Silvester 2010
Immer wenn das alte Jahr uns verlässt und ein neues beginnen will, machen sich die Menschen Gedanken, nicht nur über das Kommende. Nein, auch längst Vergangenes wird aus dem Gedächtnis hervor gekramt.
Betrachtet man dabei die allgemeine Weltsituation graust es, denn die zweibeinigen Wesen, die man Mensch nennt, haben nichts aus der Vergangenheit gelernt. Traurig wird man da schon, wenn man das Elend überall mitbekommt.
Hier nun mein Rückblick beim Jahreswechsel ins kommende Jahr:
ICH TRÄUME SCHON ZU LANGE
Auf einer Treppe sitze ich bei einem alten Mann. Er blutet am Kopf und kann nicht mehr aufstehen.
Sirenen heulen, Menschen rennen und wollen mich mitnehmen.
An meinen Opa klammere ich mich fest.
Flugzeuge am Himmel!
Ich will nicht sterben, bin doch erst vier Jahre alt.
Alle Menschen wollen es nicht.
Warum ist dann Krieg?
Bomber dröhnen, wir
ducken uns. Es splittert und kracht, Feuer bricht aus.
„Mutti“, rufe ich, „Mutti, Muttile …!“, und plötzlich steht sie da.
Sie ist Luftwaffenhelferin, wurde dazu verpflichtet.
Das Unglück ahnend, hat sie ihre Dienststelle in Uniform verlassen.
Ein Sanitätsfahrzeug bringt uns ins Krankenhaus.
Mit ihrem Ausweis erreicht Mutti, dass Opa versorgt wird.
Sie durfte es nicht!
Aber sie tat es!
Wir sind wieder daheim,
der Luftangriff ist vorbei.
Ein Poltern an der Tür, die Gestapo steht da mit Bajonett auf.
Mutti soll mitkommen, sie wird geschubst, kann mich eben noch schnappen.
Nach einer schnellen Aburteilung soll sie an die Wand gestellt werden – mit mir,
denn sie hat mich noch im Arm.
Es ist Krieg, der Zweite Weltkrieg, an Grausamkeit nicht mehr zu überbieten.
Als Hitler im März 1939 hier in Brünn einmarschierte, jubelten alle, selbst die Tschechen. Dieser Mann hatte die Protektorate Böhmen und Mähren befreit.
Von was und wem eigentlich?
Lebten nicht alle friedlich miteinander: Tschechen, Juden und Deutsche?
Brot brachte er seinem Volk.
Und als er rief: „Wollt ihr den totalen Krieg!?“, johlte die Menge und schrie mehrmals: „Ja“!
War der Erste Weltkrieg nicht grausam genug? Warum ein weiterer?
Und nun ist Mutti
verurteilt, ihr Leben zu geben - unehrenhaft fürs Vaterland.
Ihr Chef der Luftwaffe ist ranghöher und nimmt sie in Gewahrsam.
Sie muss in den Bau, aber sie rettet ihr Leben und auch ich darf weiter auf der
Welt bleiben.
Wieder Bombenangriff!
Ich stehe mit Mutti mitten im Zimmer, umklammere ihre Beine, das Gesicht in
ihren Schoß gedrückt!
Wir wollten doch nur die Fenster öffnen, damit sie nicht zu Bruch gehen!
Lieber Gott, bitte hilf!
Es kommt ein Mann
in Uniform!
Ich schreie und weine, habe Angst.
„Aber Heidi, es ist doch der Vati“, wird mir gesagt.
Ich kenne ihn nicht!
Er darf auf Urlaub! Für einen Tag, der Hölle dort draußen entrinnen, unrasiert
und schmutzig.
Fremde bewaffnete Männer kommen in der Nacht.
Tschechen!
Wir haben ihnen doch nichts getan!
Sie reißen uns aus den Betten. Nichts dürfen wir mitnehmen, nur was wir auf dem Leib tragen. Großvater krank im Leiterwagen, Großmutter, Mutti und ich.
Viele Menschen sind dabei, alle haben Angst.
Die Soldaten schreien immerzu: „Heim ins Reich mit Euch“!
Hass auf dem
„Todesmarsch“.
