Schön wie ein Tausendschönchen


Es war Winter und Wiesen, Felder und der Wald tief verschneit. Das Wild litt bittere Not. In der Erde unter dem Schnee schlief ein kleines Blümchen, tiefgeduckt das Blütenköpfchen, zwischen den Blättern der Mutterpflanze. Diese umhüllte die kleine Blüte und deckte sie zu, wie in einem Bettchen. Eben aufgewacht träumte die kleine Blume von der Sonne, aber es war alles dunkel und kalt.
"Ich habe Angst", wisperte es und war schluchzend schon wieder eingeschlafen.

Draußen tobte ein Schneesturm und das Wild rettete sich in den Wald. Der Förster war unterwegs, mit einem vollgepackten Schlitten. Auf einer den Tieren wohlbekannten Waldlichtung machte er Station. Duftendes Heu, leckere Karotten- und Rübenstückchen streute er aus. Die Rehe hoben schnuppernd die Nasen und ihre Lauscher signalisierten ihnen, unser Freund ist wieder da und bittet zu Tisch. Langsam näherten sie sich dem Platz und kaum hatte der Förster sich umgedreht, waren die ersten Tiere schon am Futtern. Rehe, Hirsche und Wildschweine machten sich schmatzend über die Leckereien her. Als der größte Hunger gestillt war und sie sich zurückgezogen hatten, trauten sich auch die Hasen aus der Deckung des Waldes. Der Förster, der noch in der Nähe stand, schmunzelte. Putzig sah es aus, wenn sie hochaufgerichtet auf den Hinterläufen an den mit den Vorderläufen festgehaltenen Karottenstückchen knabberten, die Löffel hoch erhoben, um nicht überrascht zu werden. In ein paar Monaten würde Ostern sein und was wäre, wenn diese Symbolfigur verhungern müsste? Außerdem gehörten auch sie zu Gottes Kreaturen.

Viele Wochen zogen ins Land, aber so allmählich wurde es milder und der Schnee begann zu schmelzen. Flora und Fauna sog begierig das leichte Frühlingsahnen in sich auf. Selbst unter den Schneeresten begann ein Rüsten, um ja rechtzeitig dabei zu sein, wenn der Frühling Einzug halten würde.

Auch unsere Blume, das Gänseblümchen, war wieder erwacht und streckte sich ein wenig. Vorwitzig lugte es zwischen den schützenden Blättern der Mutterpflanze hindurch. Aber immer noch konnte es außer Schnee, der dort auf der Wiese noch lag, nichts erkennen. Aber er lag nicht mehr so hoch und dazwischen konnte man schon das erste Grün erkennen.

Ein paar Tage später wurde das Gänseblümchen plötzlich geweckt. Etwas war anders als sonst. Vorsichtig schob es sein Köpfchen zwischen den schützenden Blättern hindurch und... die Sonne strahlte von einem wolkenlos blauen Himmel. Ganz langsam schob sich das Blümchen aus seinem Bettlein. Vorsichtig öffnete es sein Blütenköpfchen. Das erste, was es erblickte, war ein blaues Etwas. Ein betörender Duft lag in der Luft. Beim zweiten Blick erkannte das Gänseblümchen die Ursache. Ein bescheidenes blaues Veilchen blühte in der unmittelbaren Nachbarschaft. Stolz streckte es seine Blüten gen Himmel.
"Bist du schon lange wach?", wollte das Gänseblümchen wissen.
"Nein, habe mich auch erst gestern getraut, nachts ist es noch sehr kalt", erfolgte die prompte Antwort.
Es stimmte, abends fror das kleine Blümlein sehr und versteckte sich schnell wieder unter den schützenden Blättern. Aber es folgten herrliche Tage und immer vorwitziger wurde die kleine Blüte. Immer weiter öffnete sie sich von Tag zu Tag, um abends schnell wieder zu verschwinden. Jeden Morgen gab es mehr zu entdecken, viele Blumenkinder wagten sich hervor und streckten sich der Sonne entgegen. So auch unser Gänseblümchen. Leider war es sehr klein und das Gras wuchs schneller als alle anderen Pflanzen. Deshalb war es auch für unsere Blume ein Muss, zu wachsen. Viele gleichartige Blümchen konnte es entdecken und auch zwei Geschwisterchen, die aber noch klein waren, kündigten sich an.

Eines Tages war unser Gänseblümchen voll aufgeblüht und stand stolz und hocherhobenen Hauptes da. Neugierig blickte es sich um und durfte entdecken, dass es die schönste Blüte in weitem Umkreis war. Alle anderen waren nur weiß, aber unser Gänseblümchen war an den Blütenblättern rosa eingefärbt. Stolz und auch etwas eitel präsentierte es sich jeden Tag. Schnell stand es morgens auf, um seine Schönheit immer rechtzeitig zeigen zu können.
"Ich bin die Schönste", sang es den anderen Blüten vor, was diese neidlos anerkennen mussten. Aber etwas traurig waren sie schon.

