Schau nur, wie die Zeit
verrinnt, |
Reise in die Vergangenheit ...Hier sitz ich nun, bereits im Mantel. Draußen hör ich die Stimmen meiner Lieben. Vor mir liegt noch das aufgeschlagene Fotoalbum, in dem wir geblättert hatten. Blaue Augen strahlen mich dort an, aus einem gebräunten Gesicht, umrahmt von blonden Locken. Meine Tochter Susi! Vierzig Jahre ist es her, als man sie mir in die Arme legte, ein Sonntagskind. Doch nun brauch’ ich keine Fotos mehr ...
Meine Erinnerung zeigt mir die Bilder. Ich sehe das kleine pflegeleichte Kind zu einem selbstbewussten Persönchen heranwachsen, das keinen Moment ausließ, um klarzumachen: Ich will. Mit der Natur durfte sie aufwachsen, inmitten von Wiesen, Wäldern und Tieren. Kaum konnte sie die ersten Worte sprechen, sog sie wissbegierig alles auf, was es zu entdecken gab. Wie oft war sie verschwunden, wenn ich bei der Hausarbeit vergessen hatte, die Wohnungstür abzuschließen. Voller Schreck stürzte ich aus dem Haus und suchte das kleine Mädchen auf der Straße, um sie im Garten zu finden. Ganz versunken kniete sie im Gras und beobachtete eine Schnecke mit Haus, hatte somit mein Rufen nicht gehört. Kann man da böse sein? Natürlich sprachen wir über dieses Tierchen, das sein Häuschen immer bei sich hat. Anschließend versuchte ich meiner Tochter zu erklären, dass sie nicht alleine auf Entdeckung gehen dürfe. Wusste doch aber genau, dass sie es vor lauter Wissensdrang wieder vergessen würde.
Als ihr Bruder Rolf geboren wurde, war sie erst gute drei Jahre alt. Auch er ein blondgelocktes Engelchen mit blauen Augen. Es begann eine unruhige Zeit, denn er weinte nachts mehrmals. Das Schwesterchen war oft sehr besorgt, anfangs. Später fingen die üblichen Zankereien an. Wieder folgten schöne Jahre mit lustigen und traurigen Erlebnissen. Rolf war viel sensibler als seine Schwester und als er eines Tages ein totes Vögelchen fand, weinte er entsetzlich. Mittlerweile waren wir umgezogen und er durfte noch viel mehr Natur erleben, als die Schwester – damals. Mit dem Puppenwagen machten sich die beiden auf und als sie zurückkamen, waren sie sehr aufgeregt. In einer Decke präsentierten sie mir einen Igel. ‚Mutti, was frisst ein Igel? Warum rollt er sich ein? Weshalb hat er Stacheln?’ Es folgten Fragen über Fragen, die beantwortet werden mussten. Das Badezimmer war das neue Zuhause des Igels geworden. Ein Schälchen Milch und eigens dafür besorgtes Hackfleisch wurden ihm vorgesetzt. Als er sich dann aufrollte und mit schmatzenden Geräuschen über diese Mahlzeit herfiel, kannte die Freude der Kinder keine Grenzen. Als der Papa nach Hause kam, wurde er sofort überfallen und musste nach dem Tier sehen. Nun lag es aber wieder an mir, den Geschwistern klarzumachen, dass ein Igel nicht in einer Wohnung leben will. Er müsste sterben. So war am nächsten Tag ein Ausflug geplant und das Tier wurde dort ausgesetzt, wo es die Kinder gefunden hatten.
An viele solcher Erlebnisse darf ich mich erinnern.
Mittlerweile kündigte sich ein weiteres Geschwisterchen an. Susi war schon sehr aufgeregt, als ich ins Krankenhaus musste. Dieses Mal blickten mich dunkle Augen an und ein pechschwarzer Haarschopf glich dem meinen. Kaum zu Hause, war dieser Bub, den wir Stefan nannten, der auserkorene Liebling seiner Schwester. Im Stubenwagen karrte sie ihn liebevoll durch die Wohnung. Am nächsten Morgen wachten wir alle, nach einer ruhigen störungsfreien Nacht, angsterfüllt auf. Aber der kleine Bub blickte uns zufrieden an.
Es folgten turbulente Jahre, in denen so mancher Geschwisterstreit entbrannte. Stefan war ein Energiebündel und ein kleiner Angeber. Um Freundinnen zu imponieren, konnte er sich schon mal auf die Straße legen und das Wasser aus einer Pfütze schlürfen. Im Garten wurde er von den Geschwistern mit selbsthergestellter ‚Sandspeise’ gefüttert. Es musste schmecken, denn er verspulte es anstandslos. Wieder war die Natur, Flora und Fauna, der Mittelpunkt schöner Erlebnisse.
Ich sehe uns über Wiesen laufen, die übersät sind mit bunten Blumen. Höre das Lachen meiner Drei. Hier brummt eine Hummel, dort flattert ein Schmetterling. Wir sehen gemeinsam einem Marienkäfer zu, blicken ihm nach, als er seine Flügel öffnet und davonfliegt. Im Gras liegend schauen wir zum strahlend blauen Himmel empor. Ganz deutlich vernehme ich den Duft der Blumen. Ein wohliges Gefühl bemächtigt sich meiner und ...
„Omi, Omi, wo bleibst du denn?“ werde ich aus meinen Erinnerungen geweckt.
Meine Enkel stehen vor mir und ihre erwartungsvollen Augen sehen mich an.
All diese bezaubernden Begebenheiten, möchte ich noch einmal erleben, nun mit meinen Enkeln gemeinsam und freu mich darauf.
Schnell fassen wir uns an den Händen und verlassen das Haus ...
Heidi Gotti