Es geht von Brünn nach Wien!
Bombenangriff und wir liegen im freien Feld.
„Muttile, Muttile, ich hab Angst!“
„Bleib ganz ruhig, mein Kind.“
Weich und doch schwer liegt Mutter beschützend über mir.
Am Himmel kreisen sie: Flugzeuge, auf alles zielend, was sich bewegt.
Menschen in Österreich
geben uns Brot.
Dankbarkeit, dass es noch Mitleid gibt!
In Klosterneuburg liegen wir auf Stroh, unter uns versteckte Soldaten.
Die Besatzer kommen, stechen mit ihren Bajonetten, um sie zu entdecken.
Der Himmel sei uns gnädig!
Wien ist in vier Sektoren
aufgeteilt.
Im Russischen sind wir – Mutti und ich - bei einem Adeligen einquartiert.
Er mag Mutter, das blonde, blauäugige Wiener Madl.
Noch jemand will sie haben. Ein russischer Major. Aber sie mag nicht!
Er schnappt mich! In seinem Auto will er mich entführen.
Mutti packt mich und wir rennen … rennen … rennen …
Kommen noch in den letzten Waggon der U-Bahn. Die Wiener ziehen uns rein.
Mutti – bewusstlos, ihre Beine blutig aufgeschürft.
Ich weiche im Spital
nicht von ihrer Seite, esse nicht, trinke nicht.
Wir können nicht mehr „heim“. Übernachten auf dem Zentralfriedhof.
Betreten unbefugt den Amerikanischen Sektor, suchen Großmutter auf.
Sie holt unsere Papiere.
Die Amis werden uns nach Deutschland bringen.
Auf dem Wiener
Hauptbahnhof.
Russen schnappen Großmutter und mich.
„Ab nach Sibirien heißt es!“
Ich brülle im Zug.
Die Amerikaner helfen uns.
Es ist März 1946 und wir sind in Deutschland.
Die Heimat verloren, ohne Hab und Gut und ohne Freunde.
Die kleine Gemeinde wird von den Amerikanern verwaltet und man weist uns bei einer Bauernfamilie ein. Sie sind nicht erfreut, uns beherbergen zu müssen.
Aber es ist endlich Frieden und wir brauchen keine Angst mehr zu haben.
Wirklich Frieden?
Es sind andere Kriege:
Flüchtlinge, Pack, Rucksackdeutsche und … und … und …
Lebensmittelkarten auf die es fast nichts gibt.
Hülsenfrüchte und ich darf helfen. Steinchen und Käfer.
Aschenputtel fällt mir ein: Die guten ins Töpfchen, aber die schlechten müssen
weggeworfen werden.
Hunger, denn es gibt wenig zu essen.
Gartenzuweisung – es ist sehr mühsam und lohnt sich fast nicht.
Ein neues Zuhause –
der zugige Schuppen am Ortsrand wird von Mutti und Vati hergerichtet.
Ja, auch Vati. Er konnte der Hölle Sibirien entrinnen.
Aber er ist anders, spricht nie über diesen unseligen Krieg.
Nur wenn ich nicht essen will, redet er über den Hunger – den richtigen.
Das einstige Deutsche Reich ist zerbombt.
Lauter Trümmer! In den Großstädten nur Häuserfassaden mit Löchern der ehemaligen Fenster, die dunkel drohend und auch mahnend auf die Menschen blicken.
Wir sind besetzt, aber es ist Frieden!
Vier Siegermächte teilen
sich Deutschland auf.
Warum?
Was wollen sie demonstrieren?
Trotzdem müssen wir keine Angst mehr haben.
Es wird aufgeräumt und aufgebaut.
Ich wache nachts auf und schreie … schreie … schreie …
Mutti muss mit mir reden, damit ich es verarbeiten kann, meint der alte Doktor.
Es sind noch nicht alle
Soldaten wieder heimgekommen.
Das Rote Kreuz hat viel Arbeit.
Mein Onkel, der Bruder von Mutti, aus französischer Gefangenheit ist da.
Vatis Bruder – der eine – findet uns durch das Rote Kreuz.
