Die erste Kerze

Therese, auch Resi genannt, wohnte mit ihren Eltern in einem großen Bauernhof in den Bergen. Tief verschneit war die Landschaft, denn im Gebirge liegt oft bereits im Oktober viel Schnee.
Heute, an einem Samstag Ende November, war Resi zu Besuch bei den Großeltern, deren kleines Gehöft, noch höher liegt, als das der Eltern.
Obwohl der Weg sehr beschwerlich war für das zehnjährige Mädchen, konnte das Kind keine Minute still sitzen. Und zu erzählen gab es viel!
Weihnachtsplätzchen hatte Therese mitgebracht, die sie unter Anleitung der größeren Schwester, selbst gebacken hatte. Haarklein musste sie die verschiedenen Sorten erklären und wie sie hergestellt wurden.
Stolz erzählte sie Omi und Opi vom Adventskranz, den sie mit Mutti zusammen aus frischem Tannenreisig gewunden hatte. Das rote Band und die ebensolche Kerze durfte sie selbst befestigen. Es war das erste Mal, dass sie helfen durfte.
Das Mädchen freute sich schon auf morgen, den ersten Advent. Sie würden weihnachtliche Lieder singen, beim prasselnden Kaminfeuer, begleitet von Vatis Zither.
Großvaters besorgter Blick mahnte zur Heimkehr und Oma schloss sich seiner Meinung an.
Gut verpackt in ihrem Ski-Anzug, den Großeltern zuwinkend, die vor der Haustür standen, begann Resi den Rückweg.
Am bereits dunklen Himmel funkelten die Sterne und der Vollmond schaute wohlwollend auf die Erde.
Leise singend, hüpfte das Mädchen den schmalen ausgetretenen Weg hinab. Ihre Gedanken waren bereits daheim – beim morgigen Tag.
Je tiefer sie kam, umso diesiger wurde es und bald befand sie sich im dicksten Nebel. Das war im Gebirge oft so, dass sich die Feuchte ins Tal senkte und die Sicht raubte.
Als Kind der Berge wusste Therese, dass es eigentlich nur zwei Möglichkeiten gab. Entweder an Ort und Stelle zu verweilen bis der Weg wieder zu sehen war, oder zurück zu gehen. Bleiben konnte sie nicht, dazu war es viel zu kalt.
Eben wollte sie umdrehen, als sie ein Licht vor sich entdeckte. Sie konnte sich nicht erklären, was es war und woher es kam. Auch bekam sie auf ihr Rufen keine Antwort.
Instinktiv folgte sie diesem Lichtschein.
Nach einiger Zeit hörte sie bereits das vertraute Gebell von Bulli, ihrem Freund. Der Bernhardiner hatte sein kleines Frauchen bereits gewittert und gab Laut.
Seltsamerweise war das Licht urplötzlich verschwunden.
Schnell rannte Resi zu ihrem vierbeinigen Freund, um ihm zu danken.
Danach lief sie zur Haustür, die nie verschlossen war, um verirrten Bergwanderern Zuflucht zu geben. Ebenso brannte jede Nacht neben dem Hauseingang eine Laterne. Schon oft hatte sie verirrten Menschen den Weg gewiesen.
Als das Mädchen die gute Stube betrat, sah es die besorgten Gesichter ihrer Eltern. Sie saßen am Tisch, auf dem die erste Kerze am Adventskranz bereits hell und rein brannte.
Aus Sorge um ihre Tochter hatte die Mutter diese angezündet.
Therese erkannte, dass es das Licht war, das sie heimgeführt hatte.
Andächtig falteten die gläubigen Menschen die Hände, um Gott im Gebet zu danken.

Heidi Gotti

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