Der Duft des Lavendels

Gabi ist verliebt, zum ersten Mal. Als der neue Schüler das Klassenzimmer betrat, dachte der dreizehnjährige Teenager noch: So ein Blödmann! War sie doch vor der Schule bereits mit ihm zusammengestoßen. Wie immer morgens war sie spät dran, denn ihr Outfit hatte viel Zeit gekostet. Der Lockenstab nervte an diesem Morgen, missmutig hatte sie in den Spiegel geblickt und sich hässlich gefunden. Der Pickel auf der Stirn war auch noch da, ja er war sogar größer geworden und feuerrot strahlte er ihr entgegen. Sie war stinkig. Den halben Schrank hatte sie ausgeräumt, bis sie sich für eine Jeans und den Schlapper-Pulli entscheiden konnte. Die Löcher an den Knien der Hose genügten nicht und mussten erweitert werden. Das Schlachtfeld, das danach entstanden war, beeindruckte das Mädchen nicht sonderlich. Aufräumen war nicht ihr Ding. Es war normal, in ihrem Zimmer über diverse Dinge steigen zu müssen. Oft war Mutti gemein und stopfte alles in einen riesigen blauen Müllsack, worauf Gabi einen Tobsuchtsanfall bekam.
Fast hätte der anschließende Spurt zur S-Bahn sie noch stürzen lassen, denn ... die Hosenbeine mussten so lang sein, dass sie am Boden schleiften. Zum Glück hatte die Mutter heute Morgen nicht wie sonst an ihr herum gemäkelt. Gabi war schon darauf vorbereitet gewesen, denn wortkarg war sie nie. Ihrem frechen Mundwerk gelang es immer, sich abzureagieren. Auf Schule hatte sie sowieso Null Bock und war deshalb auch so sauer, von dem fremden Jungen angerempelt zu werden. Dann hatte dieser Rüpel auch noch gelacht, musste das Mädel feststellen. Kochend vor Wut, drückte sie sich beim Klingelzeichen hinter der Lehrerin ins Klassenzimmer.
Ausgerechnet dieser Typ war der „Neue“, von dem ihre Freundinnen so geschwärmt hatten, weil sie ihn schon kannten.
‚Die leiden an Geschmacksverirrung’, dachte sie zornig.
Strafversetzt vom gestrigen Tag saß sie in der letzten Reihe und nur noch neben ihr war ein Platz frei. Nach der Vorstellung durch die Lehrerin setzte sich der neue Schüler, mit einem um Erlaubnis heischenden Blick, neben sie.
‚So, Peter heißt der Typ, passt genau’, dachte Gabi und sah ihn giftig an.
Aber es half nichts, auf ihre widerspenstigen Blicke hin, fing der Junge zu grinsen an. Gabi flippte fast aus. Beim anschließenden Unterricht wusste die eigentlich sehr gute Schülerin nichts, aber auch gar nichts, was bei ihrer Lehrerin ein ungläubiges Erstaunen hervorrief.
Kaum war der Unterricht zu Ende, knallte sie ihre Sachen in die Schulmappe und verließ wortlos das Klassenzimmer. Ihre Freundinnen waren sprachlos.
Die nächsten Tage verliefen ähnlich. Das Chaos nahm immer mehr zu und eines Tages war es soweit, ihre Bücher fielen auf den Boden. Gleichzeitig mit Peter bückte sie sich, um ihre Sachen aufzuheben. Natürlich stießen sie mit den Köpfen zusammen, was ihr die Zornesröte ins Gesicht steigen ließ. Bei der Berührung seiner Hände durchlief sie ein so seltsames Gefühl, dass sie panikartig die eben erfassten Gegenstände wieder los ließ.
Das gab ihr zu denken, sie verachtete den Jungen und sehnte sich doch nach seinen Händen. Immer öfters versuchte er, ihre Finger zu erhaschen, was jedes Mal ein Zittern durch ihren Körper jagte. Natürlich nannte sie sich selbst eine dumme Gans.
Auch die nächste Zeit war Gabi im Unterricht völlig abwesend, der Lehrstoff rauschte an ihr vorbei. Ihre Lehrerin beobachtete die beiden heimlich schmunzelnd. War sie doch selbst auch schon verliebt gewesen. Abwartend musste Gabi diesen Jungen belauern, obwohl sie sich irgendwie nach ihm sehnte. Dafür verabscheute sie sich abgrundtief, fühlte sich von sich selbst verraten und konnte es nicht verstehen.