Alle weinen und ich habe Angst, kenne diese Männer nicht.
Der andere Onkel musste oder wollte in Brünn bleiben. Er hat eine tschechische Frau.
Mit weißer Armbinde schuften, ohne Rechte, angespuckt – er ist Deutscher.
Warum? Es waren doch alle einmal seine Freunde. Sie spielten miteinander, gingen gemeinsam zur Schule, feierten Feste und halfen sich gegenseitig.
Verbittert schaut er nachts zu den Sternen und sehnt sich nach der „alten“ Heimat und seinen Geschwistern, in der unbekannten Ferne.
Ost und West stehen sich
gegenüber.
Ist das der Frieden?!
Der Eiserne Vorhang ist dicht und auch die Mauer, die Deutschland trennt.
Jahrzehnte sind vergangen
und ich jetzt als Mutter erneutes Bangen:
Mai 1980 - Tito ist tot.
Im Vielvölkerstaat beginnt ein Kampf der Nationalitäten.
Warum? Alle hatten sich doch vorher vertragen.
Dann bricht Jugoslawien auseinander.
Ethnische Säuberungen.
Menschen werden verfolgt, gequält, getötet, weil sie einem anderen Volksstamm,
einer anderen Religion angehören.
Wie lange wird die Welt noch zusehen?
Ende August/Anfang September 1995 … NATO-Flugzeuge greifen ein mit
Friedenstruppen!
Meine Söhne bei der Bundeswehr. Wieder das Bangen als Mutter!
Und heute? Wird es im Kosovo je Frieden geben?
3. Oktober 1989 -
die Mauer und der Eiserne Vorhang sind gefallen.
Auch Deutschland ist wieder vereint.
Es ist zu spät, alle sind schon tot: Mutti, Vati und ihre Geschwister.
Anschlag auf das WTC in New York am 11. September 2001.
Al-Qaida wird in Afghanistan bekämpft.
Bürgerkrieg – das Land soll vom Taliban-Regime befreit werden.
2001 rückten Amerikaner und Verbündete dort ein.
Sind die Befreier nicht Besatzer geworden?
Kampf und Terror – wieder Krieg!
Warum?
März 2003 erneut
Krieg: im Irak!
Invasion der Streitkräfte der USA und verbündeter Staaten.
Grund: akute Bedrohung seitens des Irak.
Wo sind die gefürchteten Massenvernichtungswaffen?
Warum das alles?
Krieg und jahrelanger Terror.
Gewalt, Verfolgung, Trümmer, Blut, Tote und Tränen.
Selbstmordattentäter.
Angst und Gedanken einer
Großmutter.
Die Enkel sind doch noch so klein.
Auch sie wollen nicht sterben!
Wird es nie Frieden geben auf dieser Welt?
Was können wir Menschen tun?
Ich weiß es nicht!
Fühle mich hilflos, ohnmächtig und sehr traurig.
Am Tag Düsenjäger
am Himmel, die knapp über unser Haus fegen.
Ich habe Angst, mein Herz schlägt schnell und mein Kopf dröhnt.
Wo ist das Loch, um meine Liebsten und mich zu verstecken?
Es sind doch nur Manöver!
In meinem Traum
sehe ich die Friedenstaube mit einem Ölzweig im Schnabel schwer verletzt am
Boden liegen.
Ich hebe sie auf, pflege sie gesund und lasse sie wieder fliegen.
Sie flattert über den Kriegsgebieten und die Menschen blicken zu ihr auf.
Die Soldaten beenden ihre Kämpfe.
Die Politiker besinnen sich, halten ein und beschließen weltweit den Frieden.
Kinderlachen statt -weinen.
Brot und nie wieder Hunger.
Bäume an Stelle der Kanonen.
Verbrannte Erde, die wieder Früchte und Blumen trägt.
Schmetterlinge in allen Farben und zwitschernde Vögel.
Menschen aller Hautfarben, die sich umarmen.
Kein Hass.
Keine Gewalt.
Nur Freundschaft und Liebe.
Es ist Frieden, das Wort
„KRIEG“ ist für immer vergessen.
Ich will nicht ewig träumen - ich träume schon zu lange!
Heidi Gotti