Amor in Ausbildung
Im Himmel lebte eine unvorstellbare Zahl von Engeln und jeder hatte seine Aufgabe zu erfüllen. Eines dieser Himmelswesen war der kleine Amor mit seinen Millionen oder sogar Trillionen Geschwistern, bekannt durch ihre Werkzeuge Pfeil und Bogen.
Eigentlich befand sich der Kleine noch in der Ausbildung, aber irgendwie geriet er zwischen die geschulten, die auf die Erde geschickt werden sollten, um Aufträge zu erfüllen.Und nun saß der Zwerg zerzaust und nass vom Flug durch den Morgen, zitternd auf dem großen Innenspiegel eines Busses, dessen Fahrer in Münchens Innenstadt unterwegs war.
Es klingelte hier, hupte dort, was Amorchen jedes Mal heftig zusammen zucken ließ. Die Sonne schien und trocknete seine Flügelchen und so langsam begann er sich wohl zu fühlen.
‚Der Busfahrer sieht doch recht nett aus’, dachte unser Engel. ‚Ich werde für ihn die passende Frau finden. Dann werden die im Himmel stolz auf mich sein und mich nicht mehr Winzling nennen!’Gleich vorne im Bus saß eine weißhaarige alte Oma. Dass die nicht in Frage kam, das wusste Amorchen bereits. Außerdem hielt sie die Hand ihres Partners fest und warme Augen versanken vertrauensvoll ineinander. Faltige Gesichter strahlten Liebe aus.
In den Reihen dahinter hockten Hausfrauen mit nervös wippenden Beinen und Blicken, die laufend zur Uhr gingen. Aus den Einkaufstüten schauten Lauch, Sellerie und Co hervor. Sicher wollten sie noch schnell ein leckeres Essen für ihre Lieben daheim zaubern, denn es war kurz vor Mittag.
Hinter dem Fahrer saß ein seltsamer Mensch, der Amor, dem Engelchen, unendlich leid tat. Unrasiert, ungewaschen, traurig, frustriert und zukunftslos schien er. Er war beim letzten Halt, dem Arbeitsamt zugestiegen. Liebe suchte der keine!
Dahinter knutschte ein junges Paar, man hörte das Geschmatze bis nach vorne.
Ein Handwerker im Arbeitsanzug hatte Werkzeug und Holzbrettchen dabei, er war ebenfalls in Eile.
Auf der Rückbank balgten sich die die Schüler des in der Nähe befindlichen Gymnasiums. Nach der Ermahnung des Fahrers herrschte aber wieder Ruhe.Es sah somit für unseren Amor nicht gut aus, seine Aufgabe erfüllen zu können und der kleine Kerl war schon richtig müde geworden. Immer wieder stoppte der Bus, um erneut zu starten. Menschen stiegen ein und aus.
Plötzlich stand eine hübsche Frau im Gang neben dem Fahrer. Ihre schlanke, wohl geformte Figur wurde vom riesigen Innenspiegel aufgesogen. Die reflektierenden grünen Augen einer Meerjungfrau blitzten den Fahrer aus einem schmalen leicht gebräunten Gesicht an. Das rote Haar kitzelte seine Wange, was ihm nicht unangenehm zu sein schien.
Amor war hellwach. ‚Jetzt oder nie!’, dachte er.
„Wo soll’s denn hingehen, schöne Frau?!“, fragte der Fahrer mit dunkler belegter Stimme.
Sinnlich und erotisch erfolgte – wie ein Streicheln über heiße Haut - die Antwort: „Nach Venedig, mein Herr.“
Nun war unser Amor in Ausbildung nicht mehr zu bremsen. Blitzschnell hatte er seinen Pfeil abgeschossen, der den Busfahrer direkt im Herzen traf und anschließend im Sexy-Busen der Frau verschwand.
„Gnädige Frau, Ihr Wunsch ist mir Befehl“, hörte der kleine Kerl noch, dann war bereits Endstation und die letzten Gäste mussten den Bus verlassen.
Die hübsche Frau ging gemeinsam mit dem Fahrer weg.‚Auftrag erfüllt’, triumphierte Amorchen zufrieden, erhob sich und flog Richtung Heimat.
Das junge Paar machte mit seinem Auto unterwegs noch Halt. Sie saßen auf einer Bank, lagen im Gras, kuschelten, schmusten, küssten sich, lachten und genossen die gemeinsame Zeit. Das dürfte auch unser Engelchen bei einem letzten Blick aus den Wolken noch erhascht haben.Mittlerweile war es Abend und die beiden Menschen fuhren bei einem hübschen Haus vor. Kaum ausgestiegen, öffnete sich die Haustür.
Ein etwa fünfjähriges Geschwisterpaar stürzte heraus: „Mami, Papi, wo bleibt ihr so lange?“
Ja, dieses Mal war ihre Auszeit, die sie sich jeden Freitag nach Dienstschluss des Mannes gönnten, seltsamerweise etwas länger ausgefallen. Warum wohl? Sie wussten es nicht.
Auch dieses intensive Gefühl der Zärtlichkeit und Liebe in der Brust, konnten sie sich ebenfalls nicht erklären.
„Omi, Omi, sie sind da!“, riefen die Kinder in die Küche, aus der es verführerisch duftete.Armer kleiner Amor in Ausbildung, er hatte noch viel zu lernen.
Heidi Gotti
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