sagte sie und schlang ihre Ärmchen um eine kleine rote Blume, die daneben stand. "Grüße die liebe Schwalbe von mir, wenn du sie zu sehen bekommst!"
"Srüi, srüi!", ertönte es in demselben Augenblick über ihrem Kopfe.
Sie blickte auf, es war die Schwalbe, die gerade vorüber flog. Sobald Däumelieschen sie gewahrte, wurde sie sehr froh, sie erzählte ihr, wie ungern sie den garstigen Maulwurf zum Manne nähme und dass sie nun tief unter der Erde wohnen solle, wo das Sonnenlicht nie hin scheine.
"Nun kommt der kalte Winter", sagte die Schwalbe, "ich fliege nach den warmen Ländern fort. Willst du mich begleiten? Du kannst auf meinem Rücken sitzen! Fliege nur mit mir, du süßes, kleines Däumelieschen, die du mir das Leben gerettet hast, als ich fast erfroren in dem finsteren Gange lag!"
,,J a, ich zieh mit dir", sagte Däumelieschen und setzte sich auf des Vogels Rücken, mit den Füßen auf seine ausgebreiteten Flügel, band ihren Gürtel an einer der stärksten Federn fest, und nun erhob sich die Schwalbe hoch in die Lüfte, über Wälder und Seen, hoch hinauf über die großen Gebirge, wo immer Schnee liegt.
Endlich kamen sie nach den warmen Ländern. Dort schien die Sonne weit heller als hier, der Himmel war doppelt so hoch, und an den Gräben und Hecken wuchsen die herrlichsten grünen und blauen Weintrauben. In den Wäldern hingen Zitronen und Apfelsinen. Myrten und Krauseminzen erfüllten alles mit ihrem Duft. Aber die Schwalbe flog immer noch weiter, und es wurde schöner und schöner. Unter den prachtvollsten grünen Bäumen an dem blauen See stand seit alten Zeiten ein weißes Marmorschloss. Weintrauben rankten sich um hohe Säulen. An der äußersten Spitze hingen viele Schwalbennester, und in einem von ihnen wohnte die Schwalbe, die Däumelieschen trug.
"Hier ist mein Haus!", sagte die Schwalbe. "Suche dir aber selbst eine der prächtigen Blumen aus, die da unten wachsen, ich will dich dann hinein setzen, und dein Los wird so glücklich sein, als du nur wünschen kannst!"
„0 wie herrlich!", sagte Däumelieschen und klatschte in die kleinen Händchen.
Da lag eine große, weiße Marmorsäule, die zur Erde gefallen und in drei Stücke zerborsten war, zwischen ihnen aber wuchsen die schönsten großen, weißen Blumen. Die Schwalbe flog mit Däumelieschen hinunter und setzte sie auf eines der breiten Blätter. Aber wie groß war ihr Erstaunen: mitten in der Blume saß ein kleiner Mann, so weiß und durchsichtig, wie wenn er von Glas wäre. Die niedlichste goldene Krone hatte er auf dem Kopf und die prächtigsten hellen Flügel auf den Schultern. Er selbst war nicht größer als Däumelieschen. Es war der Engel der Blumen. In jeder Blume wohnte so ein kleiner Mann oder eine Frau, dieser aber war der König über alle.
Der kleine Prinz erschrak gewaltig vor der Schwalbe, denn gegen ihn, der so klein und fein war, schien sie ein wahrer Riesenvogel zu sein. Als er aber Däumelieschen gewahrte, wurde er gar froh, war sie doch das allerschönste Mädchen, das er bis jetzt gesehen hatte. Deshalb nahm er die Goldkrone von seinem Haupt und setzte sie ihr auf, fragte, wie sie heiße und ob sie seine Gemahlin werden wolle, dann solle sie Königin über alle Blumen sein.
