Weihnachten ohne Baum?

„Dieses Jahr gibt es keinen Christbaum“, meint Karl überdrüssig. „Immer die Arbeit wegen der zwei, drei Wochen.“
Elfriede, seine Frau, bekommt runde und traurige Augen und so machen sie sich auch dieses Mal doch wieder auf, um einen Baum zu besorgen.

Jahrzehnte haben die beiden Senioren kommen und gehen sehen.
Als sie noch klein waren – damals – im Krieg und kurz danach, da gab es fast nichts. Wie glücklich war man, sich ein Bäumchen, egal wie krumm, aus dem Wald holen zu dürfen. Schmunzelnd erinnert sich Elfriede daran, dass alles Verpackungsmaterial, das nur annähernd glänzte, schon lange vor dem Winter gesammelt wurde. Mit Mutti hatte sie Sterne gebastelt. Na ja, ihre Gebilde sahen nicht unbedingt immer sehr originalgetreu aus. Trotzdem hatte die Arbeit Spaß gemacht und die Wangen glühen lassen. Tannenzapfen bemalte sie als kleines Mädchen mit Gold aus dem Wasserfarbkasten und die winzigen roten Weihnachtsäpfelchen wurden gesammelt. Nachdem diese Herrlichkeiten mit Bändchen versehen waren, wurden sie in einer Schachtel verwahrt, damit das Christkind sie am Heiligen Abend aufhängen konnte.
Später als Elfriede nicht mehr an das Jesulein glaubte, durfte sie beim Baum schmücken mithelfen. Da waren schon die schönen Glaskugeln auf dem Markt und weiterer herrlicher Schmuck. Trotzdem hielt man auch die Kostbarkeiten aus der Kinderzeit in Ehren. Lachend erinnerte sich Elfriede mit den Eltern an die oft lustigen Basteltage und die damit verbundenen Pannen.
Irgendwann gab es auch den süßen Christbaumschmuck, der jeden Tag genascht werden konnte. Das Wirtschaftswunder machte es möglich, sich einige Wünsche zu erfüllen, wenn man auch noch sehr sparen musste.
Später – erinnert sich Karl – hatte er eine eigene Familie und der Kreis schloss sich. Man war nun als Eltern für den reibungslosen Ablauf beim Fest verantwortlich, freute sich über die glänzenden Augen der eigenen Kinder und dass sie nicht solche entbehrungsreichen Weihnachten erleben mussten. Es gab Gans an den Feiertagen und mit Tränen in den Augen dachte der Mann an seine Feste in den allerersten Kindertagen, an denen selbst Brot eine Köstlichkeit war.
Und heutzutage – als Großeltern? Viel hat sich verändert. Wieder herrscht Not, aber eine andere – oft eine seelische. Eine Kälte, die nicht körperlich vorhanden ist. Die Familie hat keine Zeit füreinander. Gebastelt wird fast nicht mehr und auch selten gesungen.
Wie schön war dieses geheimnisvolle Weihnachten, das bereits im Advent begann. Alle Lieder wurden beizeiten geübt, damit man sie auswendig konnte. Die Enkel kennen heute weder Texte noch Noten – schade eigentlich. Auch wird unterm Baum nicht mehr wie früher musiziert. Beim Lied Stille Nacht bekam man immer eine Gänsehaut.
Die Geschenke sind ebenfalls viel kostbarer. Kostbarer den Geldbeutel betreffend. Hatte man damals gebastelt, gemalt, gestickt, gehäkelt oder gestrickt, wird heute alles gekauft. Die Ansprüche sind immens gestiegen. Computer, Handy, Game Boy …
Elfriede und Karl verstehen das nicht, obwohl auch sie online und mit fast all diesen Neuerungen ausgestattet sind.

Aber nun schütteln die beiden all diese trüben, doch auch schönen Gedanken ab.
Die Tanne steht schon und schnell wird die Schachtel mit dem Baumschmuck geholt. Die elektrischen Kerzen sind bald befestigt und probeweise geprüft. Ihr heller Glanz strahlt.
Damals - ja damals - die echten Kerzen - zuerst gab es fast keine und später - wie schön sie flackerten - sie lebten - obwohl es auch gefährlich war. Und wie sie dufteten, wenn man sie ausgeblasen hatte und sich die kleinen Rauchwölkchen im Zimmer verteilten.
Mittlerweile steht der Christbaum im vollen Schmuck. Bald wird die Weihnachtsschallplatte das Lied der Lieder - Stille Nacht - erklingen lassen und Elfriede und Karl werden summend mit einfallen.
„Es war doch gut, einen Baum zu besorgen, um uns zu erinnern und das Fest der Liebe so zu feiern, wie wir es im Herzen haben“, da sind sich die beiden einig.

Heidi Gotti