An einem herrlichen Frühlingstag, fiel ein großer Schatten auf unser Gänseblümchen. Erschrocken duckte es sich und schlüpfte unter die Blätter der Pflanze. Das war auch gut so, denn es war ein kleiner Kinderschuh, der unbarmherzig auf die Pflanze trat. Das kleine Mädchen sprang begeistert über die Wiese.
"Mutti, schau! Viele Gänseblümchen! Guck doch nur, wie schön sie sind!", rief das Kind.
"Ja, stimmt", entgegnete die Mutter.
"Kannst du mir ein Kränzchen flechten?", fragte das Mädel.
"Die Stängel der Blumen sind noch zu kurz, meine Kleine", meinte die Mutter. "Warte noch ein paar Tage, dann wird es soweit sein".
"Gut, Mutti, ich freu mich schon!"
Weg war das kleine Mädchen.

Ein paar Tage später entging unser Blümchen nur ganz knapp dem sicheren Tod. Eine Ziege war ausgebüchst und verköstigte sich auf der schönen grünen Wiese. Eben hatte sie das Veilchen aufgefressen und... Da kam der Bauer gelaufen, zum Glück. Das war die Rettung für die kleine weiße Blüte. Zitternd wankte sie auf ihrem Stängel.
Nun war die Welt wieder in Ordnung. Eine Woche Sonne und es zeigten sich auch noch andere Blumen. Die Wiese färbte sich in allen Farbtönen.

Wieder erschien das kleine Mädchen mit seiner Mutter.
"Mutti, bekomme ich heute mein Kränzchen?", fragte die Kleine.
"Ja, mein Kind", erwiderte die Mutter. "Pflück dir die Blumen, die du möchtest!"
"Au fein! Danke, Mutti!", jauchzte das Mädchen.
Alle Blüten, die sie entdeckte, wurden gepflückt. Unser Gänseblümchen reckte und streckte sich.
Es rief: "Ich bin die Schönste! Nimm mich mit!"
Die anderen Blüten verbargen sich schnell, ahnten sie ja schon den drohenden Tod. Nicht so unser Blümchen. Eitel, wie es war, wollte es auf sich aufmerksam machen. Und tatsächlich, bemerkte es das Mädel.
"Mutti, schau mal, ist dieses Gänseblümchen nicht besonders schön?"
"Ja, meine Kleine. Es ist nicht nur weiß, sondern an den Blütenblättern auch noch so schön rosa. Das setze ich in die Mitte, weil es so hübsch aussieht!"
Ganz stolz dehnte sich unser Gänseblümchen, um sich in seiner vollen Schönheit zu zeigen.
Nun war die Mutter fertig und drückte ihrem Töchterchen das Kränzchen ins dunkle Haar.
"Hübsch siehst Du aus, wie eine kleine Prinzessin", meinte sie voller Stolz.
Lachend und singend hüpfte die Kleine neben der Mutter her.
Zu Hause meinte die Mutti: "Lege das Kränzchen in einen Teller mit Wasser, damit es nicht zu schnell verwelken kann!"
Aber die Kleine hatte ihre Spielsachen gesehen und das Blütenkränzchen vergessen. In der Nacht flüsterten die kleinen Blütchen: "Durst, wir haben Durst."
Aber es war nichts zu trinken da. Auch unser Gänseblümchen war schon ganz matt. Als der Morgen kam, sahen die Blüten schon total verwelkt aus und als das Mädchen aus der Schule kam, waren die Blumen fast ganz kaputt. Unser Gänseblümchen war sehr traurig und bereute es, sich so in den Vordergrund geschoben zu haben.
"Einmal noch die Sonne sehen", flehte es. Tatsächlich verirrte sich ein einzelner Sonnenstrahl durchs Fenster ins Zimmer des Mädchens. Das Blümchen streckte sich mit letzter Kraft diesem Licht entgegen. Aber schon war die Sonne wieder verschwunden und das Gänseblümchen sank ermattet sterbend nieder.

Aus weiter Ferne vernahm es noch die Stimme der Mutter, die mit ihrem Töchterchen schimpfte. "Du solltest das Kränzchen doch ins Wasser legen. Schau! Nun mussten die Blumen alle sterben, wie schade."
Sie packte das Kränzchen und warf es in den Mülleimer. Das war das Ende unseres Gänseblümchens, das sich so aufs Blühen gefreut hatte. Was wollte es nicht alles erleben! 
Heidi Gotti

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