Däumelieschen gab dem schönen Prinzen das Jawort, und von jeder Blume kam eine Dame oder Herr, so allerliebst, dass es eine Lust war. Jeder brachte Däumelieschen ein Geschenk, aber das beste von allen war ein Paar schöner Flügel von einer großen, weißen Fliege. Sie wurden Däumelieschen am Rücken befestigt, und nun konnte auch sie von Blume zu Blume fliegen. überall herrschte darüber Freude, und die Schwalbe saß oben in ihrem Nest und sang ihnen etwas vor, so gut sie vermochte, aber im Herzen war sie gleichwohl betrübt, denn sie hatte Däumelieschen gar lieb und würde sich nie von ihr getrennt haben.
"Du sollst fortan nicht mehr Däumelieschen heißen!", sagte der Engel der Blumen zu ihr, "das ist ein hässlicher Name und du bist so schön. Wir wollen dich Maja nennen!"
"Lebe wohl, lebe wohl!" sagte die Schwalbe und zog wieder fort aus den warmen Ländern, weit fort in unsere kältere Gegend. Dort hatte sie ein Nest oben an dem Fenster eines kleinen Häuschens, in dem der Mann wohnt, der Märchen erzählen kann. Dem sang sie ihr "Süri, süri" vor.

Der Schweinehirt

Es war einmal ein armer Prinz; er hatte ein Königreich, das ganz klein war; aber es war immerhin groß genug, um darauf zu heiraten, und verheiraten wollte er sich. - Nun war es freilich etwas keck von ihm, dass er zur Tochter des Kaisers zu sagen wagte: "Willst du mich haben?" Aber er wagte es doch, denn sein Name war weit und breit berühmt; es gab Hunderte von Prinzessinnen, die gern "ja" gesagt hätten, aber ob sie es wohl tun würde?
Nun, wir wollen sehen.
Auf dem Grabe des Vaters des Prinzen war ein Rosenstrauch, ein so herrlicher Rosenstrauch. Der blühte nur jedes fünfte Jahr, und auch dann trug er nur eine einzige Rose; aber was für eine Rose! Die duftete so süß, dass man alle seine Sorgen und seinen Kummer vergaß, wenn man daran roch. Und nun hatte er eine Nachtigall, die konnte singen, als ob alle schönen Melodien in ihrer kleinen Kehle säßen. Diese Rose und diese Nachtigall sollte die Prinzessin haben; und deshalb wurden sie beide in große Silberbehälter gesetzt und zu ihr gesandt.
Der Kaiser ließ sie vor sich her in den großen Saal tragen, wo die Prinzessin war und "Es kommt Besuch" mit ihren Hofdamen spielte; und als sie die großen Behälter mit den Geschenken darin erblickte, klatschte sie vor Freude in die Hände.
"Wenn es doch eine kleine Mietzekatze wäre!", sagte sie. - Aber da kam der Rosenstrauch mit der herrlichen Rose hervor.
"Nein, wie ist die niedlich gemacht!", sagten alle Hofdamen. "Sie ist mehr als niedlich", sagte der Kaiser, ,,sie ist charmant!"
.Aber die Prinzessin befühlte sie, und da war sie nahe daran, zu weinen,
"Pfui, Papa!", sagte sie, "sie ist nicht künstlich, sie ist natürlich!"
"Pfui!", sagten alle Hofdamen, "sie ist natürlich!"
"Lasst uns erst sehen, was in dem andern Behälter ist, ehe wir böse werden", meinte der Kaiser; und da kam die Nachtigall heraus; die sang so schön, dass man nicht gleich etwas Böses gegen sie vorzubringen wusste.
"Superbe! Charmant!" sagten die Hofdamen, denn sie plauderten alle Französisch, eine immer ärger als die andere.
"Wie der Vogel mich an die Spieldose der seligen Kaiserin erinnert!", sagte ein alter Kavalier. "Ach, das ist ganz derselbe Ton, derselbe Vortrag!"
"Ja", sagte der Kaiser, und dann weinte er wie ein kleines Kind.
"Es wird doch hoffentlich kein natürlicher sein?", sagte die Prinzessin.
"Ja, es ist ein natürlicher Vogel", sagten die, die ihn gebracht hatten.