Zu botanischen Zwecken war von der Klasse ein Kräutergarten erstellt worden. Gabi liebte es, das Wachsen und Gedeihen dieser Pflanzen zu beobachten. Nun war sie diese Woche verantwortlich, dass zwischen den Beeten gehackt und die Gewürze auch gewässert würden.
Die Lehrerin meinte: „Nimm Peter mit, damit er weiß um was es geht.“
Gabi hasste sie dafür und hätte gerne widersprochen, wusste aber, dass es nichts nützte. Also machte sie sich auf den Weg und rannte vornweg, als ob der Teufel hinter ihr her wäre. Der Junge trottete hinterher. Auf Gartenarbeit hatte nun er absolut keinen Bock, was aber auch nichts half.
Kaum im Gärtchen angekommen, bewaffnete sich Gabi mit einer Hacke und meinte barsch: „Schau, so macht man das“, und drückte Peter das Gartenwerkzeug in die Hand. Sie begab sich zum Regenfass, um mit der Gießkanne Wasser zu holen. Wutentbrannt, aber auch sehr unsicher wie sie sich verhalten sollte, tauchte sie die Kanne ins Wasser ein. Dabei rutschte sie aus, ihre Beine baumelten in der Luft und sie wäre fast ins Fass gestürzt. Natürlich entglitt ihr ein erschrockener Laut. Sofort war Peter bei ihr, um ihr zu helfen. Er umfasste sie und stellte sie auf den Boden.
„Lass mich sofort los“, kreischte Gabi und rannte zum Beet. Dort begann sie zwischen den Pflanzen das Unkraut zu jäten. Peter kam hinterher, um seinerseits das, was er für unnötig hielt, auszureißen.
Wieder eine Berührung ihrer Hände, wobei sich das Mädchen so schwach und hilflos vorkam. Und dann passierte es, die beiden sahen sich an und Gabis Widerspenstigkeit war wie weggeblasen. Sie blickten sich in die Augen und es war geschehen ... sie fühlten, dass sie sich liebten. Das Mädchen plumpste kraftlos zwischen die Gewächse und Peter kniete vor ihr auf dem Boden. Er hielt mit beiden Händen ihr Gesicht zart umfasst und hauchte einen leichten Kuss auf ihre Lippen. Der Lavendel im Beet duftete wie niemals zuvor und die blauen Blüten leuchteten in der Sonne. So schön war er Gabi noch nie vorgekommen.
Ab diesem Augenblick begann eine wunderbare, reine Liebe, die bis ins Alter dauern sollte. Jeder weitere Kuss, wo auch immer, roch nach dieser wunderschönen und doch so bescheidenen Pflanze. Als die Beiden die Schule beendet hatten, verlobten sie sich und heirateten. Zwei Kinder wurden geboren und gemeinsam durchlebten sie schöne und schlechte Jahre.
Der Lavendel spielte in ihrem gesamten Leben eine große Rolle. Der eigene Garten zeugte davon. Zwischen den Rosen, die entlang des Hauses dunkelrot leuchteten, duftete blauer Lavendel. Wenn Gabi einige Zweige mit ins Haus nahm, fassten sich die beiden Menschen an den Händen und küssten sich jedes Mal zärtlich. Als Peter eines Tages krank wurde, pflückte Gabi für ihn diese Blüten, um sie an sein Bett zu stellen und später legte sie auf sein Grab einen Kranz, der aus dunkelroten Rosen und blauen Lavendelblüten gebunden war.
Nach vielen Jahren des Alleinseins wurde sie jedes Mal beim Geruch dieser Blüten an die ersten zarten und später heißen Küsse erinnert. Ein ausgefülltes und glückliches Leben hatte damit begonnen und wurde von diesen Gewächsen begleitet. Auch das Abschiednehmen von Peter war geprägt vom Duft dieser Pflanze, den sie noch immer riecht, wenn sie die Augen schließt. So wird es immer bleiben, da ist sie sich ganz sicher.

Heidi Gotti

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