Traumbild der Gefühle

Karina ist eine eigenwillige Frau. Eben hat sie mit Auszeichnung ihr Studium beendet und steht schon mit beiden Beinen im Leben.
‚Rechtsanwältin’, das Wort zergeht ihr auf der Zunge.
Eigentlich ist sie nicht der träumerische Typ, eher der knallharte und berechnende.
„Der Beruf ist auf sie zugeschnitten“, meinen die Eltern, „sie hat das notwendige Durchsetzungsvermögen, dieses oft auch ‚über Leichen gehen’!

Trotzdem hat die junge Frau es nicht leicht, denn ihre Nüchternheit und das Erreichenwollen machen es ihr schwer. In einer großen Kanzlei darf sie sofort beginnen. Naja mit diesem Traumabschluss! Sie hatte aber auch nur gebüffelt und alles andere hinten angestellt. Nun ist es soweit, dass sie an anderen Dingen überhaupt kein Interesse mehr hat.

Die Natur sieht sie nicht mehr. Weder den Wald, noch die Wiesen, Blumen, Felder - es existiert für sie einfach nicht. Auch das Erwachen, Dasein oder Sterben an den Jahreszeiten bemerkt sie nicht.
Alle Freunde haben sich von ihr abgewandt, hieß ihre Antwort auf Einladungen doch immer: „Tut mir leid, ich habe keine Zeit.“
Das wurde von ihr geistesabwesend geantwortet und sie war dann auch nicht mehr ansprechbar, da sie schon bei ihrem Studium weilte.
Aber … nun war es geschafft … und Tür und Tor stehen ihr offen.

Sie wird geschätzt im Büro, aber nur als Anwältin, da steht sie ihre Frau. Ansonsten stößt ihre Kälte und Gleichgültigkeit alle Kolleginnen und Kollegen ab.

Schade, denn sie ist eine hübsche Frau mit langem dunkelblondem Haar, blauen Augen, groß und schlank gewachsen. Auch sich zu kleiden versteht sie, aber das geschieht nur automatisch und instinktiv. Aber wo ist ihr Herz, wo sind ihre Gefühle?
Schon lange wird sie von Gerald, einem Kollegen bewundernd umworben, aber sie bemerkt es überhaupt nicht.

Nach einem halben Jahr Probe- und Einarbeitungszeit darf sie den ersten Urlaub antreten, der sie nach Kreta führen soll. Sie freut sich schon riesig, nur … wird ihr diese Landschaft das bringen, was andere Menschen dort erblicken und erfahren dürfen? Mit ihren Augen und Emotionen, die so nüchtern sind, dass sie ihre Umgebung auszuschließen scheinen?

Einen Tag vor ihrer Abreise sitzt sie über den schönen Beschreibungen dieser Insel.
Sie sieht Palmen, herrliche Gewächse in einem wunderschönen bunten Blütenreichtum, in der Ferne Berge, ein weißes Hotel mit Pool und draußen das Meer.

Der Fernseher dröhnt, dort wird eben eine Frau hinterrücks erdolcht. Gerne sieht sie sich diese Krimis an, da sie ja mit solchen Straftätern in ihrem Beruf konfrontiert wird. Die Menschen sind für sie nicht böse, sondern sie braucht sie, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, sind deshalb eine Art Ware für sie. Somit findet sie auch nichts an deren Tun, mag es auch noch so grausam sein.

Trotzdem fallen ihr nun die Augen zu. Ein letzter Blick auf den aufgeschlagenen Prospekt und schon ist sie ins Land der Träume entschlummert.
Sie sieht einen weißen Palast! Ist es das Hotel? Nein, es muss ein Schloss sein, von Säulen getragen. Ein wunderschöner Park mit Garten umgibt das Gebäude. Ein Springbrunnen plätschert beruhigend, die Sonne taucht alles in goldenes Licht.
Bemerkt sie solche Dinge auch im ‚realen’ Leben nicht, hier werden sie ihr übermächtig allgegenwärtig.
Rosen über Rosen, diese englischen, die so vollblütig sind, in rosa, gelb, weiß und dunkelrot. Karina meint sie zu riechen, tief atmet sie deren Duft ein.
Wo die Blüten am schönsten und dichtesten sind, steht eine Liegestatt, ausgebettet mit weichen seidenen Kissen. Dort liegt eine junge Frau, in ein herrliches Gewand gekleidet, wie aus ‚Tausendundeiner Nacht’. Durchsichtige Seide in Türkis und Hellblau, an der Brust mit Gold bestickt, drapiert sich um den wunderschönen und schlanken Körper. Wohlig hingestreckt, den Kopf auf dem rechten Arm, scheint die Person zu schlafen.
Karina stutzt: „Das bin ja ich“, murmelt sie vor sich hin.
Auch sie schmiegt sich nun behaglich in die Polster der Couch, immer die Person, die sie selbst verkörpert, im Auge.
Plötzlich vermeint sie Pferdegetrappel zu vernehmen und sieht einen Ritter in einer Rüstung auf das Schloss zureiten. Sein Harnisch gleißt in der Sonne und blendet sie.
Überrascht zügelt er das weiße Pferd und dieses bleibt stehen.
„Komm doch, komm zu mir“, jubelt ihr Herz. Alle Gefühle, deren sie im Leben nicht mehr fähig ist, lassen ihren Körper vibrieren.
Sie möchte aufstehen, aber die Frau vor ihr, die sie selbst ist, reagiert nicht.
Tränen beginnen aus ihren Augen zu rinnen und sie schluchzt sehnsüchtig.
Wieder fleht sie den Ritter an, der immer noch auf diesem wunderschönen Schimmel bewegungslos sitzt.
 

Karina wacht an ihrem eigenen Weinen auf.
„Wo bin ich? Wo ist der Ritter?“, fragt sie sich benommen.
Der Fernseher läuft immer noch und der Krimi ist auch nicht zu Ende. Sie kann also nicht lange geträumt haben.
Trotzdem reichte diese kurze Zeitspanne, um ihr Leben zu verändern. Ihre Gefühle sind wieder da. Sie kann alles empfinden, was ihr abhanden gekommen ist.
Die Natur, die Menschen und sogar sich selbst.
 

Am nächsten Tag MUSS sie noch einmal ins Büro vor ihrer Fahrt nach Kreta.
Sie verabschiedet sich von den Menschen, mit denen sie ein halbes Jahr zusammengearbeitet hatte, ohne sie jemals bemerkt zu haben.
Als sie in Geralds Augen sieht, taucht für den Bruchteil einer Sekunde das Traumbild vor ihren Augen auf und sie weiß, sie hat ihren Ritter auf dem weißen Pferd wieder gefunden.
 

Heidi Gotti

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