"So lasst den Vogel fliegen", sagte die Prinzessin, und sie wollte durchaus nicht gestatten, dass der Prinz käme.
Aber der ließ sich nicht einschüchtern; er bemalte sich das Antlitz mit Braun und Schwarz, zog die Mütze tief über den Kopf und klopfte an.
"Guten Tag, Kaiser!“, sagte er. "Könnte ich nicht hier auf dem Schlosse einen Dienst bekommen?"
"Ja", sagte der Kaiser, "es sind aber so sehr viele, die um Anstellung bitten; ich weiß daher nicht, ob es sich machen wird; ich werde aber an dich denken. Doch da fällt mir eben ein, ich brauche jemand, der die Schweine hüten kann, denn deren haben wir viele, sehr viele."
Und der Prinz wurde angestellt als kaiserlicher Schweinehirt.
Er bekam eine iämmerlich kleine Kammer unten beim Schweinekoben, und hier musste er bleiben; aber den ganzen Tag saß er und arbeitete, und als es Abend war, hatte er einen niedlichen, kleinen Topf gemacht; rings um denselben waren Schellen, und sobald der Topf kochte, klingelten sie aufs schönste und spielten die alte Melodie:
Ach, du lieber Augustin, alles ist hin, hin, hin!
Aber das allerkünstlichste war doch, dass man, wenn man den Finger in den aus dem Topfe kommenden Dampf hielt, sogleich riechen konnte, welche Speisen auf jedem Feuerherd in der Stadt zubereitet wurden. Das war wahrlich etwas ganz anderes als die Rose.
Nun kam die Prinzessin mit allen ihren Hofdamen daherspaziert, und als die die Melodie hörte, blieb sie stehen und sah ganz erfreut aus, denn sie konnte auch "Ach, du lieber Augustin" spielen; es war die einzige Melodie, die sie spielen konnte, aber die spielte sie mit einem Finger.
"Das ist ja das, was ich kann!", sagte sie. "Es muss ein gebildeter Schweinehirt sein! Höre, geh hinunter und frage ihn, was das Instrument kosten soll."
Und da musste eine der Hofdamen hinuntergehen; aber sie zog Holzpantoffeln an. -
"Was willst du für den Topf haben?", fragte die Hofdame. "Ich will zehn Küsse von der Prinzessin haben", sagte der Schweinehirt.
"Gott bewahre!", sagte d1e Hofdame.
"Ja, für weniger tue ich es nicht", antwortete der Schweinehirt.
"Nun, was antwortete er?", fragte die Prinzessin.
"Das kann ich gar nicht sagen", erwiderte die Hofdame. "Ei, so kannst du es mir ins Ohr flüstern:'
„Er ist unartig!“, sagte die Prinzessin, und dann ging sie. Aber als sie ein kleines Stück gegangen war, erklangen die Schellen so lieblich:
Ach, du lieber Augustin, alles ist hin, hin, hin!
"Höre", sagte die Prinzessin", frage ihn, ob er zehn Küsse von meinen Hofdamen haben will.“
"Ich danke schön", sagte der Schweinehirt, "zehn Küsse von der Prinzessin, oder ich behalte meinen Topf."
"Das ist doch langweilig", sagte die Prinzessin. "Aber dann müsst ihr euch vor mich stellen, damit es niemand sieht."
Und die Hofdamen stellten sich davor, und dann breiteten sie ihre Kleider aus, und dann bekam der Schweinehirt zehn Küsse, und sie erhielt den Topf.
Nun, das war eine Freude! Den ganzen Abend und den ganzen Tag musste der Topf kochen; es gab nicht einen Feuerherd in der ganzen Stadt, von dem sie nicht wussten, was darauf gekocht wurde, sowohl beim Kammerherrn wie beim Schuhmacher. Die Hofdamen tanzten und klatschten in die Hände.
"Wir wissen, wer Suppe und Eierkuchen essen wird; wir wissen, wer Grütze und Karbonade bekommt; wie ist das doch interessant!"
"Sehr interessant!", sagte die Oberhofmeisterin.
