Kanalripple

Wieder einmal sind wir – nach langer Zeit – am anderen Ende des Städtchens, um im Baumarkt einzukaufen. Wie sich alles verändert hat. Vor guten 45 Jahren gab es hier nur eine Halle, in der allerlei Gerät und Material gelagert wurde. Aber nun ist alles zugebaut.
Industrie, Läden und auch Wohnhäuser.

Schmunzelnd erinnere ich mich an ein damaliges Erlebnis, über das wir noch lange lachten.
Ein Markt entstand, in dem man alles kaufen konnte, angefangen beim Fernseher, Rasenmäher, Werkzeugen und sogar Lebensmittel.
Die Postwurfsendungen und Werbung in der Zeitung, versprachen oft günstige Angebote und da das Geld knapp war, machten wir uns dann immer auf den Weg. Erst seit kurzem hatte ich den Führerschein und wir träumten davon, dass es viele billige Sachen geben möge, damit ich den Kofferraum einmal so richtig vollladen könne.
Aber die Enttäuschung war meistens riesengroß. War der Preis gesenkt, taugte es nicht viel, oder man brauchte das Zeugs nicht.
Schlank und sehr rank schleckten wir uns jedes Mal die Lippen, wenn leckere Sachen in der Fleischtheke aufgebaut waren. Aber … wir konnten sie uns nicht leisten, knurrte der Magen auch oft recht unverschämt. Bescheidenheit war angesagt, denn der Geldbeutel hatte immer Schwindsucht und es musste streng hausgehalten werden.

Eines Tages waren wir wieder in diesem Laden, um uns wenigstens annähernd an den lukullischen Delikatessen satt zu sehen.
Ich muss schmunzeln, denn es handelte sich um einfache Lebensmittel, die heute zum Standard gehören.
Vati hatte ein paar Bretter erstanden, dazu Nägel und Schrauben, denn er wollte eine Regalwand fürs Wohnzimmer bauen. Bisher sah dieser Raum mehr als dürftig aus und wurde so nach und nach immer erweitert, wenn es finanziell möglich war. Möbel kaufen? Das ließ unser Vermögen nicht zu. Bald war das Material im Auto verstaut und ich wartete auf meinem Fahrersitz ungeduldig auf die Eltern.
Doch wusste ich mich zu beschäftigen, denn Menschen zu beobachten, war schön. Die einen rannten, die anderen standen herum und hatten sich viel zu erzählen. Da die alte Frau … eben wurde sie vom Sohn abgeholt, der ihr die schwere Tasche abnahm. Ein Vati kämpfte mit seinem Töchterchen, das scheinbar im Laden etwas entdeckt und nicht bekommen hatte … Handwerker gingen am Auto vorbei, in der Hand ihr Vesper. Ein Maler lud eben zwei Farbeimer in ein Leiterwägelchen. Sicher war seine Arbeitsstelle in der Nähe. Meine Gedanken schweiften ab und ich befand mich irgendwo zwischen Realität und Traum. Schnelle Schritte weckten mich aus meiner Versunkenheit. Es war einer der Metzger, die im Laden beschäftigt waren. Aus dem Eimer, den er trug, dampfte es. Fröstelnd schloss ich die Knöpfe meiner Jacke. Es war Oktober und dieses Jahr doch schon ganz schön kalt. Die Burschen hatten Hochbetrieb, denn es wurde geschlachtet, was man an einer Tafel ablesen konnte. Leider konnten wir uns dieses Angebot nicht leisten. Aber wir waren Verzicht schon gewohnt und trotz vieler Einschränkungen auf unsere Art glücklich.
Auf dem Rückweg war der Eimer leer, sicher hatte der noch sehr junge Knabe die heiße Brühe irgendwo entsorgt. Plötzlich riss jemand meinen Kofferraumdeckel auf. Ein Blick in den Rückspiegel beruhigte mich, denn es war mein Vati. Mutti hatte bereits die Beifahrertüre geöffnet, den Sitz nach vorne geklappt, um ihren Mann einsteigen zu lassen.
Ich hörte den Schlag, als Vati das Auto hinten verschloss, um anschließend im Fond des Wagens zu verschwinden. Hastig setzte Mutti sich neben mich und rief: „Schnell fahr los!
Als ich den Mund öffnen wollte, um zu fragen, hieß es: „Später …“
Stutzig machte mich das fröhliche, verschmitzte Gesicht meines Vaters, das ich im Innenspiegel des Autos entdeckte. Auch Mutter schmunzelte und schaute zufrieden vor sich hin. Nach einer Weile meinte sie: „Heute gibt es Kanalripple!“
Ich musste mich verhört haben und wartete geduldig auf eine Erklärung. Meinen Vati, den Spaßvogel, kannte ich schon. Aber Mutti war doch sonst eigentlich recht vernünftig …
Daheim staunte ich, denn auf der Decke im Kofferraum lagen mehrere gekochte, noch etwas dampfende Ripple.
Misstrauisch schaute ich meine Eltern an. Mir wurde als Kind immer erklärt, dass man nicht stehlen dürfe … und ich konnte mir nicht denken, dass sie diese Leckerbissen geklaut hatten.
Lachend erzählte mir Vati anschließend, dass dieser Metzger, den ich selbst rennen sah, die Brühe aus dem Eimer in den Kanal gegossen hatte. Sie wurden erst stutzig, als dort hinterher etwas lag … eben diese Ripple, die er scheinbar übersehen hatte. Einen kurzen Moment verweilten meine Eltern, um dann schnell aktiv zu werden
Noch nie vorher konnten wir uns Derartiges gönnen!.
Eingeteilt aßen wir genüsslich mehrmals von diesem Fleisch und noch heute erinnere ich mich bei jedem Ripple, das ich zu mir nehme, an dieses Erlebnis.

Natürlich muss ich es nun, da wir in diesem Gebiet an den Gebäuden vorbeifahren, auch meinem Mann erzählen. Gemeinsam lachen wir anschließend, um auch wieder an die „schlechte“ Zeit von damals zu denken, mit Dankbarkeit im Herzen, dass es uns doch eigentlich recht gut geht. Wir haben ein Dach über dem Kopf, können uns satt essen und ab und zu auch kleine Wünsche erfüllen.

Heidi Gotti

zurück zur Geschichten-Übersicht          zurück zur Hauptseite