Silvester 2008

Ein neues Jahr tritt froh herein,
mit aller Welt in Frieden.
Vergiss, wie viel der Plag und Pein
Das alte Jahr beschieden.
Du lebst, sei dankbar, froh und klug,
und wenn drei bösen Tagen
ein guter folgt, sei stark genug,
sie alle vier zu tragen.

Friedlich Wilhelm Weber (1813-1894)

Das Flüstern der Steine

 

Mitternacht – der letzte Glockenschlag ist verklungen. Dumpf und schwer kündete er ein neues Jahr an.
Überall auf der Welt feiern die Menschen dieses Ereignis, selbst in den Krisengebieten herrscht für eine kleine Weile Frieden. Wie lange wohl?
Es kracht, zischt und knattert, dass sich die Tiere vor Angst verstecken. Der Himmel ist von vielen Raketen erleuchtet und die Menschen prosten sich zu.

Durch die Ruine draußen am Stadtrand geistern seltsame Schatten. Sind es Lichteinfälle? Erwacht dieses ehemalige Haus zu neuem Leben? Will es uns etwas erzählen? Flüsternde Stimmen sind zu vernehmen. Still, still - damit man sie hören kann ... Die alten von Pflanzen überwuchernden Steine scheinen zu leben.

Jahrhunderte sah das Haus kommen und gehen. Anfangs war es nur eine armselige Kate, in den Fels gehauen, mit kleinen Fensteröffnungen nach draußen. Glas, damals eine Kostbarkeit, konnten sich die armen Taglöhner nicht leisten. Im Sommer war es angenehm und im Winter wurden die Löcher mit Stroh oder Heu zugestopft. Alles spielte sich in einem einzigen Raum ab. Man hielt sich darin auf und schlief auf einem Lager aus Stroh. Auf einem großen Stein in der Ecke, wurde Feuer gemacht und uralte Töpfe stellte man hinein oder hängte sie darüber. Der Rauch sammelte sich an der mit der Zeit verrußten Decke, aber es war wenigstens warm. Lebensmittel zum Kochen besaßen diese Menschen sowieso nur begrenzt. Es wurde verwertet, was auf dem Acker oder im Garten wuchs. Ab und zu schlachtete man, aber viele Tiere besaßen diese Menschen nicht. Hunger, Not, Krankheiten und Tod waren die Begleiter der Bewohner. Ihr Seufzen ließ die armselige Kate erzittern. Oft erbebte das kleine Hüttchen, wenn wieder einmal Soldaten an die baufällige Türe klopften und das Wenige, das die Menschen besaßen, mit Gewalt erbeuteten. Das Weinen berührte die kleine Kate, dass sich oft eine winzige Träne in Form eines kleinen Felsbrockens aus der Wand löste.

Im Laufe der Jahrzehnte übernahm eine Bauernfamilie dies Elendsquartier. Zuerst hausten auch sie mit dem wenigen Vieh zusammen in einem einzigen Raum, was im Winter warm gab, bedingt durch das Feuer und die Ausdünstungen der Tiere.
Generation um Generation vermehrte den Besitz. Aus der Kate war ein einfaches Bauernhaus entstanden. Unten im ehemaligen Wohnraum, waren die Ställe untergebracht, die nur im Winter genutzt wurden, es war dann wie eine Bodenheizung, sehr klug ausgedacht. Darüber freute sich das Haus insgeheim und fühlte sich wohl.
Im Sommer waren die Tiere im Freien.
Die Weihnachten waren besonders schön, vor allem als Tiere und Menschen in einem gemeinsamen Raum hausten, denn auch das Vieh erhielt zu diesem Fest eine gesonderte Ration Futter.
Über den Stallungen schlief nun die Familie. Immer noch kochte man auf einem großen blockigen Stein, aber dem Rauch wurde ein Abzug ins Freie geschaffen. Trotzdem war im Nu wieder das gesamte Gebälk rußgeschwärzt.

Ein Krieg folgte dem anderen und es herrschte immer wieder bittere Not, die den armen Menschen zu schaffen machte. Die jungen Männer kehrten nicht mehr heim, das Vieh wurde enteignet, ebenso wie die mühselig erwirtschafteten Lebensmittel. Das Weinen der Menschen ließ dem Haus keine Ruhe. Oft in der Nacht hörte es das Schluchzen der verzweifelten Bewohner. Die Arbeit der Bauern war hart und oft fast nicht zu schaffen. Es war auch zu gefährlich, sich draußen aufzuhalten, wegen der vielen Soldaten, die unterwegs waren.

Trotzdem entstand in Generationen ein stolzes und starkes Bauerngeschlecht, das es mit der Zeit zu einem bescheidenen Vermögen brachte. Der Adel verlangte wohl nach wie vor die Abgaben, aber die schlaue Familie war nicht unterzukriegen.

Das Haus wurde erweitert und umgebaut ... mehrmals. Es war ein stattlicher Bauernhof entstanden, der sich stolz seinen Besuchern entgegenstreckte. Felder, Wiesen und Wald gehörten zum Besitz. Milchkühe trotteten auf den Weiden und Pferde galoppierten über die Wiesen. Schafe fraßen das Gras auf den Hängen, an denen schlecht gemäht werden konnte. Hennen, beschützt von einem wehrtüchtigen Hahn, scharrten im eingezäunten Hühnergarten. Gänse und Enten watschelten zum nahe gelegenen Hausteich. Schweine wälzten sich grunzend im Schlamm und der Hofhund bewachte das gesamte Anwesen und seine Menschen.
Die Arbeit war immer noch sehr mühsam und musste per Hand bewerkstelligt werden. Aber es waren Arbeitskräfte eingestellt worden. Dem Großknecht unterstanden die einfachen Knechte und die Hütejungen. Die Oberaufsicht führte natürlich der Bauer. Der Bäuerin unterstellt waren einige Mägde und Mädchen. Die Frauen waren für die Küche und den Bauerngarten zuständig. Sie halfen beim Heuen und dem Bestellen und Ernten der Felder, wobei die Knechte die schwere Arbeit übernahmen.

