Geheimnisvolle Chouette

Mit kreischenden Bremsen hielt der feuerrote Sportwagen vor der Villa und der junge Mann ignorierte das komische Gefühl, das ihn plötzlich beschlich.
Eine Stunde später war Alex auf der Liege im Schatten eines Baumes eingeschlafen.
Als er aufwachte, dämmerte es bereits.
Am nahen Waldrand sah er eine Gestalt in einem langen weißen und durchsichtigen Gewand tanzen! Auf und ab schien sie zu schweben und hin und her wiegte sich ihr schlanker Körper. Wie eine FATA MORGANA!
Plötzlich wurde diese Idylle von einem dunklen bedrohlichen Schatten gestört. Man hörte ein Rauschen. Anschließend knackte es im Unterholz, eine Frauenstimme schrie und die Dunkelheit schien selbst den Wald verschlungen zu haben.
Jedes einzelne Härchen auf Alexanders Körper hatte sich senkrecht in die Höhe gestellt und Gänsehaut ließ ihn frösteln.
Frierend wollte er aufstehen, um sich etwas zu essen zu machen, als er auf dem Dach des kleinen Gartenpavillons einen riesigen Vogel sitzen sah, der ihn ununterbrochen anstarrte. Sein Schnabel öffnete und schloss sich unentwegt, als ob er reden wolle. Aber es kamen nur schauerliche Töne zustande, die Alex Trommelfell weh taten. Schaudernd erinnerte er sich an die Märchen seiner Kinderzeit, in denen der gewaltige VOGEL GREIF vorkam, der so stark war, dass er sogar Elefanten davon tragen konnte.
Der Vollmond beschien das silberne Gefieder des Tieres, das unruhig von einem Fang auf den anderen trat.
„Ich scheine schon zu spinnen, weil ich mich vor einer Eule ängstige.“ Kopfschüttelnd schnappte Alexander seine Kleider und verschwand im Haus.
In der Nacht war Sturm aufgekommen, er prallte gegen die geschlossenen Scheiben und rüttelte an den Fensterläden, sodass der junge Mann bereits in der Morgendämmerung – noch vor dem Aufgehen der Sonne – wach wurde.
Wieder entdeckte er am Waldrand das tanzende Wesen, das etwas Elfenhaftes an sich hatte. Es sah alles wie inszeniert aus und Alex dachte an einen Schabernack seiner Freunde.
Deshalb hatten Walter, Irina und Paul vermutlich so kurzfristig abgesagt!
„Es reicht!“, brüllte er in Richtung dieser Vorführung. „Ihr könnt aufhören, ich hab euch durchschaut!“
Nichts … und erneut dieser Schatten und der Riesenvogel.
Am Pool stand auf einmal ein Mädchen.
„Wenn sie nun noch dasselbe Gewand an hat wie diese Person vorhin, dann versohle ich Irina den Hintern“, knurrte er vor sich hin, da er immer noch an einen Scherz seiner Freundin dachte.
Aber sie war es nicht und die Fremde, barfuß in einem weißen seidigen Hosenanzug, lächelte leicht vor sich hin. Langes helles Haar umhüllte ihren Oberkörper und große grüne Augen schauten Alexander entgegen.
Auf die Fragen des jungen Mannes, wer sie wäre, wo sie her käme und warum, schwieg sie, und ihre eiskalte Hand ließ Alex erschrecken.
„Bist du immer so kalt?“, wollte er wissen und Chouette, wie sie sich nannte, nickte nur scheu mit dem Kopf. Leider verschwand die Schönheit noch vor dem ersten Sonnenstrahl.

