Das "Springkraut"

Es ist Sommer und in meinem Garten hab ich eine neue Blume entdeckt. Das Kraut mit einem dicken Stängel hat sich stark verzweigt. Die saftiggrünen Blätter heben die kleinen Blüten in ihrem zarten Rosarot noch hervor.
Anfangs wusste ich nicht, was aus dem kleinen Pflänzchen mitten zwischen meinen Erdbeerpflanzen werden soll. Noch nie hatte ich solch einen Keimling entdeckt und war schon riesig gespannt. Schnell wuchs das Grünzeug und hatte bald unzählige Blätter gebildet. Die Erdbeeren waren fast überwuchert. Trotzdem tat mir das ‚Unkraut’ leid, denn hat es nicht auch ein Recht auf Leben? Also blieb es stehen – unter meiner Beobachtung.
Der ‚Stamm’ wurde immer dicker, mutete mich wie grüner Bambus an. Sollte das gar ein Baum werden? Aber die Blätter sahen dazu viel zu fleischig aus.
Die Pflanze verzweigte sich und bald erfreuten mich die Enden der vielen Stängel mit kleinen Knospen, die einen herrlichen Blütenreichtum versprachen.
In Windeseile, es hatte den Eindruck, als könnte etwas versäumt werden, öffnete sich Blüte um Blüte, die fast wie an einer Rispe saßen. Zartes Rosa, das innen dunkler schien, konnte man erblicken. Schmetterlinge, Wespen, Hummeln und Bienen besuchten die Blumen. Es sah nach einem Lippenblütler aus, denn die Insekten mussten sich schon anstrengen und richtig hineinkriechen, um an die begehrten Köstlichkeiten zu gelangen.
Immer prächtiger wurde dieser ‚Strauch’ und beim Ernten der letzten Erdbeeren Ende Juni stand er in voller Blüte. Nein, es hatten sich auch schon die ersten grünen Samenkapseln gebildet. Sie sahen aus wie die unserer ‚Fleißigen Lieschen’ am Haus.
Als ich beim Pflücken meiner Beeren immer wieder den Strauch bewegte, sprangen diese Kapseln mit einem lauten Knall auf und sahen hinterher wie gedrehte oder eingerollte grüne Gebilde aus. Das faszinierte mich auch an meinen Lieschen immer wieder. Anfangs erschraken wir, wenn wir sie berührten und dieses Knallen mit dem Wegschleudern der kleinen Samen erfolgte.
Eigentlich wollte ich mir ein paar dieser Körnchen sichern, aber sie ließen es nicht zu und waren weg, wenn ich sie ernten wollte. Wie schade dachte ich noch!

Als ich im Herbst den Garten für den Winter richtete, musste die Pflanze weg und ich schnitt, angefangen bei den Stängeln, auch den dicken und hohlen ‚Stamm’ Stück für Stück ab. Die Wurzel beließ ich in der Erde, denn die hatte sich zu einem richtigen ‚Monster’ ausgewachsen. Vielleicht schlägt sie wieder aus, hoffte ich insgeheim.
Im nächsten Frühjahr, als die ersten Sonnenstrahlen den Garten und uns Menschen verwöhnten, begab ich mich in unser Grundstück, um auch die Erdbeeren zu düngen. Was ich dort entdeckte, war vergleichbar mit einer Horrorvision. Der Strunk dieses Gewächses war weg, aber … in den Reihen zwischen den Erdbeeren, sowie bei den Pflanzen selbst, war alles grün. Mein schönes Gewächs vom letzten Jahr hatte sich dort in unermesslichem Reichtum geklont. Ein grüner Teppich war entstanden.

Sofort sah ich diesen riesigen Strauch vor mir und wusste, dass aus meinen Erdbeeren nichts werden kann und mein Garten als Wildnis verwachsen wird.
Was konnte ich tun? Unkrautvernichtungsmittel? Dann würden meine Erdbeeren mit kaputt gehen! In stundenlanger Arbeit, zupfte ich vom Rand aus ein Pflänzchen nach dem anderen, um diese anschließend auf dem Komposthaufen zu entsorgen. Ich hätte weinen können.
Klar juckte es mich, wenigstens eines stehen zu lassen, war der Blütenreichtum nicht wunderschön? Auch würden die Insekten sehr enttäuscht sein. Aber ich konnte es mir nicht wieder antun und riss alle konsequent aus.
Die nächste Zeit kämpfte ich gegen Windmühlen, denn immer wieder keimten neue Pflänzchen. Trotzdem habe ich es damals letztendlich geschafft und muss heute noch schmunzeln. Ausgerottet wurde das Springkraut in meinem Garten dadurch nicht. Selbst im Komposthaufen wurzelten die kleinen Pflänzchen erneut an und die Insekten fanden deren Blüten im Sommer.
Die weiteren Jahre versuchte diese Pflanze im Gras Fuß zu fassen, was ich aber durch das wiederholte Mähen unterbinden konnte. Trotzdem wurde sie in einer Ecke des Grundstückes geduldet, schon wegen der Honigbienen.
Die zahlreichen Schmetterlinge, sowie das Brummen der anderen Insekten erfreuten mich jedes Mal erneut, wenn ich durch das Gartentürchen unser Grundstück betrat.
 

Heidi Gotti

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