DAS GEHEIMNIS IM EFEU

Ich bin wieder da, sitze auf dem Zeitungsbriefkasten und zwitschere so laut ich kann. Es klingt wunderschön, sagen die Einwohner des kleinen Ortes.
Ab und zu hüpfe ich suchend hin und her und frage: Wo ist meine Menschenfreundin?
Plötzlich öffnet sich die Tür und die Bewohnerin des Gebäudes erscheint.
Ganz erstaunt bleibt sie stehen.
„Da bist du ja wieder“, redet sie ruhig und leise mit mir.
„Unsere Hausamsel ist wieder da!“, erzählt die Frau anschließend erfreut ihrem Mann.
Jeden Morgen sitze ich nun dort.
Wenn ich meine Gastgeberin sehe, wird aus voller Kehle gesungen und aufgeregt mein kleines Köpfchen bewegt. Wichtig hopse ich dann auf und ab, um mich zwischendurch eifrig zu putzen. Stolz präsentiere ich dabei mein glänzendes schwarzes Gefieder und fliege auch nicht angstvoll weg.
Nur vom Haushaltsvorstand will ich nichts wissen. Wenn ich auch die Menschensprache nicht verstehe, ahne ich nur zu gut was Sache ist. Hatte dieser Mann doch gedroht: „Verschwinde, du machst immer auf unser Auto!“
Seine Partnerin schimpfte wohl sofort mit ihm: „Die Amsel weiß doch nicht, dass sie das nicht darf.“
Trotzdem – gesagt ist gesagt!

Schon letztes Jahr war das so. Kaum saßen die Menschen auf der Bank, bin ich hingeflogen und umkreiste die Gruppe. Das ging eine ganze Weile. Es sah für sie so aus, als ob ich mit meiner Menschenfreundin reden wollte. Ich ließ auch nicht locker, bis die Frau aufstand und mir nachging. Richtig geheimnisvoll gebärdete ich mich. Zum Efeu an der Hauswand führte unser Weg. Dort zeigte ich – ganz stolze Vogelmutti – mein Nest. Vier kleine Amselkinder lagen darin. Wieder hielten wir Zwiesprache – meine Freundin und ich.
Die Frau lobte mich und sagte mir, wie niedlich die Kleinen wären. Als aber der Herr des Hauses erschien, beschützte ich schnell meine Brut und schloss die Stelle, wo das Nest war. Darüber mussten die menschlichen Wesen schmunzeln.

Ja … und nun bin ich wieder da. Habe auch dieses Mal das Zeitungsrohr für meine Liebesbeweise auserkoren. Ich singe auch genau so süß wie im letzten Jahr und mein Nest baute ich erneut im Efeu, um es zeigen zu können. Nur die Kleinen sind noch nicht zu sehen.
Auf meinem Stammplatz sitzend, verhalte ich mich ganz ruhig, will beim Brüten nicht gestört werden. Na ja, ich weiß, dass mir niemand etwas Böses antun will. Ob ich meine Kinder wieder zeigen werde, wenn es soweit ist? Vielleicht …

Heidi Gotti

(Nach einem Erlebnis meiner Mail-Freundin Ingrid)

zurück zur Geschichten-Übersicht                zurück zur Hauptseite