"Ja, aber haltet reinen Mund, denn ich bin des Kaisers Tochter."
"Jawohl, das versteht sich!", sagten alle.
Der Schweinehirt, das heißt der Prinz - aber sie wussten es ja nicht anders, als dass er ein wirklicher Schweinehirt sei -, ließ keinen Tag verstreichen, ohne etwas zu tun, und so machte er eine Knarre, wenn man die herum schwang, erklangen alle die Walzer, Hopser und Polkas, die man seit Erschaffung der Welt gekannt hat.
"Aber das ist superbe!", sagte die Prinzessin, indem sie vorbeiging. Ich habe nie eine schönere Komposition gehört. Höre, gehe hinunter und frage ihn, was das Instrument kosten soll; aber ich küsse nicht wieder."
"Er will hundert Küsse von der Prinzessin haben", sagte die Hofdame, welche hingegangen war, um zu fragen.
"Ich glaube, er ist verrückt!", sagte die Prinzessin, und dann ging sie; aber als sie ein kleines Stück gegangen war, blieb sie stehen. "Man muss zur Kunst aufmuntern", sagte sie. "Ich bin des Kaisers Tochter! Sage ihm, er solle wie neulich zehn Küsse haben; den Rest kann er von meinen Hofdamen bekommen."
"Ach, aber wir tun es so ungern!", sagten die Hofdamen. "Das ist Geschwätz", sagte die Prinzessin, "und wenn ich ihn küssen kann, so könnt ihr es auch. Bedenkt, ich gebe euch Kost und Lohn!" Und nun mussten die Hofdamen wieder zu ihm hinein.
"Hundert Küsse von der Prinzessin", sagte er, "oder jeder behält das Seine."
"Stellt euch vor uns", sagte die Prinzessin, und da stellten alle Hofdamen sich davor, und nun küsste er die Prinzessin.
"Was mag das wohl für ein Auflauf beim Schweinekoben sein?", fragte der Kaiser, welcher auf den Balkon hinaus getreten war. Er rieb sich die Augen und setzte die Brille auf. "Das sind ja die Hofdamen, die da ihr Wesen treiben; ich werde wohl zu ihnen hinunter müssen." - Und so zog er seine Hausschuhe hinten herauf, denn es waren Schuhe, die er zu Pantoffeln niedergetreten hatte.
Potz Wetter, wie er sich sputete!
Sobald er in den Hof hinunter kam, ging er ganz leise, und die Hofdamen hatten so viel damit zu tun, die Küsse zu zählen, damit es ehrlich zugehe, dass sie den Kaiser gar nicht bemerkten. Er erhob sich auf den Zehen.
"Was ist das?", sagte er, als er sah, dass sie sich küssten, und dann schlug er sie mit einem seiner Pantoffeln an die Köpfe, gerade als der Schweinehirt den sechsundachtzigsten Kuss erhielt.
"Packt euch", sagte der Kaiser, denn er war böse. Und sowohl die Prinzessin als der Schweinehirt wurden aus seinem Kaiserreiche verstoßen.
Da stand sie nun und weinte; der Schweinehirt schalt, und der Regen strömte hernieder.
"Ach, ich elendes Geschöpf", sagte die Prinzessin, "hätte ich doch den schönen Prinzen genommen. Ach, wie unglücklich bin ich!"
Und der Schweinehirt ging hinter einen Baum, wischte das Schwarze und Braune aus seinem Gesicht, warf die schlechten Kleider von sich und trat in seiner Prinzentracht hervor, so schön, dass die Prinzessin sich verneigen musste.
"Ich bin nun dahin gekommen, dass ich dich verachte“, sagte er. "Du wolltest keinen ehrlichen Prinzen haben; du verstandest dich nicht auf die Rose und die Nachtigall; aber den Schweinehirten konntest du für eine Spielerei küssen; das hast du nun dafür!“
Und dann ging er in sein Königreich und machte ihr die Tür vor der Nase zu. Da konnte sie draußen stehen und singen:
"Ach, du lieber Augustin, alles ist hin, hin, hin!

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