Am Abend des nächsten Tages verbot sich Alex in Richtung Wald zu schauen, da er das Schauspiel seinerseits für ein Hirngespinst hielt.
Natürlich konnte er nicht widerstehen und erneut sah er dem Geschehen zu.
Kurz darauf waren zuerst die Eule und dann Chouette wieder da.
In der Nacht hämmerten unsichtbare Fäuste gegen die Fenster, Läden und auch Türen der Villa.
Alexander saß leichenblass im Bett und blickte in zwei riesige weit aufgerissene grüne Augen, die ihn lauernd durch die Fensterscheibe anblickten. Zentnerschwer schien ihm der gesamte Mont Everest auf der Brust zu liegen. Der Schweiß brach aus allen Poren und ein Rauschen erfüllte die Luft.
Wie unter einem unsichtbaren Zwang öffnete der junge Mann das Fenster.
Das elfenhafte Mädchen stieg ein und legte sich mit ihrem eisigen Körper neben ihn. Irgendwann erwachte Alexander aus einer bleiernen Starre. Der Blick in den großen Spiegel des Umkleideraums ließ ihn erschrecken. Sein nackter Körper war mit lauter kleinen blutenden Wunden übersät.
„Diese verdammten Schnaken“, brummte er.
Seltsamerweise lag sein Schlafanzug zerrissen unter dem Bett und er konnte sich nicht erinnern, ihn ausgezogen zu haben.
Draußen saß lauernd der Vogel, bedrohlich wie immer und ließ ihn nicht aus den Augen, als ob er sich jeden Moment auf ihn stürzen wolle.
„Das Vieh hat Chouettes Augen“, stellte Alex fröstelnd fest.

Am nächsten Abend nahm er eine Schlaftablette und als er morgens erwachte, war die große Scheibe im Wohnraum eingeschlagen.
„Diese verdammten Mistkerle“, fluchte er, weil er Diebe vermutete.
Wieder war sein Körper von irgendwelchen Insekten misshandelt worden.
Er selbst fühlte sich müde, sehr antriebslos und war richtig froh, als die junge Frau erschien. Plötzlich ging es ihm viel besser und er konnte sogar ein Essen zaubern, von dem Chouette leider nichts aß.
Durch Zufall erwischte er sie in der Küche, als sie in ein Blut triefendes Steak biss.
Seltsam sah er sie an und … schon war sie verschwunden.

Nachts schienen tausend Gestalten durch das kaputte Fenster ein- und auszugehen. Sie unterhielten sich, tuschelten, tanzten, lachten und speisten. Jemand war bei seinem Bett gewesen, denn er hatte deutlich einen kalten Atem gespürt. Irgendetwas Heißes musste seine Brust berührt und dabei verbrannt haben, denn die Haare waren verschmort und stanken.
Eigentlich träume ich sonst nie, grübelte Alexander. Also warum plötzlich diese Albträume?
Im Vorratsraum sah es grausig aus, überall lagen Reste frischen Fleisches herum, dessen blutige Spuren sogar im Wohnbereich zu entdecken waren. Es mussten Marder gewesen sein und er sollte schnellstens dafür sorgen, dass die Scheibe wieder eingesetzt würde.
Sein Puls klopfte, es schien sich ein unsichtbares Netz über seinen Körper zu legen und ihm die Sinne zu rauben. Seine Schläfen hämmerten und der Kopfschmerz verstärkte sich. Seltsame Gestalten warfen ihre Schatten im dämmrigen Gebäude.
Alexander hörte ein leises Summen, als ob eine Frau ein Klagelied singt und ihr dabei die Kehle zugedrückt würde. Fieberattacken überrollten ihn und er befürchtete, verrückt zu werden.
Und … wo kam das viele Ungeziefer her, das die gesamte Villa überfallen hatte? Es kroch und schlängelte sich auf dem Boden, den Möbeln, Betten, ja sogar in Schränken, Schubladen und Truhen. Es flog surrend durch die Luft und drohte in Ohren, Nase und Mund zu kriechen.
Im Keller schien Polterabend zu sein.
Mit einem Stock bewaffnet wollte Alex anfangs nachsehen, traute sich aber doch nicht, da er auch dort im fahlen Licht überlange Gestalten herumgeistern sah.
Das Telefon war tot und das Auto sprang nicht an, er fühlte sich hier gefangen. Zu Fuß war es zu weit, obwohl ihm letztendlich keine andere Wahl bleiben würde.
Der junge Mann machte Feuer im Kamin und räucherte das Haus aus. Zufrieden stellte er fest, dass diese Krabbeltiere scheinbar nicht mehr lebten und begann mit dem Aufräumen.
Im oberen Stock war jemand unterwegs und Alex stellten sich die Haare zu Berge. Das Gebäude vibrierte, dröhnte und hallte bei jedem Schritt, sodass er sich die Ohren zuhielt. Von der Decke rieselte der Putz und mit einem lauten Knall stürzte der schwere Kronleuchter zu Boden, ihn knapp verfehlend.
Alex schnappte sich eine Lampe und stieg, all seinen Mut zusammen nehmend, die Treppen nach oben. In den Gästezimmern fand er ein heilloses Durcheinander vor, in den Betten mussten irgendwelche Wesen genächtigt haben und wieder verdächtigte er seine Freunde. Dass sie aber so gemein wären, konnte er sich nicht wirklich vorstellen.
Alle Räume schloss Alex anschließend ab und steckte die Schlüssel ein, um im Keller nachzusehen. Dort befanden sich drei eigenartige, vermoderte Holzkisten, in der Größe von Särgen.
„Ich muss hier raus!“ Mit diesen Worten rannte Alexander aus dem Haus, riss sich beim nahen See die Kleider vom Leib und stürzte sich in das eiskalte Wasser. Die Wunden brannten höllisch, als er sich anschließend hastig ankleidete und in den Wald hetzte. Jede Bewegung tat ihm weh, sein Atem pfiff und er befürchtete, einen Herzanfall zu bekommen.
Trotzdem konnte er dem Albtraum, der ihn nun auch den Tag über gefangen hielt, nicht entrinnen. Das Rauschen verfolgte ihn und bei jedem Halt, saß auf einem Baum über seinem Kopf der riesige Vogel mit dem silbernen Gefieder. Wieder stierte dieser ihn mit den grünen Augen Chouettes an.
Erschöpft ließ Alex sich zu Boden sinken und fiel sofort in eine bleierne Erstarrung.

