Mein geliebter Baum

Da war der Traum
von meinem Baum.

Stattlich sah er aus,
neben unserm Haus.
Schutz vor Hitze im Schatten
alle deine Bewohner hatten.
Spechte, Amseln, Finken Meisen,
von weither sie immer reisen.
Dein Tisch war reich gedeckt,
viele Kostbarkeiten dort versteckt.
Würmchen, Raupen und auch Nüsse,
sorgten für Tier und Mensch-Genüsse.
Heut noch hör ich die Spechte klopfen,
während meine Tränen tropfen,
denn traurig bin ich gar sehr,
meinen Baum, gibt’s nicht mehr.
Krank geworden durch die Umwelt,
hat man ihn gefällt.
Ade du Traum
von meinem Baum.


Was ist denn heute draußen los? Ein Blick aus dem Fenster bringt Klarheit.
Hinter der Scheune nebenan schiebt sich auf einem Arm ein komisches Gebilde herauf, in dem zwei Männer sitzen. Hoch und immer höher steigt dieser Korb, bis er die obersten linken Äste des nachbarlichen Nussbaumes erreicht. Eine Säge hört man aufheulen und kurz darauf einen Plumpser. Der erste Zweig ist nach unten gefallen. Schnell geht es weiter, aber es ist nicht ganz so einfach, denn eine Stromleitung behindert manchmal ganz schön. Entweder wird darüber oder darunter durchgefahren. Auch können die Äste nicht in voller Länge oder Größe entfernt werden, wäre zu gefährlich. Wegen dieser Leitung, die sie mitreißen könnten, muss das genau berechnet werden. So stutzt der Mann den einst stattlichen Nussbaum stückweise und am Schluss stehen von der einen Hälfte nur einige kurze dicke Äste in die Höhe, die nun ebenfalls noch ein wenig beschnitten werden. Weiter scheint es nicht zu gehen, oder doch? Neuer Anlauf, denn es ist noch genug „Material“ am Baum übrig. Plötzlich ein Rums und der Arm sitzt auf dem Scheunendach auf. Auweia, das hat sicher nicht gut getan. Also doch Endstation? Schnell Rückzug! Doch erneut taucht diese Kanzel über dem Scheunendach auf. Aber es steht nur noch ein Mann drinnen. Vorsichtig lenkt er das Monstrum Richtung Arbeit. Noch ein Teil des Nussbaums kann entfernt werden, bevor endgültig Schluss ist. Der jüngere Arbeiter kommt mit einer weiteren Säge und einer, die an einer Stange befestigt ist, zu Fuß. Es ist möglich von unten aus in der Höhe noch einen Ast zu entfernen, was nicht ungefährlich aussieht. Aber – es ist alles gut gegangen. Noch ein paar Zweige, die herabhängen, werden beseitigt, aber dann ist endgültig Schluss. Am Boden zersägt der Helfer noch ein paar der besonders großen Äste, dann verschwinden die beiden Männer mit dem Besitzer des Walnussbaums.

Ein paar Tage später erscheinen zwei junge Arbeiter und der Rest des Baumes muss weichen. Der besonders große Ast über unserem Haus ist noch übrig und natürlich auch noch der Stamm. Dieser war schon so dick, dass man ihn zu zweit oder dritt hätte umarmen müssen.
Das Seil um den oberen Teil des Stammes, anschließend um einen Baum in der Ferne und von dort über eine Art Umleitung um den nächsten. Wie man das nennt wissen nur die Fachleute. Der eine Mann sägt einen Keil in Fallrichtung in den riesigen Stamm. Nun wird auf der Gegenseite eingesägt und Keile aus Metall eingehämmert. Immer wieder versucht der Arbeiter, an dem Stamm zu drücken und als er mit einem mächtigen Hammer dagegen klopft, gibt er leicht nach. Es ist soweit. Alle Mann in Deckung, heißt es nun. Per Fernbedienung wird das Seil angezogen. Plötzlich – ein Ratsch! Das Metallseil ist gerissen. Erschrocken und mit wachen Augen wird alles beobachtet. Schnell noch zwei Keile in den Spalt des Stammes, damit der Ast nicht noch auf unser Haus stürzt. Alles beginnt neu und dann klappt es doch noch. Der dünnere Baum, der als Gegenpol dient, wird fast herausgerissen, aber letztendlich liegen Stamm und der letzte Ast doch im Gras. Knapp ging es zu, haarscharf an einem weiteren Gebäude vorbei.
Leer sieht alles nun aus und der Nachbar hat viel zu tun, um die nächsten Tage alle Spuren zu beseitigen. Sicher werden wir nun mehr Licht und Sonne bekommen, aber im Sommer wahrscheinlich auch mehr Hitze. Na ja, zum Glück haben wir die Markise und Rollläden. Trotzdem ist es schade um den Walnussbaum, der immer dürrer wurde, weg musste weil er krank war. Doch die Erinnerung an die köstlichen Nüsse, die Kraft und Ruhe, die vom Baum ausströmte und den kühlenden Schatten, wird bleiben.

Heidi Gotti

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