Weiße Rosen

Es ist Juni und das Rosenbeet übertrifft sich im Farbenreichtum dieser herrlichen Gewächse. Die gelben Blüten duften zart nach Zitrone, die rosafarbenen verströmen ein süßes, die weißen ein herbes Aroma. Nur bei den edelsten kann man nichts feststellen. Die alte Frau, der dieser Garten gehört, ist schon wieder bei der Arbeit. Unentwegt schneidet sie das Verblühte aus, düngt die Pflanzen und gießt fleißig. Die Rosen danken es ihr.

Jede dieser Sorten hat eine eigene Geschichte. Dort der gelbe Rosenstock, den nahm sie als junges Mädchen von zu Hause mit, als sie heiratete, sie sieht sich im Brautkleid, mit einem solchen Strauß.
Kurz nach der Hochzeit brachte der Mann seiner jungen Frau eine Rosenpflanze mit, die dunkelrot blühen sollte. Als dann drei Jahre später das erste Kind geboren wurde, schmückten diese Blüten das freudige Ereignis.
Ein rosaroter Rosenstock wurde am zehnten Hochzeitstag gekauft und eingepflanzt. Der Duft betört und die Frau verharrt in der Erinnerung.
An ihrem vierzigsten Geburtstag schenkten ihr die Kinder eine zweifarbige Rose. Jahre vergingen, bis sie zum Blühen kam. Im Herbst eingepflanzt, dauerte es im Frühjahr sehr lange, bis die ersten Triebe wuchsen. Erst im dritten Jahr zeigte sich eine Blüte, die aber umso schöner, ja größer war. Das Farbenspiel veränderte sich, je weiter sie aufblühte. Gelb, Orange, Rosa und Rot bis Lila. Diese Farbtöne vermischten sich immer mehr. Der Duft schwankte zwischen Zitrone und einer schweren Süße.
Was nun noch fehlte, war ein weißer Rosenstock, der nach der Rente der Eheleute angeschafft wurde. Nun war das Beet vollständig. Die zuletzt gekaufte Rose blühte jedes Jahr schöner. Nur konnte sich der Mann nicht lange daran erfreuen, er wurde krank und verstarb kurz darauf. Zu seiner Beerdigung schnitt seine Frau alle weißen Blüten ab und legte sie ihm auf den Sarg.

Und nun steht sie hier und pflückt wieder diese stolzen, optisch ‚kalten’ Rosen, um sie auf das Grab ihres Liebsten zu stellen.
Viele Tränen sind schon auf diese Rosen gefallen im Andenken an diesen lieben Menschen, dem sie bis an sein Lebensende treu geblieben ist und es darüber hinaus sein wird.

Heidi Gotti

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