Sein TRAUM war mehr als sonderbar, denn er sah die junge Frau, umgeben von drei seltsamen Gesellen auf einer Lichtung des Waldes. Sie zeigte mehrmals auf ihn. Als er zu sich kam, war es dunkel und beim Aufstehen stieß er mit Armen, Kopf und Beinen gegen etwas Hartes. Er schien lebendig begraben zu sein.
Zuerst versuchte er seine Panik zu überwinden, nahm das in seiner Hosentasche befindliche Feuerzeug heraus und zündete es kurz an.
Der modrige Geruch der Holzkiste drohte ihm den Atem zu nehmen und er meinte bewusstlos zu werden. Mit aller Macht kämpfte er dagegen an, stemmte Arme und Beine Richtung Deckel und nach ein paar kräftigen Stößen öffnete der sich ein wenig.
Luft, endlich Luft!
Zuversichtlich wartete Alex einen Moment, um die letzten Kräfte zu mobilisieren und schon flogen beim anschließenden Stoß einige der langen Nägel aus dem morschen Holz seines Gefängnisses, einer vierten Kiste.
Sein Hals schmerzte und im Spiegel des Badezimmers entdeckte er anschließend an diesem zwei tiefe Bisse, aus denen noch in dünnen Rinnsalen Blut floss.
Er musste handeln.
Die drei noch verschlossenen Kisten, schleppte er, eine nach der anderen, in den Garten, um sie zu verbrennen. Hoch loderten die Flammen und mit pfeifenden Geräuschen erhoben sich drei dunstähnliche Gestalten in die Luft.
Die Eule flog Angriffe, um ihn am Tun zu hindern.
Wütend warf Alexander ein brennendes Holzscheit nach dem Monstervogel, dessen Gefieder sofort zischend und prasselnd brannte.
Eigenartigerweise löste sich das Tier auf und schemenhaft erkannte der junge Mann das zauberhafte Wesen mit dem langen hellen Haar und den großen grünen Augen -  CHOUETTE!

Heidi Gotti

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