Das Haus lauschte jede Nacht, wenn alle schliefen und oft musste es verwundert feststellen, dass wieder geweint wurde. Die Hütekinder und auch manche jungen Mägde, hatten Hunger, denn sie wurden sehr knapp gehalten. Die Großmagd, die schon etwas älter war, musste sich des Bauern erwehren. Wenn das die Bäuerin wüsste!

Das Getreide der Äcker leuchtete in der Reife wie pures Gold. Die Knechte mähten, die Mägde banden Garben und gemeinsam wurde es auf Pferdewagen heimgebracht. Auf einem Platz in der Scheune, der Tenne, wurde es gedroschen, mit Dreschflegeln. Die Knechte schlugen abwechselnd im Takt, solange, bis die Körner sich aus den Ähren lösten. Diese brachte man dann zum Müller, der Mehl davon mahlte.
Obst wurde geerntet, das man zu Saft presste. Vorher sortierten die Mägde die schönsten Früchte zur Einlagerung für den Winter aus.
Wenn alles fertig war, wurden Tiere geschlachtet, um für den Winter Vorräte zu haben und sie in dieser Zeit nicht füttern zu müssen. Beim anschließenden Fest wurde gegessen, getrunken, gesungen, gelacht und getanzt.
Schon beim Dreschen erbebte das Haus freudig, nun aber betrachtete es das als Höhepunkt des Jahres. Denn nicht nur die eigenen Bewohner, sondern auch das ganze Dorf war eingeladen.

Stattlich war das Bauernhaus. Auf dem Dachboden schliefen die Knechte, was im Winter ganz schön kalt war. Aber oft zogen sie dann in die Scheune und den Stall um.
Mägde und Bauersleute schliefen auf demselben Stock. Natürlich waren die Stuben der Mägde nicht so prächtig ausgestattet, wie die Räume der Besitzer, die von Reichtum zeugten. Unten im Haus war eine Werkstatt untergebracht und man hörte das unentwegte Werkeln des Handwerkers.

Wieder einmal war es soweit und es drohte ein schrecklicher Krieg. Die Männer wurden eingezogen und die Frauen versuchten, den Hof zu bewirtschaften. Da oft nur die großen Städte angegriffen wurden, überstand das Bauernhaus die schrecklichen vier Jahre. Aber wieder mussten sie alle Tiere und Lebensmittel abgeben. Die Bäuerin war Witwe geworden.

Über zwei Jahrzehnte waren vergangen, das Haus wieder vergrößert worden und durfte sich das schönste weit und breit nennen. Es waren Kinder zur Welt gekommen, man hatte geweint und gelacht. Feste wechselten sich mit Todesfällen ab und das Haus behütete zufrieden seine Bewohner. Die dritte Generationen beherbergte es nun.
Not herrschte im Land und Arbeitslosigkeit. Die Äcker ernährten die Bauern und die Tiere lieferten das Fleisch, in den Städten sah es schlimmer aus. Aber ... dann kam einer, der den Menschen Arbeit und Brot versprach und es wurde tatsächlich besser. Überglücklich folgten die Menschen diesem Mann, der sie in einen neuen Krieg führte, der an Brutalität keine Grenzen kannte, den Zweiten Weltkrieg. Millionen Tote klagten an und das Haus fühlte das Unheil kommen.
Die jungen Männer waren an der Front, die Frauen wieder für die Versorgung zuständig und die alten Bauersleute hatten Mitleid mit einem Mädchen, das sie aufnahmen. Sie mussten die Kleine verstecken, denn sie war Jüdin. Ihre Eltern waren bereits verschleppt worden und man suchte bereits nach dem Kind. Viele Bombenangriffe verbrachten die Menschen des Bauernhofs im Keller, tief unter der Erde. Dort hörten sie das Brummen der Bomber und vernahmen das Beben der Erde. Auch das Haus schwankte oft und wieder spürte es das Unglück nahen. Fünf schlimme Jahre waren überstanden, von denen das Mädchen bereits drei in ihrem Versteck unter der Falltür im Erdreich zugebracht hatte.
Man hoffte, dass dieser entsetzliche Krieg bald zu Ende gehen würde.
Wieder einmal wurde nach dem verschwundenen Kind gesucht und hohe Strafen angedroht. Alle Bewohner des Hauses wussten vom Vorhandensein des jüdischen Mädchens. Aus Angst verriet man das Versteck. Die Kleine wurde weggebracht, die Bauersleute samt Gesinde sofort erschossen.
Das Haus zitterte, als man es in Brand steckte. Bald darauf war der Krieg aus.

Die Steinreste des Gebäudes stehen heute noch wie ein Mahnmal in der Landschaft.
Oft geht ein Flüstern durch die Ruine, wie auch in dieser Silvesternacht, es ist die Erinnerung an die Jahrhunderte vorher.
Der Wind pfeift durch die Ritzen und trägt das Hoffen in die Welt. Das Hoffen auf einen Neuanfang in Frieden.

Heidi Gotti

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